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Wir wissen nicht,

was jemand bezweckt,

oft vernichtet er sich

mit seinen Absichten selbst

- Carl C. Wilde -

Berlin

Berlin is ne Scheißstadt geworden. Sobald du nur einen Barhocker durch die Gegend schleppst, den du irgendwo billig abgestaubt hast, rempelt dich einer an und sagt: „So eenen ha ick ooch mal!“ Du sitzt mit Freunden und lässt dich über große Gitarristen aus, und dass Rory Gallagher aus der Fender den Strat-Sound am besten rausgeholt hat, schon dreht sich einer um und meint: „Der Gallagher taug nüscht, der hat seinen Bruder aus der Band geschmissen!“ Erstens will das gar keiner hören und zweitens meint der diese Oasis-Spinner, die in Interviews amerikanische Rockmusik für unterentwickelt erklärt haben. Außerdem macht in Berlin jetzt jeder Mode. Jeder, der alt genug ist, allein ne Straße zu überqueren, macht in Mode. In den Neunzigern trugen die gleichen Leute nen Gitarrenkoffer durch die Gegend, inzwischen ist ein Instrument Lernen Old-school und wer Bücher liest ein Zeitverschwender. Wenn man was starten will, sagt immer einer: „Dit is doch zuviel Arbeit“ und „Dit schaffste ja so nich.“

Mir reichte es in Berlin. Es war höchste Zeit, mal wieder zu Carl zu fahren, der sich da in dieser mittelalterlichen Kleinstadt festgesetzt hatte und laufend Bücher über uns und unseren Erfolg schrieb. Wir wollten die Planung seiner Buchverfilmung endlich vorantreiben. Carl hatte da ein paar Schauspielschüler kennengelernt, dazu n auf Theaterintendanz studierendes Mädchen namens Mücke. Außerdem hatte Carl in seinem zweiten Buch, das wir jetzt verfilmen wollten (mit dem Titel „So ein geiler Titel!“), meine Erlebnisse aus der Umweltgartenzeit etwas verändert wiedergegeben, und diese ewige Masche vom Aufstieg der Nichtskönner auf seltsame Weise romantisiert. Da Carl das hier lesen wird, bin ich mal vorsichtig, aber ich habe mich zu den Aufstiegszeiten beschissen gefühlt. Meine Meisterleistung bestand darin, den Ruhm zu missbrauchen und zu denken: Toll, kannste mit zwei Russenfrauen, ner Polin und ner Spanierin gleichzeitig ins Bett gehen und die mit Kunstzeug vollquatschen. Denkste, die haben mehr gequatscht als Schwanz gelutscht und sich auch noch dabei abgewechselt, die Dummzicken. „Ich will schließlich was sehen“, hab ich gejammert und dass man beim Sex andauernd lachen muss, war doch meine Idee, ich war doch hier der künstlernde Witzbold. Aber die Dummzicken haben sich um mich herum kaputtgelacht, als würd ich Erdbeeren mit lebenden Maden verkaufen. Berühmt sein is doch scheiße. Dauernd kräht einer von Weitem: „Du bist scheiße“ und grinst dich an, als hinge dir das linke Ohr auf Halbmast. In Berlin gönnt inzwischen keiner mehr keinem was. Keine Ahnung, mit welch kaltblütiger Blindheit Carl das alles an sich abperlen ließ. Ich jedenfalls konnte in meinem Berlin kaum noch einen Schritt vor die Tür wagen, weil die Deppen mein Brillenkonterfei an irgend so ne T-Shirt-Bude verkauft hatten. Macht echt keinen Spaß neben Che Guevara im Siebdruck zu hängen, macht nicht mal Spaß neben Pink als Vierfarbdruck zu hängen. Hängen macht überhaupt keinen Spaß. Es war ein Donnerstag, an dem ich in Carls Mittelalterkaff ankam, das immerhin eine Fußgängerzone hatte; und was wir bis dahin nicht wussten, es würde gleich nach dem Sonntag sein, keine vier Tage, dass ich auch wieder abfuhr. Da würde es dann zum großen Bruch kommen. Meine Wut und Enttäuschung – und Carl würde genauso mit leeren Händen dastehen wie ich. Aber ich würde, in meinem Stolz verletzt, beschließen, diesmal nicht nachzugeben und das ganze Gönnerhafte, das er mir immer andichtete, mit Füßen treten. Ich bin doch keine Kunstfigur, eine übernatürliche Statue, der man alle großzügigen Eigenschaften der Welt raufpappen kann. Ich sitz genauso auch wie all die anderen Normalos vor Bildchen und onanier mir einen, ich sauf mir auch nur sinnlos Wein in die Tasche und höre Lebenszeit verschwenderisch lange, manchmal tagelang, gar keine Musik. An dem Donnerstag meiner Ankunft hatte ich sogar mal wieder ne Mitfahrgelegenheit ausprobiert, weil die meistens sowieso ihre Mitfahrer ignorieren und ich keine Lust hatte, wieder im Hubschrauber zu kotzen. Diese Privatflüge hatte mir Carl eingeredet, damit irgend so n Sponsor sagen konnte: „Da fliegt der Leo, mit unserm Logo.“ Nee, so bin ich unbeschadet, unbeobachtet und ausgeruht in Carls Kaff angekommen und wir begannen den Großen Abend des Wiedersehens im Biergarten. Carls erste Idee: Gleich anschließend sollte ich mit den Schauspielern in deren Stammkneipe, ohne Carl, nur der Leo. Mir war das recht, ich empfand mich auf Urlaub und durfte endlich, was ich am liebsten mache, und in Berlin schon verlernt hatte: quatschen. Um das zu toppen, setzte Carl mir im Biergarten noch ein blond-echtes, wunderhübsches Mädchen vor die Nase. Wir flirteten das üblich Heftige, und dieses Mädchen begann ihren ersten Satz genau so, wie sie sich auch in den nächsten Tagen immer am Telefon bei mir melden würde: „Hallo, ich bin die Alex!“ Bis heute weiß ich nicht, wie der Name weitergeht. Dafür spannte sie mich für ein paar Aufgaben ein, die sie, die Alex, sich für die nächsten Tage aufgebürdet hatte. In einer Online-Auktion hatte sie sich ein Kleid ausgepickt, das sie noch vor Ablauf der Frist kaufen wollte. Die Auktion lief bis zum kommenden Sonntag, Alexens Gartenparty fand aber schon einen Tag vorher statt: am Samstag, und zwar mit ihren Eltern. Da wollte sie das Kleid vorführen. Bisher hatte Alex die Anbieterin aber noch nicht einmal erreicht. Ich verspürte also wenig Lust, mich zu engagieren. Da wusste ich noch nicht, dass Alex – also Die Alex – das ganze Gekasper um ihre Person auch immer durchsetzte. Irgendwo hinfahren, um ein Kleid zu kaufen, nur um seine Eltern zu schockieren: Dieser ganze Lebensehrgeiz war Carl und mir vollkommen abhanden gekommen. Je mehr man von diesem scheiß Erfolg hat, desto mehr spürt man die Gier in sich aufsteigen, die Gier macht praktisch den Aufstieg mit. Da kann man nur eines machen: Scheiß auf die Gier, interessiert mich nicht mehr. Null Ehrgeiz. Ehrgeiz minus 10. Das führt dazu, dass die eigene Anspruchslosigkeit auf manche wirkt wie Impotenz mit Muskelschwund und bei anderen zum erotischen Tranquilizer mutiert, man wirkt so cool, von allem entsagend. Man läuft, umringt von einer Traube bewundernder Freunde herum, mit nem Dauerständer in der Hose und strahlt es aus, dieses: Wozu das Ganze? Tatsächlich geriet der anschließende Kneipenaufenthalt mit Carls Schauspielerkolonne zu einer verbalen Orgie. Mir gefiel das prächtig. Es kam mir vor, als wollten die schon mal ihre Rollenfähigkeit vorführen. Ich lamentierte: „Wenn Schauspieler schauspielern is Schluss, da kann ich ja gleich deutsches Fernsehen kucken!“ In dieser Volldunkelkneipe trank jeder aus irgend nem Glas, meistens Bier, das gerade rumstand. Zigaretten wanderten halbgeraucht in fremde Münder und wieder zurück, aus Spaß begannen die ersten, sich anzuspucken. Ich kam mir vor, wie auf nem Punkkonzert – Stiff Little Fingers, Kant Kino 1980, Barbed Wire Love, als sie die vordersten Stuhlreihen rausgerissen haben. Irgendwann begannen sich Männlein und Weiblein abzuschlabbern und Grunzlaute auszustoßen, die Alex jauchzte: „Das machen wir immer so, Leo, wunder dich nich.“ Nur der Leo wurde nicht abgeschlabbert, ich bin ja ne Kunstfigur. Um drei Uhr war dann Schluss, irgendwer drehte mich zweimal in Laufrichtung und so wachte ich in der Wohnung von Carl auf, dummerweise als erster. Es hatte sich nichts geändert. Seit diesen 4.45-Uhr-Aufstehzeiten im Umweltgarten stand ich meist schon vor Sonnenaufgang kerzengerade irgendwie im Zimmer rum, während die halbe Welt noch schlief. Und ich war auch noch ausgeruht dabei. Selbst Donald Duck hat mehr geschlafen als ich.

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