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»War viel los im Büro heute, mein Junge?«, fragte Tante Lin, während sie ihre Serviette auseinanderfaltete und auf ihrem rundlichen Schoß zurechtlegte.

Das war ein Satz, der einen Sinn ergab, aber keine Bedeutung hatte. Er gehörte ebenso zu den Abendessensvorbereitungen wie das Ausbreiten der Serviette oder die tastenden Bewegungen ihres rechten Fußes, mit dem sie nach dem Fußbänkchen angelte, das ihr zum Ausgleich ihrer kurzen Beine diente. Sie erwartete keine Antwort; oder, genauer gesagt, da ihr gar nicht bewusst war, dass sie die Frage gestellt hatte, hörte sie auch nicht zu, wenn er antwortete.

Robert warf ihr über den Tisch einen liebevollen Blick zu, und er war sich dessen stärker bewusst als üblich. Nach den zaghaften Blicken, die er im Franchise in eine fremde Welt geworfen hatte, war die heitere Gegenwart von Tante Lin etwas Wohltuendes, und er betrachtete die rundliche Gestalt mit dem kurzen Hals, dem runden, rosigen Gesicht und dem stahlgrauen Haar, das sich zwischen den langen Haarnadeln selbstständig machte, mit anderen Augen. Linda Bennet lebte in einer Welt der Kochrezepte, der Filmstars, Patenkinder und Wohltätigkeitsbasare, und sie fühlte sich pudelwohl darin. Wohlbefinden und Zufriedenheit umhüllten sie wie ein Mantel. Sie las die Frauenseite der Tageszeitung (»Machen Sie aus alten Glacéhandschuhen eine Knopflochblume«) und – soweit Robert wusste – sonst nichts. Manchmal, wenn sie die Zeitung wegräumte, die Robert hatte liegen lassen, hielt sie inne, las die Schlagzeilen und kommentierte sie. »›Hungerstreik nach 82 Tagen beendet‹ – so ein Blödsinn! ›Öl auf den Bahamas entdeckt‹ – habe ich dir eigentlich gesagt, dass Paraffin einen Penny teurer geworden ist, mein Junge?« Aber man hatte den Eindruck, dass sie nicht recht glauben konnte, dass die Welt, über die die Zeitungen schrieben, tatsächlich existierte. Für Tante Lin war Robert Blair der Mittelpunkt der Welt, und außerhalb eines Radius von 15 Kilometern um ihn war sie zu Ende.

»Wieso bist du heute Abend so spät gekommen, mein Junge?«, fragte sie, als sie mit der Suppe fertig war.

Aus langer Erfahrung wusste Robert, dass es sich hier um eine andere Kategorie von Frage handelte als »War viel los im Büro heute, mein Junge?«.

»Ich musste zum Franchise hinausfahren – zu dem Haus an der Straße nach Larborough. Sie brauchten einen Anwalt.«

»Diese komischen Leute? Ich wusste gar nicht, dass du sie kennst.«

»Ich kannte sie auch nicht. Sie haben mich einfach um Rat gebeten.«

»Ich hoffe nur, dass sie dich auch bezahlen, mein Junge. Sie sind nämlich bettelarm, musst du wissen. Der Vater hat irgendwelche Importgeschäfte betrieben – Erdnüsse oder dergleichen – und sich zu Tode getrunken. Hat ihnen keinen Penny hinterlassen, den Ärmsten. Die alte Mrs Sharpe hat in London eine Pension betrieben, um über die Runden zu kommen, und die Tochter war Mädchen für alles. Sie sollten gerade mit ihren Möbeln vor die Tür gesetzt werden, als der alte Mann vom Franchise starb. Es kam wie gerufen!«

»Tante Lin! Wo hörst du denn solche Geschichten?«

»Aber das ist die Wahrheit, mein Junge. Die reine Wahrheit. Ich weiß nicht mehr, wer es mir erzählt hat – irgendjemand, der in derselben Straße in London gewohnt hat –, es war jedenfalls aus erster Hand. Ich bin niemand, der Klatschgeschichten erzählt, das weißt du ja. Ist es ein schönes Haus? Ich wollte schon immer gern wissen, was sich hinter den Eisentoren verbirgt.«

»Nein, es ist ziemlich hässlich. Aber einige schöne Möbelstücke haben sie.«

»Nicht so gut gepflegt wie unsere, möchte ich wetten«, sagte sie und betrachtete selbstgefällig das erlesene Buffet und die prächtigen Stühle, die entlang der Wand aufgereiht standen. »Gestern noch hat der Pfarrer gesagt, wenn dieses Haus nicht so offensichtlich bewohnt wäre, dann könnte man es für ein Museum halten.« Der Hinweis auf den geistlichen Stand schien sie an etwas zu erinnern. »Übrigens, kannst du bitte die nächsten Tage besonders nachsichtig mit Christina sein? Ich glaube, sie wird wieder einmal errettet

»Oh je, Tante Lin, das wird eine Qual für dich! Aber ich habe es schon kommen sehen. Bei meinem Tee fand ich heute Morgen ein Bibelwort auf der Untertasse: ›Du, Herr, siehest mich‹, eine Schriftrolle mit einem geschmackvollen Hintergrund aus weißen Lilien. Sie wechselt also schon wieder einmal die Kirche?«

»So ist es. Wie es scheint, ist sie dahintergekommen, dass die Methodisten ›übertünchte Gräber‹ sind, deshalb geht sie jetzt zu diesen ›Bethel‹-Leuten über Bensons Bäckerei und kann jeden Moment errettet werden. Den ganzen Vormittag über hat sie Kirchenlieder gesungen.«

»Aber das macht sie doch immer.«

»Aber nicht vom Typus ›Feuer und Schwert‹. Solange sie bei ›Herrscher des Himmels‹ und ›Wo Milch und Honig fließen‹ bleibt, weiß ich, dass alles in Ordnung ist. Aber wenn sie erst einmal mit ›Feuer und Schwert‹ anfängt, dann weiß ich, dass ich mich bald selbst ums Backen kümmern muss.«

»Na, meine Liebe, du bäckst doch genauso gut wie Christina.«

»Oh nein, das tut sie nicht«, rief Christina, die in diesem Augenblick mit dem Hauptgang eintrat – eine üppige, schwerfällige Gestalt mit unordentlichem, zottigem Haar und ausdruckslosen Augen. »Da gibt’s nur eine Sache, die Ihre Tante Lin besser macht als ich, Mr Robert, das ist der Christstollen, und den gibt’s nur einmal im Jahr. Also! Und wenn Sie meine Dienste hier im Haus nicht zu schätzen wissen, dann gehe ich eben dahin, wo man das tut.«

»Christina, meine Liebe«, entgegnete Robert, »Sie wissen doch genau, dass niemand sich dieses Haus ohne Sie auch nur vorstellen kann und dass ich Ihnen ans Ende der Welt folgen würde, wenn Sie uns verließen. Schon allein Ihres Butterkuchens wegen. Da fällt mir ein, könnten wir morgen Butterkuchen haben?«

»Butterkuchen ist nichts für reuelose Sünder. Außerdem glaube ich nicht, dass ich die Butter dafür habe. Aber wir werden sehen. Und so lange, Mr Robert, gehen Sie in sich, und werfen Sie nicht den ersten Stein.«

Tante Lin seufzte gutmütig, als sich die Tür hinter Christina schloss. »20 Jahre«, sagte sie nachdenklich. »Du wirst dich wohl nicht mehr daran erinnern, wie sie aus dem Waisenhaus zu uns kam. 15, und so mager, das arme kleine Ding. Zum Tee hat sie einen ganzen Laib Brot vertilgt, und dann sagte sie, sie werde ihr Leben lang für mich beten. Und weißt du was, ich glaube, das hat sie wirklich getan.«

Es schien, als glänzte eine Träne in Miss Bennets blauen Augen.

»Ich hoffe nur, sie wartet mit der Errettung, bis sie den Butterkuchen fertig hat«, kommentierte Robert materialistisch. »Wie war’s im Kino?«

»Also weißt du, mein Junge, es ging mir einfach nicht aus dem Kopf, dass er fünf Frauen hatte.«

»Wer hat fünf Frauen?«

»Hatte, mein Junge – immer nur eine auf einmal. Gene Darrow. Ich muss sagen, diese kleinen Programme, die man kostenlos bekommt, sind zwar sehr aufschlussreich, aber sie nehmen einem auch ein wenig die Illusionen. Er war nämlich Student. In dem Film, meine ich. Sehr jung und verliebt. Aber ich musste immer an diese fünf Frauen denken, und das hat mir den ganzen Nachmittag verdorben. Dabei ist er so bezaubernd, wenn man ihn sieht. Es heißt, seine dritte Frau habe er an den Handgelenken aus dem Fenster baumeln lassen, aus dem fünften Stock, aber das kann ich nicht glauben. Schon weil er nicht so aussieht, als ob er stark genug dazu wäre. Sieht aus, als ob er es als Kind an der Lunge gehabt hätte – dieses spitze Gesicht und die dünnen Arme. Nicht stark genug, um jemanden an den Handgelenken baumeln zu lassen. Schon gar nicht aus dem fünften Stock …«

Der Monolog plätscherte während des Nachtischs dahin, und Robert kehrte mit seinen Gedanken zum Franchise zurück. Er hörte erst wieder zu, als sie sich vom Tisch erhoben, um im Wohnzimmer den Kaffee einzunehmen.

»Und es steht ihnen so gut – wenn die Mädchen das nur einsehen wollten«, sagte sie gerade.

»Was steht ihnen gut?«

»Die Schürze. Sie war nämlich Dienstmädchen im Palast und trug eine dieser koketten Musselinschürzchen – so apart. Hatten diese Leute im Franchise eigentlich ein Dienstmädchen? Nein? Na, das wundert mich nicht. Das letzte haben sie nämlich beinahe verhungern lassen. Sie haben ihr –«

»Aber Tante Lin!«

»Doch, das kannst du mir glauben. Zum Frühstück bekam sie die Krusten, die sie von ihrem Toast abgeschnitten hatten. Und wenn es Milchreis gab …«

Robert hörte nicht mehr, was sie Empörendes mit dem Milchreis angestellt hatten. Trotz des guten Abendessens fühlte er sich plötzlich unglücklich und erschöpft. Wenn die gute, sanftmütige Tante Lin nichts dabei fand, diese absurden Geschichten weiterzuerzählen, was würden dann erst die echten Klatschtanten von Milford anstellen, wenn ihnen der Stoff für einen wirklichen Skandal in die Hände fiele?

»Apropos Dienstmädchen – der braune Zucker ist alle, mein Junge, du musst für heute mit Kandis vorliebnehmen. Apropos Dienstmädchen – die kleine von den Carleys hat sich in Schwierigkeiten gebracht.«

»Du meinst wohl, jemand anderes hat sie in Schwierigkeiten gebracht.«

»Stimmt, Arthur Wallis, der Kellner vom Weißen Hirsch.«

»Was, schon wieder Wallis!«

»Tja, das ist allmählich nicht mehr lustig, nicht wahr? Ich verstehe gar nicht, warum der Mann nicht heiratet. Es wäre so viel billiger.«

Doch Robert hörte schon wieder nicht zu. In Gedanken war er wieder im Wohnzimmer des Franchise, wo er leise dafür verspottet wurde, dass er mit seinem Juristenverstand eine Verallgemeinerung nicht wahrhaben wollte. Er war wieder in jenem schäbigen Zimmer mit den ungepflegten Möbeln, wo Dinge auf den Stühlen umherlagen und sich niemand die Mühe machte, sie wegzuräumen.

Und wo, dessen wurde er sich erst jetzt bewusst, ihm niemand mit dem Aschenbecher nachlief.

Nur der Mond war Zeuge

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