Читать книгу Jetzt spuck's endlich aus - Josefine Melanie Klingner - Страница 4

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Warum? Weshalb stottere ich? Was sind die Gründe dafür? Warum kam es so plötzlich? Wieso verschwand es nicht genau so schnell wieder? Warum habe ich das nicht unter Kontrolle? Wieso bin ich die einzige aus meiner Familie und in meinem Umfeld die stottert? Warum stottere ich manchmal so schlimm und im nächsten Moment gar nicht? Diese Fragen stellte ich mir als Kind, als Jugendliche oder als Erwachsene immer wieder und konnte sie mir nie beantworten. Als ich anderen Menschen diese Fragen stellte, meiner Mutter oder einem Arzt zum Beispiel, hatten auch sie keine Antworten für mich.

Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich deshalb nachts nicht ruhig schlafen konnte. Ich war nicht verzweifelt auf der Suche nach Antworten und ich war auch nicht getrieben davon, endlich zu wissen, weshalb ich mit dieser Sonderausstattung versehen bin. Aber ich gebe zu, dass mich diese Fragen von Zeit zu Zeit packten und nicht recht loslassen wollten.

Als ich noch zur Schule ging, suchte nicht der Teil in mir nach Antworten, der zum Ziel hatte, vom Kopf her zu verstehen oder das Stottern auch für andere begreifbar zu machen. Als Kind und Jugendliche, suchten mal meine Hilflosigkeit, meine Wut oder meine Traurigkeit und Verletztheit nach Antworten auf diese Fragen. Angetrieben vom emotionalen Schmerz, den ich damals spürte und der Verzweiflung darüber, endlich verstehen zu wollen, weshalb ich anders war. Weshalb ich ausgegrenzt, gehänselt und beleidigt wurde. Weshalb ich als „gestört“, „behindert“ oder „dumm“ betitelt wurde. Darauf versuchte ich damals Antworten zu finden.

Als ich Anfang Dreißig war, ging ein anderer Teil meines Selbst auf die Suche nach Antworten. In meiner eigenen Vergangenheit und in meiner Familiengeschichte kramte ich immer tiefer, um mein Stottern auf andere Weise zu verstehen. Ich machte mich auch zum aktuellen Stand der Wissenschaft schlau und verknüpfte das, was ich herausfand, mit Teilen meiner Lebensgeschichte. So erhielt ich erst eine Ahnung und letztlich eine Vorstellung davon, wie ich zu meiner sprachlichen Sonderausstattung kam. Das Zusammenführen der verschiedenen Puzzleteile, die mit meinem Stottern in Verbindung stehen, war für mich nicht nur aufschlussreich, sondern irgendwie auch heilsam. Ich verstand Vieles, was ich als Kind und Jugendliche nicht verstehen konnte oder wollte und hörte immer mehr auf, das Stottern abzulehnen. Ich fand einen ganz anderen Weg damit umzugehen. Davon werde ich dir in diesem Buch berichten.

Am Anfang dieses Weges stand aber erst einmal ein „Ach was?!“ Denn das war meine erste Reaktion auf das Ergebnis meiner Recherche zum wissenschaftlichen Stand zum Thema Stottern. Die wichtigste Erkenntnis hinsichtlich all meiner Fragen, war, dass es weder die Ursache noch den Auslöser für das Stottern gibt. Vielmehr ist es ein Geflecht aus genetischen, psychologischen und neurologischen Faktoren.

Forscher und Wissenschaftler die sich den genetischen Ursachen des Stotterns widmeten, gehen heute von einer familiären Veranlagung aus, da Betroffene häufig nicht die einzigen in ihren Familien sind, die von dieser Redeflussstörung betroffen sind. Diese Veranlagung kann auch genetisch vorhanden sein, ohne dass das Stottern jemals ausgelöst wird. So kann sie beispielsweise unentdeckt über Generationen weitervererbt werden, ohne dass ein einziges Familienmitglied jemals sprachliche Symptome zeigt oder stottert. Darüber hinaus ist bekannt, dass die genetische Weitergabe nicht gesichert erfolgt. Ob und wie sie also weitervererbt wird, ist vorerst noch ein gut verstecktes Geheimnis der Natur.

Ehrlich gesagt, kamen noch einige Fragezeichen in meinem Kopf hinzu, als ich das in Erfahrung brachte. Es wirkte auf mich wie: Alles kann, nichts muss. Selbst wenn ich die einzige in meiner Familie bin, die stottert – und das ist definitiv der Fall – kann es also dennoch sein, dass beispielsweise meine Mutter diejenige war, von der ich die Veranlagung geerbt hatte. Auch wenn sie selbst nie gestottert hat. Vielleicht war es aber auch mein Vater oder es war in meinem Fall eben doch keine erbliche Veranlagung vorhanden. Auch diese Möglichkeit besteht. Viel wichtiger als die Frage ob Veranlagung oder nicht, war für mich aber, was der eigentliche Auslöser meines Stotterns war und welche Schalter da in mir kippten, damit ich sprach, wie ich sprach.

Auf letzteres erhielt ich Antworten bei der Kasseler Stottertherapie, die sich hinsichtlich der Fragen nach Ursache und Auslöser des Stotterns auch auf neurologische Studien beziehen. So haben Wissenschaftler Hinweise darauf gefunden, dass eine strukturelle Veränderung und eine schwächere Hirnaktivierung des Sprachzentrums der linken Hirnhälfte bei Stotternden vorliegen. Es konnte also sein, dass mein neurologischer Schaltplan mein Stottern begünstigte. Zusammen mit der eventuellen genetischen Veranlagung, waren es für mich diese zwei Gesichtspunkte, die ich für mich in die Kategorie „körperliche Prädisposition“ einordnete. Blieb die spannende Frage nach den psychologischen Faktoren.

Psychologische Faktoren werden vor allem zu den Auslösern des Stotterns gezählt und nicht als Ursache bezeichnet. Traumatische Kindheitsereignisse beispielsweise, wie ein Unfall, die Trennung der Eltern oder der Tod eines nahen Familienmitglieds können solche Faktoren sein. Bei solch seelischem Schmerz reagiert jedes Kind auf seine eigene Weise. Es hängt stark davon ab, wie das Kind gelernt hat mit Schmerz und Stress umzugehen. Hinzu kommen das Alter des Kindes, sein persönliches Umfeld, die Bindungserfahrungen und einige weitere Faktoren.

Einige Kinder werden beispielsweise aggressiv und entladen ihre Gefühle dann nach außen. Sie wissen manchmal einfach nicht wohin mit ihrer Wut, dem Ärger, der Angst und dem Schmerz, und so brechen diese Emotionen unkontrolliert aus ihnen heraus. Andere Kinder ziehen sich wiederum zurück. Sie werden passiv oder kapitulieren vor solch einschneidenden Erlebnissen. Auch das Stottern kann eine Reaktion auf ein traumatisches Ereignis aus der Kindheit sein. Wenn die Emotionen keinen anderen Kanal gefunden haben und somit nicht nur das kleine Leben, sondern auch die Sprache eines Kindes ins Stocken gerät.

Aber auch hier muss ein Sternchen fürs Kleingedruckte angefügt werden. Denn psychisch belastende Situationen müssen nicht dazu führen, dass das Stottern ausgelöst wird. Auch dann nicht, wenn die genetische Veranlagung vorliegt oder neurologische Hinweise vorliegen. Umgekehrt kann so aber auch das Stottern ohne jede Prädisposition ausgelöst werden, also allein durch ein traumatisches Erlebnis.

Je mehr ich über die vielleicht-Ursachen und die eventuell-Auslöser las, um so mehr wollte ich wissen, wie es denn nun bei mir war. Denn so interessant die Thematik auch war, bis zu diesem Punkt war die eigentliche Erkenntnis für mich noch recht weit weg. Vorerst klang das alles nach: Alles kann, nichts muss. Ich kam also nicht umhin, das Thema buchstäblich persönlich zu nehmen, um mein ganz individuelles Netz aus Ursachen und Auslösern zu ergründen. Ich spürte, dass ich mehr Antworten finden würde, wenn ich mich trauen würde, tief genug zu graben. Auch wenn es keine wissenschaftlichen Beweise für mein Stottern sein würden, würde ich es zumindest für mich besser verstehen, wie es bei mir dazu kam.

Ich sprach zuerst mit meiner Mutter. Ich erklärte ihr, dass ich wissen muss, was alles mit meinem Stottern zusammenhängt, dass ich verstehen will, warum ich diejenige bin, die in unserer Familie stottert und was dahintersteckte. Ich beschoss sie regelrecht mit meinen Fragen, auch wenn mir bewusst war, dass auch ihre Antworten mehr Vermutungen als gesicherte Erkenntnisse sein würden. „Wie war das damals, als ich angefangen habe zu stottern?“ „Wie hast du das eigentlich bemerkt?“ „War ich irgendwie anders?“ „Was glaubst du, warum ich stottere?“ „War da irgendetwas? Ist da was passiert?“

Ich schien instinktiv die richtigen Fragen zu stellen und ich bekam Antworten, die in mir etwas bewegten. Sie arbeiteten regelrecht in mir. Es war, als würde sich etwas in mir direkt angesprochen fühlen und mich darauf hinweisen, genau zuzuhören und immer weiter zu fragen, um immer tiefer an das zu kommen, was noch verschüttet in mir war. Auch wenn ich gleichzeitig Unsicherheit und Aufgeregtheit in mir spürte, sprudelte es weiter aus mir heraus. „Erzähl doch mal genauer, wie das damals war.“ „Was hat das mit dir gemacht?“ „Wie ging es dir damit?“ „Wie hast du das damals alles gemacht?“

Mein Oberkörper zitterte, ich hatte kalte Hände und zog meine Schultern nach oben. Nach außen war ich ein einziges verkrampftes Wesen, während in mir die Emotionen tobten und mir einen Schauer nach dem anderen durch den Körper jagten. Als hätte jemand in mir den Alarmknopf gedrückt und damit alles in mir auf Aufmerksamkeit geschaltet.

Jetzt spuck's endlich aus

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