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Warum meditieren?

Anfängern in der Meditation und manchmal auch Meditierenden mit langjähriger Übungserfahrung stellt sich hin und wieder die Frage: »Warum üben wir eigentlich?« Regelmäßiges Meditieren erfordert soviel Anstrengung und Hingabe, daß die Frage nach dem Wert und Sinn der Meditation durchaus ihre Berechtigung hat. Meditation zielt darauf zu öffnen, was in uns verschlossen ist, auszugleichen, was reaktiv ist, und zu erforschen, was verborgen ist. Dies ist die Antwort auf die Frage, warum wir üben. Wir üben, um uns zu öffnen, um einen Gleichgewichtszustand in uns zu schaffen und um uns zu erforschen.

Öffnen, was verschlossen ist

Was ist verschlossen in uns? Unsere Sinne sind verschlossen, unser Körper ist verschlossen. Wir verbringen einen so großen Teil unserer Zeit verloren in Gedanken, Urteilen, Phantasien und Tagträumen, daß wir der unmittelbaren Erfahrung unserer Sinne kaum Aufmerksamkeit schenken – dem, was wir sehen, hören, riechen, schmecken und in unserem Körper empfinden. Da wir häufig zerstreut sind, ist unsere Sinneswahrnehmung getrübt. Werden Gewahrsein und Konzentration durch die Meditation stärker, so verbringen wir nicht mehr so viel Zeit in Gedanken, wodurch wir unsere Sinneseindrücke sensibler und feiner wahrzunehmen vermögen.

Außerdem wird unser Körper durch die Meditation offener. Bei vielen Menschen ist der Energiefluß im Körper blockiert. Wenn wir unser Gewahrsein nach innen richten, erfahren wir auf sehr klare und unmittelbare Weise die aufgestauten Spannungen und die Knoten, jene Stellen im Körper, wo wir festhalten. Dabei erleben wir verschiedene Arten von Schmerzgefühlen. Diese Gefühle des Unbehagens oder des Schmerzes zu unterscheiden und zu lernen, mit ihnen umzugehen, ist eine der ersten wichtigen Aufgaben, die sich im Meditationsprozeß stellen.

Eine Art von Schmerz, die wir auf diese Weise erfahren können, signalisiert drohende Gefahr. Wenn wir eine Hand ins Feuer halten und sie fängt an zu schmerzen, dann vermittelt uns das die klare Botschaft: »Nimm die Hand aus dem Feuer!« Dazu gibt es eine Geschichte, die jedem Meditierenden zu denken geben sollte. In einer kleinen Hütte auf dem Lande saß ein Meditierender und beobachtete das Auf und Ab seines Atems: »Auf und ab, auf und ab«. Plötzlich roch er Rauch. Achtsam registrierte er »riechen, riechen«. Erst als er vermerkte »heiß, heiß«, wurde ihm schlagartig klar, daß es nun wirklich Zeit wurde, etwas zu unternehmen. Es ist wichtig, erkennen zu können, ob etwas ein solches Signal ist oder nicht. Eine bestimmte Art von körperlichem Schmerz ist als Signal zu verstehen, das uns etwas sagen will, und solche Empfindungen sollten wir erkennen können und beherzigen.

Es gibt aber auch noch eine andere Art von Schmerz, die man als Dharma-Schmerz bezeichnen könnte. Damit sind die schmerzhaften Empfindungen gemeint, die sich im Körper aufgestaut haben, jene chronischen Spannungen, Knoten und Verkrampfungen, die wir ständig mit uns herumtragen, meist ohne uns ihrer überhaupt bewußt zu sein, weil wir unentwegt abgelenkt sind. Wenn wir meditieren, Achtsamkeit üben und innerlich ruhiger werden, werden wir uns auch dieser schmerzhaften Gefühle bewußter. Dies ist ein Anzeichen für Fortschritt, denn wir sehen plötzlich etwas, das zwar immer da war, von uns aber bisher nicht wahrgenommen wurde, weil wir nicht sensibel genug waren. In der Meditation versuchen wir, uns diesem Dharma-Schmerz zu öffnen und zu erfahren, was tatsächlich gegenwärtig ist.

Doch wie können wir Schmerzen, die Signale für eine drohende Gefahr sind, von jenem Dharma-Schmerz unterscheiden, der sich sozusagen als natürliche Folge unseres Übens äußert? Hierbei kann folgendes als Anhaltspunkt dienen: Wenn der Schmerz verschwindet, nachdem Sie aufgestanden und ein wenig umhergegangen sind, handelt es sich nicht um ein Gefahrensignal. Vielleicht ist das ungewohnte und zunächst unangenehme Sitzen in einer ungewöhnlichen Position der Grund, oder der Schmerz ist ein Ausdruck lange aufgestauter Spannungen. Verschwindet der Schmerz, nachdem Sie Ihre Körperhaltung verändert haben, so können Sie die Sache auf sich beruhen lassen; bleibt er jedoch bestehen oder wird sogar noch stärker, nachdem Sie ein wenig umhergegangen sind, dann haben Sie sich vielleicht zu sehr angestrengt, Ihre Haltung war irgendwie unnatürlich. Am besten verändern Sie in diesem Fall die Haltung oder bleiben zwar dabei, achten aber bewußt darauf, sich nicht zu verspannen.

Dharma-Schmerzen, jene unangenehmen Empfindungen, die verschwinden, wenn wir stehen oder gehen, die jedoch beim Sitzen sehr intensiv werden können, sind in bezug auf den Lernprozeß, der zur Öffnung führt, am wichtigsten. Dharma-Schmerzen können sich im Rücken, in den Knien sowie auch in anderen Körperregionen sehr heftig äußern. Was fängt unser Geist mit diesem Schmerz an, der sich uns während der Meditation offenbart? In der Anfangsphase der Meditationspraxis versucht er häufig, Widerstand zu leisten. Wir mögen Schmerzen nun einmal nicht. Dieser Widerstand ist ein Wegdrängen der Erfahrung oder ein Sich-Verschließen ihr gegenüber, also das genaue Gegenteil von Sich-Öffnen.

Es gibt verschiedene Formen von Widerstand gegen Schmerzen. Eine davon ist Selbstmitleid. Wir empfinden Schmerz während der Meditation, verweilen eine Zeitlang achtsam bei dieser Empfindung und verfallen dann in Selbstmitleid: »Oh, ich armer Kerl! Alle anderen befinden sich in einem wundervollen Zustand der Glückseligkeit, und nur mein Knie tut weh.« Bevor man sich versieht, hat man sich in einer Spirale von selbstbemitleidenden Gedanken verloren.

Eine andere Form von Widerstand gegen Schmerz ist Angst. Oft sind wir dazu konditioniert, uns vor Schmerz zu fürchten. Wir fürchten uns davor, uns dem Schmerz hinzugeben, ihn zu fühlen, und diese Furcht hindert uns daran, uns zu öffnen und uns zu gestatten, das zu erfahren, was real ist. Wenn wir diese Art von Widerstand haben, sollten wir die Angst identifizieren, sie anschauen und uns dann sanft der Angst öffnen.

Manchmal führt Angst vor Unannehmlichkeiten zu Präventivhandlungen. Wir reagieren dann, noch bevor der Schmerz wirklich unangenehm wird. Wir versuchen zu verhindern, daß der Schmerz überhaupt richtig zum Ausbruch kommt – man könnte das als »Für-alle-Fälle«-Syndrom bezeichnen. Mit dieser Tendenz des menschlichen Geistes befaßt sich die folgende selbsterlebte Geschichte.

Vor einiger Zeit nahm ich an einer Meditationseinkehr in England teil. Zum Frühstück gab es jeden Tag genau das gleiche: Porridge, Toast, Obst und Tee. Am ersten Tag nahm ich etwas Porridge, zwei Scheiben Toast, eine Frucht und eine Tasse Tee. Ich aß alles auf, bis auf die zweite Scheibe Toast, die ich zurücklegte. Am nächsten Morgen gab es das gleiche Frühstück, und wieder nahm ich Porridge, zwei Scheiben Toast, eine Frucht und Tee. Wieder aß ich alles bis auf die zweite Scheibe Toast. Am dritten Morgen gab es wieder das gleiche Frühstück, und ich nahm Porridge, zwei Scheiben Toast, eine Frucht und Tee. Es dauerte ungefähr eine Woche, bis ich die zweite Scheibe Toast endlich von vornherein liegenließ, obwohl mir schon seit Tagen klar war, daß ich sie ohnehin nie essen würde. Mein Geist war von der Angst beherrscht: »Ich nehme besser zwei, falls ich doch mehr Hunger bekommen sollte.«

Das »Für-alle-Fälle«-Syndrom ist sehr verbreitet. »Ich werde mich jetzt bewegen, nur für den Fall, daß meine Haltung zu unbequem wird und ich den Schmerz nicht ertragen kann.« Oder: »Ich werde heute früh schlafen gehen, nur für den Fall, daß ich morgen müde bin.« Diese Art von Angst wirkt als Barriere gegen das, was tatsächlich der Fall ist. Sie entsteht, weil wir Angst haben vor dem, was eintreten könnte, wenn wir bei dem bleiben, was momentan der Fall ist: Wir wollen uns nicht unwohl fühlen und keinen Schmerz empfinden.

Wir haben über Selbstmitleid und über Angst gesprochen. Eine weitere Art von Widerstand, die subtiler wirkt und unsere Bemühungen unterminiert, ist Apathie oder Gleichgültigkeit gegenüber dem, was tatsächlich geschieht. In diesem Zustand wird der Geist sehr nachlässig. Er registriert und identifiziert nur noch mechanisch, ohne Vitalität, und oft hat das, was er registriert, nicht das geringste mit dem zu tun, was tatsächlich vor sich geht. Wir registrieren dann »aus«, wenn der Atem tatsächlich in die Lungen »ein«-strömt, und »ein«, wenn er in Wahrheit »aus«-strömt. Ein apathischer Geist hindert uns, völlig bei der Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks zu sein.

Wenn sich durch die Meditation öffnen soll, was bisher verschlossen war, müssen wir die verschiedenen Formen des Widerstands erkennen lernen und uns klarmachen, daß sie zu irgendeinem Zeitpunkt bei fast jedem auftreten. Wir brauchen uns wegen unseres Widerstands nicht zu verurteilen, sondern sollten Selbstmitleid, Angst oder Apathie einfach nur registrie-ren, diese Zustände sehen und uns daran erinnern, daß es eine andere Reaktionsmöglichkeit gibt, eine, bei der wir uns öffnen und Achtsamkeit üben. Statt Unangenehmes zu verdrängen oder uns davor zu verschließen, können wir uns auch weicher machen, den Geist weicher werden lassen, so daß er rezeptiv, sanfter und entspannter wird und mehr zuläßt. Wir brauchen nicht zu kämpfen, auch nicht gegen Dinge, die schmerzhaft sind. Wenn wir uns gestatten, entspannter und offener zu sein, können wir klarer erkennen, was tatsächlich geschieht.

Wenn wir beispielsweise einen Schmerz im Rücken bemerken und unsere Zeit damit verbringen, diesem Schmerz Widerstand zu leisten oder ihn zu verdrängen, nehmen wir uns jede Möglichkeit, die Natur des Schmerzes zu verstehen, die Wahrheit jener Erfahrung. Wenn wir uns weich machen und uns öffnen, entdecken wir, daß »mein Rücken tut weh« ganz einfach auf bestimmte Empfindungen hinweist. Das kann Verspanntheit sein, Ziehen, Stechen, Taubheit, Brennen oder ein Druckgefühl. Es gibt eine lange Liste solcher Empfindungen.

Wenn unser Geist offen ist, sind wir in der Lage, von der Ebene des »Mein Rücken tut weh«, einer Vorstellung, zur Ebene dessen überzuwechseln, was tatsächlich geschieht: Gewisse Empfindungen tauchen auf und verschwinden wieder. Vielleicht sind sie sehr intensiv und unangenehm, doch wir erfahren, was tatsächlich wahr an ihnen ist. Und wir registrieren nicht nur, was diese Empfindungen sind, sondern auch, wie sie wirken. Wenn wir schmerzhaften Gefühlen Widerstand leisten, haben wir oft die Vorstellung, daß sich in einem bestimmten Teil unseres Körpers eine feste Masse von Schmerz befindet. Wenn wir uns gestatten, die Empfindungen zu fühlen, die da sind, wenn wir in sie eintauchen, entdecken wir, daß Schmerz keine feste Masse ist, sondern eher ein Schwingungsfeld, das beispielsweise durch Brennen oder Druckgefühle charakterisiert ist. In jedem Fall sehen wir ganz klar, daß daran nichts fest ist. Sobald wir dies selbst erfahren, löst sich die Illusion der Festigkeit auf. Beim Üben markiert dies den Beginn eines Prozesses der Auflösung von Energieknoten und Blockaden in unserem Körper. Wir lassen ein freieres Fließen der Energie zu, das sehr heilsam wirkt.

Es ist sehr wichtig, das Arbeiten mit den schmerzhaften Empfindungen, die beim Üben auftreten, zu lernen. Dies ist ein Tor zu tieferen Ebenen des Verstehens, und schon allein die Tatsache, daß wir uns dieser schmerzhaften Gefühle bewußt werden, ist ein Zeichen für das Erstarken unserer Aufmerksamkeit. Wenn wir uns diesem Tor des Verstehens nähern, wollen wir uns sicher nicht mehr davon abwenden. Wir dringen zu tieferen Ebenen vor, indem wir uns weich und sanft machen und uns dessen bewußt werden, was im Augenblick geschieht. Auf diese Weise werden wir dem ersten Aspekt der Übung gerecht: zu öffnen, was verschlossen ist. Und eben diese Offenheit für Erfahrung ist die Grundlage für den zweiten Aspekt des Übens: das auszugleichen, was reaktiv ist.

Ausgleichen, was reaktiv ist

Was ist reaktiv? Unser Geist ist reaktiv: Er mag oder mag nicht, er urteilt und vergleicht, er hält fest und verdammt. Unser Geist gleicht einer Waagskala, und solange wir uns mit diesen Urteilen und Vorlieben identifizieren, mit all dem Mögen und Nicht-Mögen, mit dem Wollen und den Abneigungen, kippt unser Geist ständig aus dem Gleichgewicht und verfängt sich in einem erschöpfenden Wirbel von Reaktivität. Durch die Macht der Achtsamkeit können wir in einen Zustand des Gleichgewichts und der Ruhe gelangen. Achtsamkeit ist jene Qualität der Aufmerksamkeit, die registriert, ohne zu wählen, ohne zu bevorzugen. Es ist ein nicht-selektives Gewahrsein, das wie die Sonne ihr Licht in gleichem Maße auf alle Dinge wirft.

Können wir unser Gewahrsein so umfassend werden lassen, daß wir bereit sind, allen unseren Erfahrungen Aufmerksamkeit zu schenken? Das ist ungefähr so, als würden wir zu einer langen Reise in ein fremdes Land aufbrechen, einer Reise, die uns durch die unterschiedlichsten Landschaften führt – durch Gebirge und Dschungel, durch Wüsten und Regenwälder. Wenn echter Forschergeist uns beseelt, werden wir im Gebirge kaum denken: »Ach wäre ich doch in der Wüste.« Und wenn wir in der Wüste sind, werden wir nicht Tagträumen über den Regenwald nachhängen. Wenn wir von echtem Entdeckerdrang erfüllt sind, sind wir an jedem neuen Ort interessiert, den wir erreichen.

Die Erfahrung der Meditation ist eine ähnliche Art von Reise: eine Reise in unser Inneres, die uns zu jedem Aspekt unserer Erfahrung führt. Dabei gibt es ein ständiges Auf und Ab, Hochs und Tiefs, angenehme und schmerzhafte Zeiten. Unsere Übung schließt alles ein, denn sie besteht darin, daß wir die Totalität unseres Seins erforschen, die Totalität dessen, wer wir sind. Dies erfordert ein ungeheures Maß an Bereitschaft. Sind wir bereit, uns dem ganzen Spektrum dessen, was geschieht, auszusetzen?

Eine Zeile aus einem Song, der schon einige Jahre alt ist, bezieht sich auf diesen Zusammenhang: »Some People say that life is strange, but what I’d like to know is, compared to what?« (Manche Leute sagen, das Leben sei seltsam, doch ich möchte wissen, verglichen womit?) Alles ist Teil des Lebens, und nichts liegt außerhalb unserer Übung. Die Erfahrung verschiedener Empfindungen wie Lust oder Schmerz, die verschiedenen Emotionen wie Glück und Traurigkeit, Depression und freudige Erregung, Interesse und Langeweile – sie alle sind Bestandteil der Reise. Können wir uns all diesen Zuständen öffnen, können wir ihnen allen gegenüber gleichermaßen Achtsamkeit entwikkeln, so daß wir lernen, ihre wahre Natur zu verstehen?

Meditation ist weder Festhalten noch Vermeiden, sondern bedeutet, daß wir uns wieder auf den Augenblick zentrieren und uns dem öffnen, was wir dort vorfinden. Und dieses Gleichgewicht des Geistes, in dessen Gegenwart Bevorzugung, Anhaften, Festhalten und Urteilen nicht existieren, sondern nur das Gegenwärtigsein für alles, was auftaucht, läßt uns einen tiefen Rhythmus wahrnehmen. Jeder Aktivität ist ein bestimmter Rhythmus eigen. Auch die Natur hat viele eigene Rhythmen, so den von Nacht und Tag oder den Wechsel der Jahreszeiten. Auch in der Musik, im Sport, in der Poesie und beim Tanz gibt es Rhythmen. Jeder Aktivität ist ein bestimmter Rhythmus angemessen, und wenn wir ihn finden, stellt sich eine Empfindung der Mühelosigkeit, der Leichtigkeit und der Anmut ein.

Auch unserem Üben wohnt ein Rhythmus inne, der innere Rhythmus des Atems, der Empfindungen, Gedanken, Emotionen, Gefühle, Bilder und Klänge. Wenn wir uns nicht im Zustand der Reaktivität befinden, wenn wir uns öffnen und einfach registrieren, was in jedem Augenblick geschieht, ohne daran festzuhalten, ohne es zu verdrängen und ohne dagegen anzukämpfen, dann finden wir diesen inneren Rhythmus. Sobald wir dies erfahren, fangen wir an, beim Üben eine gewisse Leichtigkeit und Mühelosigkeit zu genießen.

Es erfordert jedoch eine große Anstrengung, diesen Rhythmus zu finden – die Anstrengung der ständigen Aufmerksamkeit, die Anstrengung, die Achtsamkeit in jeden einzelnen Augenblick hineinzutragen. Zu Anfang ist der Geist zerstreut, deshalb müssen wir versuchen, ihn zu zügeln und zu konzentrieren. Doch wenn wir dies tun, Augenblick um Augenblick, wird gelegentlich etwas in unserem Inneren einrasten, so daß wir unser Gleichgewicht finden. Es ist wie beim Erlernen des Fahrradfahrens: Wir steigen auf, treten in die Pedale und kippen ständig auf die eine oder andere Seite, bis wir irgendwann das Gleichgewichtsgefühl entwickelt haben und alles wie von selbst geht. Meditation entwickelt sich auf die gleiche Weise. Es kostet uns Mühe, in jedem Augenblick achtsam zu sein, so daß wir den Rhythmus entdecken können. In jedem Augenblick der Achtsamkeit, auf welches Objekt sie sich auch beziehen mag – ob auf den Atem, auf Empfindungen oder Klänge, Gedanken oder Gefühle –, in jedem Augenblick des ausschließlichen Registrierens dessen, was da ist, gibt es im Geist keine Reaktivität. Es gibt kein Festhalten und kein Verurteilen, nur das akzeptierende Gewahrsein des Gegenwärtigen. Jeder Augenblick im Zustand der Achtsamkeit hilft uns dabei, uns in diesem inneren Gleichgewicht und in diesem Rhythmus zu verwurzeln.

Erforschen, was verborgen ist

Der dritte Aspekt der Meditation besteht darin, zu erforschen oder zu enthüllen, was verborgen ist. Verborgen ist die wahre Natur unserer Erfahrung. Die Wahrheit ist verborgen. Am häufigsten verbirgt sich die Wahrheit hinter unserer Identifikation mit Vorstellungen und hinter unserer Tendenz, uns in ihnen zu verlieren. Wir verwechseln unsere Vorstellungen über Dinge häufig mit der Erfahrung selbst. Ein sehr wichtiger Bestandteil der Meditationspraxis besteht darin, von der Ebene der Begriffe und Vorstellungen zur Ebene des direkten Erfahrens überzuwechseln.

Ich möchte nun ein paar Beispiele für diese Verwechslung von Vorstellung und Wirklichkeit aufführen. Wenn jemand eine Hand erhebt und fragt, was wir sehen, sagen wir wahrscheinlich »eine Hand«. In Wirklichkeit sehen wir keineswegs eine Hand. Das Auge sieht Farbe, Form, Licht und Schatten, und dann kommt der Geist ins Spiel und stülpt dieser Konstellation von Wahrnehmungen rasch ein Konzept über. Wir nennen es »Hand« und glauben dann, dies sei es, was wir wirklich sehen.

Wenn eine Glocke geläutet wird, was hören wir dann? Die meisten Menschen hören eine »Glocke«. Und wenn wir draußen ein Geräusch hören, sagen wir wahrscheinlich, ein Auto oder ein Lastwagen fahre vorüber. Doch das ist es nicht, was wir hören. Wir hören bestimmte Geräusche, bestimmte Schwingungen, und der Geist bezeichnet diese dann sofort als »Glocke«, »Auto«, »Lastwagen« oder »Mensch«. Wir verwechseln die Konzepte des denkenden Geistes mit der Realität der direkten Erfahrung.

»Mein Knie schmerzt.« Wenn man eine Stunde lang sitzt, entsteht Schmerz, und dann schmerzt das Knie. Doch »Knie« ist ein geistiges Konzept. Es gibt keine Empfindung, die »Knie« oder »Rücken« oder »Muskel« heißt. Das ist es nicht, was wir fühlen. Wir fühlen Verspanntheit, Druck, Härte, Weichheit, Kitzeln. Diese Empfindungen erfahren wir. »Knie«, »Rücken« und »Muskel« sind allesamt Konzepte.

Doch warum ist das so wichtig? Zwischen unseren Vorstellungen und der Realität der Erfahrung müssen wir unterscheiden, wenn wir verstehen wollen, wohin das Üben führt, denn Konzepte verdecken, was wahr ist. Die Vorstellungen, die wir von Dingen haben, bleiben stets gleich. Die Namen, die wir Dingen geben, verändern sich nicht. Mein »Knie« schmerzte gestern, mein »Knie« schmerzt heute, und vermutlich wird es auch bei der nächsten Meditationssitzung wieder schmerzen. Doch verfestigen wir durch unser Konzept nicht nur die Vorstellung des »Knies«, als wäre es etwas mehr oder weniger Dauerhaftes; das Gefühl, daß es sich dabei um etwas Dauerhaftes oder Statisches handelt, macht es uns außerdem wesentlich leichter, uns damit als »Ich« oder »mein« zu identifizieren. Nun ist es nicht mehr nur ein »Knie«, das schmerzt, sondern es ist »mein Knie«.

Wenn wir jedoch zu dem vorstoßen, was tatsächlich geschieht, sehen wir, daß die Erfahrung sich in jedem Augenblick verändert. Dinge bleiben auch nicht zwei Augenblicke lang gleich. Was wir als »mein Knie« wahrnehmen, ist in der Wirklichkeit der direkten Erfahrung eine Menge sich von Augenblick zu Augenblick verändernder Empfindungen ohne jegliche Festigkeit oder Dauerhaftigkeit. Doch solange wir auf der Konzept-Ebene verweilen, können wir die flüchtige Natur der Phänomene weder sehen noch verstehen.

In der Meditation beginnen wir damit zu erforschen, was verborgen ist. Wir bewegen uns von der Ebene der Konzepte und Vorstellungen zur Ebene der direkten Erfahrung, ob es sich um den Bereich der Körperempfindungen handelt oder um Geschautes, Gehörtes, Gerochenes oder Geschmecktes. Wir beginnen, die Natur und den Prozeß der Gedanken und Emotionen zu erfahren, statt uns mit ihren Inhalten zu identifizieren. Wenn wir in jedem Augenblick bei dem sind, was wir erfahren, können wir Dinge entdecken, die vorher verborgen oder unverständlich waren.

Zunächst entdecken wir, daß alles veränderlich ist, daß alles, was wir bisher für fest, unveränderlich oder dauerhaft gehalten haben, sich in einem fließenden Zustand befindet. Nun wird manch einer sagen: »Ich weiß, daß alles unbeständig ist. Das ist keine besonders erschütternde Neuigkeit für mich.« Natürlich wissen wir das intellektuell, doch damit wissen wir es noch lange nicht in unserem tiefsten Inneren, »im Bauch«, wir verstehen es nicht von innen. Meditation ist ein Mittel, das uns hilft, uns der Wahrheit dieser Unbeständigkeit auf immer tieferen Ebenen zu öffnen. Jede Empfindung, jeder Gedanke, jedes Gefühl, jedes Geräusch, jeder Geschmack – alles, innen wie außen, befindet sich in einem Zustand ständiger Auflösung.

Wenn wir das sehen, wenn wir es wirklich wissen, dann löst dieses Verstehen das Festhalten-Wollen des Geistes auf, es löst unsere Anhaftungen auf. Haben Sie jemals an einem Gewässer versucht, eine Luftblase zu ergreifen, in der Hoffnung, sie festhalten zu können? Wahrscheinlich nicht, denn Sie wissen genau, daß es nur eine Luftblase ist, die entsteht und sich schon im nächsten Augenblick wieder auflöst. Mit allem anderen verhält es sich ähnlich. Es ist möglich, dies zu sehen, es auf eine tiefe, umfassende Weise zu erfahren. Wenn wir diese Klarheit der Sicht und des Verständnisses entwickeln, tendiert der Geist immer weniger zum Festhalten, weil wir sehen, daß nichts da ist, woran man sich festhalten könnte. Und wenn wir weniger stark anhaften, wenn wir weniger festhalten, gibt es auch weniger Leiden in unserem Leben.

Indem wir die Unbeständigkeit der Dinge erkennen, begreifen wir auch ihre grundlegende Ungesichertheit. Dinge sind insofern ungesichert oder unbefriedigend, als etwas, das sich ständig verändert, uns kein dauerhaftes Gefühl der Vollendung und Erfüllung zu geben vermag. Wenn wir dies tief in uns selbst erkennen, verlieren die Kräfte der Begierde und des Festhalten-Wollens ihre Macht über unseren Geist. Wir lernen loszulassen, wir lassen den unvermeidlichen Fluß des Wandels zu, statt zu versuchen, an etwas festzuhalten, weil wir denken, daß es uns für alle Zeiten glücklich machen würde.

Wir sehen die Unbeständigkeit, wir sehen die Unsicherheit. Und wir fangen an, das einzigartige Juwel der Erleuchtung des Buddha zu verstehen – die Einsicht in die Selbst-Losigkeit des gesamten Geist/Körper-Prozesses, die Erkenntnis, daß es niemanden »dahinter« gibt, dem all dies widerfährt. Es gibt niemanden, zu dem dieser Veränderungsprozeß gehört, es gibt keinen Eigentümer. Dies ist eine fast unmerkliche und zugleich radikale Transformation unserer gewohnten Art des Verstehens, die sich zu tiefem Wissen entwickelt, wenn wir von der Ebene der Konzepte auf die Ebene direkter Erfahrung übewechseln. Wenn wir auf sehr intuitive und integrierte Weise die essentielle Nicht-Wesenhaftigkeit, Leere und Selbst-Losigkeit der Phänomene verstehen, weicht allmählich jenes grundlegende Anhaften auf, das unser »Ich«-, »Selbst«- oder »mein«-Gefühl begründet, jene Konzepte, um die unser ganzes bisheriges Leben kreiste. Wir erkennen nun, daß dieses »Ich« eine Illusion ist, ein Konzept, das wir geschaffen haben, und integrieren allmählich die Möglichkeit größerer Freiheit in unser Leben.

Nur durch sorgfältige Aufmerksamkeit in jedem Augenblick gegenüber dem, was wahr ist, was tatsächlich da ist, nicht dem, was wir uns vorstellen, können wir in einer zutiefst transformierenden Weise die Unbeständigkeit, die Unsicherheit und die Selbst-Losigkeit erkennen, die alle unsere Erfahrungen bestimmen.

Anstrengung und Ziel

Doch wie sollen wir all dies bewerkstelligen? Wie können wir öffnen, was verschlossen ist, ins Gleichgewicht bringen, was reaktiv ist, erforschen, was verborgen ist? Welche Werkzeuge stehen uns dafür zur Verfügung? Zwei Qualitäten liegen an der Wurzel jedes Entwicklungsprozesses durch Meditation: Vollkommene Anstrengung und Vollkommene Zielsetzung. – Wir müssen uns anstrengen, um unseren Geist auf das Objekt als Ziel zu richten. Anstrengung und Zielgerichtetheit. Alles andere kommt von selbst. Wenn man sich anstrengt, den Geist genau auf das Ziel auszurichten, folgen Achtsamkeit, Ruhe, Gleichmut, Weisheit und Mitgefühl von selbst.

Nehmen wir an, wir sitzen und bemühen uns, den Geist auf den Atem zu richten, entweder auf die Empfindung, die beim Ein- und Ausatmen an der Nase entsteht, oder auf das Heben und Senken des Bauches. Wenn wir genug Mühe und Energie aufwenden und genügend auf unser Ziel ausgerichtet sind, verbinden wir uns mit den Empfindungen des Hebens und Senkens oder des Ein- und Ausatmens; wir werden achtsam gegenüber diesen spezifischen Empfindungen, und auf diese Weise wächst unsere Konzentration, und unser Verständnis gewinnt an Tiefe.

All dies ist am besten mit einem Gefühl der Leichtigkeit und Bereitwilligkeit zu erreichen, aus einem Interesse am Entdecken der Wahrheit. Wenn wir versuchen, aus Pflichtgefühl zu üben, wird der Geist oft rebellisch oder verbissen. Achtsamkeit hat nichts mit Verbissenheit zu tun, obgleich Meditierende vor allem zu Anfang beides manchmal verwechseln.

Ein gutes Beispiel zur Verdeutlichung dessen, was Vollkommene Zielsetzung und Vollkommene Anstrengung beinhalten, ist die japanische Teezeremonie. Dabei wird jede Bewegung mit äußerster Sorgfalt und Präzision ausgeführt. Das Falten des Wischtuchs und das Eingießen des Tees bestehen aus vielen separaten, klar umrissenen Bewegungen, und jede davon wird mit gleicher Sorgfalt und Aufmerksamkeit ausgeführt. Alle Handlungen sind von Feingefühl, Leichtigkeit und Anmut geprägt.

Ob es uns gelingt, den Tag (oder zumindest einen Teil des Tages) gleichsam zu einer japanischen Teezeremonie zu machen, so daß jede Bewegung – das Ergreifen, das Sich-Beugen und das Sich-Drehen – zu einer Zeremonie wird? Wenn wir auf diese Weise üben oder wenn wir sogar üben, so zu üben, dann werden wir die ermutigende und inspirierende Erfahrung machen, daß unser Gewahrsein und unser Verstehen schnell und in ungeheurem Maße wachsen und sich vertiefen.

J. G.

Übung: Konzepte und Wirklichkeit

Einer der wichtigsten Aspekte der Meditationspraxis ist der Wechsel von der Konzeptebene zur Ebene der direkten Erfahrung. Wenn Sie dies umfassender verstehen wollen, so setzen Sie sich eine Weile hin und lassen Sie die eine Hand leicht auf der anderen ruhen. Was erfahren Sie? Vielleicht taucht der Gedanke auf: »Ich erfahre, daß sich meine Hände oder Finger berühren.« Es kann auch ein geistiges Bild von den Händen auftauchen, wie sie im Schoß ruhen, oder ein Gewahrsein verschiedener Empfindungen wie Druck, Wärme und Prickeln. Wenn Sie ziemlich präzise und akkurat die Empfindungen spüren, die in diesem Augenblick des Gewahrseins gegenwärtig sind, was geschieht dann mit dem Gedanken oder dem Bild von der »Hand«? Sie können diese Übung auch mit geschlossenen Augen ausführen. Nehmen Sie sich bitte etwas Zeit, um die verschiedenen Ebenen des Erfahrens zu erforschen und zu unterscheiden.

Wenn Sie gehen, wessen sind Sie sich dann bei jedem Schritt bewußt? Sehen Sie mit Ihrem inneren Auge ein Bild von der Form des Fußes oder des Beines? Können Sie in der Bewegung verschiedene Empfindungen unterscheiden? Was geschieht mit dem Bild, wenn Sie die Empfindungen verspüren? Und was geschieht mit den Empfindungen selbst?

Bemühen Sie sich sowohl beim formellen Üben als auch im alltäglichen Leben, die Konzeptebene von der Ebene der direkten Erfahrung zu unterscheiden.

Einsicht durch Meditation

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