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Kapitel 1

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Am Rand der Welt breitet sich feuriger Glanz aus, vertreibt die milde Nacht und setzt den Himmel in Flammen. Dragon heißt dieses Licht willkommen. Lautlos geht er über das weiche Erdreich und verscheucht einen Hirsch, der unbeachtet im Gebüsch verschwindet. An diesem Morgen ist der furchtlose Wikingerkrieger Dragon Hakonson nicht in den Wald geritten, um zu jagen. Stattdessen sucht er die Stille zwischen den Kiefern an der Meeresküste aus einem anderen Grund.

Bevor er einen Schritt unternehmen muss, den er nicht länger hinauszögern kann, will er in Ruhe nachdenken. Deshalb hat er seine Begleiter vorausgeschickt.

Aber seine Einsamkeit wird gestört. Aus dem schützenden Schatten der Bäume beobachten ihn goldbraune Augen. Eine schlanke, geschmeidige Gestalt wagt kaum zu atmen. Langsam, ganz langsam versucht sie davonzukriechen. Ein Zweig knackt, und Dragons Sinne, in einem Leben voller Kämpfe und Gefahren geschult, warnen ihn sofort. Entschlossen stürmt er ins Unterholz, zerrt den Flüchtling hervor, der sich verzweifelt wehrt, und betrachtet ihn forschend.

Wie schnell sich der Fremde bewegte ... Rycca starrte ihn verblüfft an. Eben hatte sie noch im kühlen Moos gekniet, nach ein paar Stunden rastlosem Schlaf, und den Mann beobachtet, der plötzlich aufgetaucht war. Und im nächsten Augenblick wurde sie so fest umklammert, dass sie kaum atmen konnte. Ihre Arme und Rippen schmerzten. Wenn er den Druck nur ein klein wenig verstärkte, würde sie womöglich genauso zerbrechen wie jener verräterische Zweig.

Wer der Mann war, wusste sie nicht, und es interessierte sie auch nicht. Nur eins zählte – sie musste sich von seinem Griff befreien. Als Opfer ihrer ungehobelten Brüder aufgewachsen, war sie in harten Kämpfen erprobt. Und so biss sie in den starken Arm, der sie umschlang. Nach ihren Erfahrungen zwang ein solcher Gegenangriff die meisten Schurken sofort, den Griff zu lockern.

Aber da erwartete sie eine neue Überraschung, und ihre Angst wuchs. Der Mann stöhnte nicht einmal, umfing sie noch fester und schnürte ihr die Atemluft endgültig ab.

So lange sie es vermochte, grub sie ihre Zähne in seinen Arm – bis bunte Lichter vor ihren Augen tanzten, bis ihre Sinne zu schwinden drohten. Erst dann gab sie sich geschlagen, weil sie fürchtete, was ihr während einer Ohnmacht zustoßen könnte. Der Mann ließ sie noch immer nicht los, und sie begann in einen dunklen Abgrund zu sinken. Absurderweise hielt sie sich jetzt am Arm des Angreifers fest, als wäre er ihr einziger Rettungsanker auf dieser Welt. Mit letzter Kraft rangen ihre Lungen nach Luft, die ihr endlich gewährt wurde.

»Dummer Junge!«, schimpfte der Fremde. An ihrem Rücken spürte sie, wie die tiefe Stimme aus seiner Brust drang. Trotz der widrigen Umstände fand sie dieses Gefühl seltsam angenehm. Er packte ihre Schultern und drehte sie zu sich herum. »Was sollte der Unsinn? Ich wollte dich nur anschauen. So wie jeder vernünftige Mann versuche ich stets herauszufinden, wer mir auflauert.«

Rycca spähte durch ihre dichten Wimpern nach oben – und noch weiter hinauf. Da ihre schwachen Beine wankten, konnte sie sich nicht zu ihrer vollen Größe aufrichten. Aber der Mann war unglaublich hoch gewachsen. Das hatte sie schon geahnt, als er am Fluss gekauert war. Jetzt nahm ihr die Erkenntnis seiner ungeheuren Größe und der breiten Schultern fast wieder den Atem. Unter einer ärmellosen Ledertunika zeichneten sich seine Muskeln ab. Sein markantes Gesicht wurde von goldenen Augen beherrscht. Darüber wölbten sich dunkelbraune Brauen, in derselben Farbe wie das lange, im Nacken zusammengebundene Haar. Auch die Haut schimmerte golden. Noch nie hatte Rycca einen attraktiveren Mann gesehen. Er glich einem heidnischen Idol aus dem Schmelzofen eines meisterhaften Schmieds. Doch sie entdeckte auch menschliche Züge. Offenbar hatte er sich lange nicht mehr rasiert. Auf seinen Wangen und am Kinn begannen Barthaare zu spießen. Er roch nach Holzrauch, Meeresluft und Kiefern, eine reizvolle Mischung. O ja, er war ein menschliches Wesen – nur allzu menschlich, zu real und viel zu nah.

Glücklicherweise hielt er sie für einen Jungen. Vor ihrer überstürzten Flucht war sie in die Kleider geschlüpft, die Thurlow bei seinem Aufbruch in die Normandie zurückgelassen hatte. Dem Zwillingsbruder, seit Jahren einen Kopf größer als Rycca, passten sie nicht mehr. Ihr waren sie etwas zu groß, und so verhüllten sie ihre weiblichen Formen. Die Haare hatte sie unter einer Filzkappe versteckt und sogar dunkle Erde in ihr Gesicht geschmiert, um ihre zarte Haut zu verbergen. Aber sie misstraute ihrer Tarnung, die einer gründlichen Prüfung gewiss nicht standhalten würde.

Das Schweigen des Jungen und seine offenkundige Fügsamkeit verblüfften Dragon. In diesem Alter – er schätzte ihn auf dreizehn – war er ein wilder, ungestümer Bursche gewesen, jederzeit bereit, allen Angreifern zu trotzen, selbst wenn sie ihn niederschlagen würden. Kein Wunder, denn er entstammte einer gefährlichen, von grausamen Kämpfen und Gewalt regierten Welt. Wo hatte dieser Junge gelernt, dass man eine Übermacht nicht unnötig herausfordern durfte? Immerhin konnte der kleine Kerl kraftvoll zubeißen. Aber jetzt wirkte er völlig verwirrt und starrte ihn einfach nur an.

»Also, ich frage dich noch einmal«, fuhr Dragon auf Angelsächsisch fort, weil er annahm, der Junge würde diese Sprache verstehen.

Dank seiner Muttersprache Norwegisch konnte sich Dragon mit Dänen und Schweden verständigen. Auf seinen Reisen hatte er sich auch andere Sprachkenntnisse angeeignet. Mittlerweile bereitete es ihm keinerlei Schwierigkeiten, mit Franken, Germanen oder sogar Mauren zu reden. Sprachen zu erlernen fiel ihm leicht – vielleicht, weil er die Melodie der Wörter liebte.

»Warum hast du dich im Gebüsch versteckt und mir nachspioniert?« Nun musterte er den Jungen etwas genauer. Die Kleidung aus fein gesponnener, edler Wolle war ihm zu groß. Darüber wunderte sich Dragon nicht, denn Kinderkleider wurden oft etwas größer angefertigt, damit man hineinwachsen konnte. Jedenfalls war das kein Bauernjunge, eher ein kleiner Lord, in die Pflege eines Herrschaftshauses gegeben. Warum trieb er sich im Wald herum – zu Fuß, ohne Begleitung?

An diesem sonnigen Frühlingsmorgen herrschte Frieden in Essex, ein Glücksfall, noch zu neuen Datums, um als selbstverständlich zu gelten. Nach jahrzehntelangen Kriegen verdankte die Bevölkerung dieses Gebiets die ersehnte Waffenruhe der Weisheit des großen Königs Alfred und dem eisernen Willen Lord Hawks of Essex. Lady Cymbra, Hawks Schwester, war mit Dragons Bruder verheiratet, dem norwegischen Wolf. Durch echte Freundschaft gestärkt, hatten sich diese Familienbande noch gefestigt. Daran wurde Dragon jedes Mal erinnert, wenn er an den Grund seines Aufenthalts in Essex dachte.

Noch durfte man dem Frieden nicht trauen, und sogar ein blutjunger Bursche musste sein Verhalten erklären. »Warum bist du hier?«, fragte Dragon. Ungeduldig schüttelte er den Kleinen, der beharrlich schwieg.

Ryccas Zähne klapperten, und sie verfluchte ihre Dummheit, die sie in diese schreckliche Lage gebracht hatte. Wäre sie in ihrem Versteck geblieben, statt zu fliehen, hätte der Mann sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Zu spät für solche Gedanken, zu spät für alles andere – außer einem weiteren verzweifelten Versuch, sich loszureißen. Sicher war es nicht nur unangenehm, sondern auch vorteilhaft gewesen, mit zwei rücksichtslosen älteren Brüdern aufzuwachsen – und mit ihrem geliebten Zwilling, der ihr beigebracht hatte, sich zu wehren.

»Zögere nicht«, hatte Thurlow seine Schwester ermahnt, ihr feuerrotes Gesicht nicht beachtet und den Unterricht in der Kunst wirksamer Selbstverteidigung gnadenlos fortgesetzt. »Stoß blitzschnell zu, dann lauf davon. Anfangs tut das deinem Gegner höllisch weh. Aber der Schmerz lässt bald nach.«

Rycca fand keine Gelegenheit, diese nur widerstrebend erlernten Fähigkeiten zu nutzen. Denn Thurlow teilte den älteren Brüdern – die ihm das Leben genauso schwer machten wie ihr – unverzüglich mit, sie besitze gewisse Kenntnisse. Deren Anwendung würde ihnen zweifellos missfallen. Klaglos ertrug er die Prügelstrafe, mit der sie sich rächten, und schmiedete Pläne, um in ein besseres Leben zu flüchten.

»Sobald ich mich in der Normandie häuslich niedergelassen habe, hole ich dich zu mir«, versprach er seiner Schwester. »Dort haben wir Verwandte mütterlicherseits, und wie ich höre, gibt es unbegrenzte Möglichkeiten. Allzu lange wird es nicht dauern.«

Doch es dauerte zu lange. Viel schneller, als sie beide erwarten konnten, stürmten die Ereignisse auf Rycca ein, und ihre Hoffnungen drohten zu schwinden. Kaltes Grauen war in ihr aufgestiegen. Hätte sie nicht das Weite gesucht, wäre sie dem unerträglichen Schicksal ausgeliefert gewesen, das der Vater und die älteren Brüder ihr zugedacht hatten.

Sie antwortete noch immer nicht, und der Fremde runzelte ärgerlich die Stirn. Offenbar war er nicht an ungehorsame Mitmenschen gewöhnt. Nun, vielleicht würde ihm diese Begegnung eine Lehre sein. Rycca schloss die Augen, holte tief Luft und stieß ihr Knie mit aller Kraft nach oben, zwischen seine Beine.

Als er sich versteifte, hob sie die Lider und erwiderte seinen Blick, der blankes Entsetzen ausdrückte. Im Gegensatz zu Thurlows Prophezeiung heulte er nicht auf. Stattdessen stöhnte er leise und ließ ihre Schultern los. Langsam sank er auf die Knie und erinnerte sie an eine mächtige Eiche, von einer Axt gefällt.

Jetzt war sie frei. Trotzdem zögerte sie und bekämpfte das plötzliche, fast überwältigende Bedürfnis, ihm zu helfen. Wenn sie diesem verrückten Impuls nachgab, würde sie die Normandie niemals sehen. Zum Glück verdrängte ihr Überlebenswille das Mitgefühl. »Schnell wie der Wind«, hatte Thurlow befohlen. Und so lief sie davon, schnell wie der Wind. Sie hatte schlanke, aber kräftige Beine. Geschmeidig wie ein Fohlen, konnte sie jedes Hindernis überspringen. Sie atmete ruhig und gleichmäßig. Nachdem sie ihre Angst besiegt hatte und der Gefahr entronnen war, wuchs ihre Zuversicht. Sobald sie sicher war, der Fremde würde ihr nicht folgen, verlangsamte sie ihre Schritte nur ein wenig. Aus reiner Freude an der Bewegung rannte sie weiter – durch schattige Täler, Kiefern- und Eichenwäldchen, über sonnige Wiesen und Kiesstrände. Schließlich blieb sie am Rand eines dichten Waldes stehen und betrachtete das funkelnde Meer, von innerem Frieden erfüllt, den sie lange nicht mehr empfunden hatte.

Der Wind bewegte die Wellen, helles Sonnenlicht versilberte das blaugraue Wasser. Über Ryccas Kopf kreisten Möwen, mit fast reglosen Schwingen. Die Augen mit einer Hand beschattet, schaute sie zum fernen Horizont, wo das Meer und der Himmel verschmolzen. Bis zu ihrer Ankunft in Essex vor wenigen Tagen hatte sie keine größeren Gewässer erblickt als Flüsse und Seen. Das Meer faszinierte sie. Einerseits fürchtete sie sich davor, denn sie konnte nicht schwimmen. Und andererseits bot es ihr einen Fluchtweg, der sie beglückte. Irgendwo jenseits des Horizonts lag die Normandie, wo ein neues Leben wartete. Dieses Ziel musste sie erreichen.

Am liebsten hätte sie Flügel ausgebreitet wie die Möwen, um in den Himmel hinaufzuschweben. Das mochte kaum schwieriger sein als ihr Vorhaben. Doch es würde gelingen, denn die einzige andere Möglichkeit, die Rückkehr ins Vaterhaus, wäre unvorstellbar ...

Hastig verdrängte sie diesen Gedanken und überließ sich ihrer Freude an Sonnenschein und Meereswellen. Während der letzten Tage hatte sie nur wenig geschlafen, und ihr Magen knurrte. Sie war allein in einem Land, wo ihr niemand helfen würde, wo grässliche Gefahren lauerten. Wenn sie aufgespürt wurde, drohte ihr eine grausame Strafe. Trotzdem glichen ihre Gefühle den Sonnenstrahlen auf dem Wasser. Ich bin frei, dachte sie.

Wann war sie jemals frei gewesen oder hatte auch nur zu hoffen gewagt, sie würde diesen erstrebenswerten Zustand irgendwann erreichen? Wann hatte sie geglaubt, sie würde ihr wahres Ich eines Tages nicht mehr hinter der Fassade mühsam erzwungener Duldsamkeit verbergen müssen? Nur in Thurlows Gesellschaft hatte sie die Maske fallen lassen – und sogar ihm hatte sie vorgegaukelt, das Elend sei nicht so schlimm. Wahrscheinlich hatte auch er heitere Miene zum bösen Spiel gemacht, um sie nicht noch schmerzlicher zu belasten.

Frei ... Lachend breitete sie die Arme aus. Nun könnte sie nicht länger still stehen, und so drehte sie sich übermütig im Kreis. Wundervolle, himmlische Freiheit! Mochten in der Zukunft auch noch so viele Schwierigkeiten warten – dieser eine Augenblick war alle Mühe wert.

Nichts würde ihn daran hindern, furchtbare Rache an dem kleinen Schurken zu üben, der ihn in die Knie gezwungen hatte. Grimmig bekämpfte Dragon die schmerzhaften Wellen, die seinen Körper immer noch durchströmten, und malte sich aus, wie er den Burschen züchtigen würde. Niemand, nicht einmal ein kleiner Grünschnabel durfte ihn so niederträchtig angreifen und ungestraft davonkommen. O ja, dafür würde der Kerl bezahlen – fragte sich nur, wie.

Erst einmal musste Dragon ihn einfangen. Darin sah er kein Problem. Hätte der Racker seine Spur absichtlich hinterlassen, wäre sie nicht deutlicher zu erkennen. Dragon, ein ausgezeichneter Jäger, Kundschafter und Fährtenleser, brauchte keines dieser besonderen Talente, um festzustellen, wohin der Junge gelaufen war. Abgebrochene Zweige und niedergetrampeltes Gras markierten den Weg. An Dornenbüschen hingen Wollfäden. Nach den langen Schritten zu urteilen, war der Schlingel in halsbrecherischem Tempo geflohen, was immerhin auf eine gewisse Klugheit hinwies – nicht, dass sie ihm etwas nützen würde.

Dragon rannte nicht. Das hatte er nicht nötig. Er hatte längere Beine als der Junge, und er ermüdete nicht so leicht. Nachdem kürzere Schritte die Erschöpfung des Flüchtlings angedeutet hatten, eilte der Verfolger immer noch leichtfüßig dahin. Nur ein einziges Mal hielt er inne, um an einem klaren Bach seinen Durst zu stillen. Hier hatte der Bursche offenbar gerastet. Danach führte die Spur nach Osten zum Meer, und wenig später erblickte Dragon die Küste.

Fast sein ganzes Leben hatte er am Meer verbracht und mehrere Jahre an Bord eines Schiffes. Deshalb blieb er nicht stehen, um die Aussicht zu bewundern. Während er weiterging, entdeckte er umgedrehte feuchte Steine und abgerissene Wildrosen. Einmal überquerte er sogar einen Sandstreifen voller kleiner Fußabdrücke. In der Nähe dieser Stelle verengte sich der Strand, steile Klippen ragten empor. Er entdeckte einen Busch, an dem sich der Junge hochgezogen, den Halt verloren und herabgefallen war. Nach kurzem Zögern folgte Dragon dieser Spur. Die Sonne stand im Zenit, als er zum Klippenrand hinaufkletterte. Den Rücken zum Meer gewandt, schaute er sich um. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung am Waldrand. Vorsichtig, im Schutz der Sträucher und Felsen, schlug er diese Richtung ein.

Jetzt verließen den Jungen zusehends die Kräfte. Das entnahm Dragon den immer kürzeren Schritten, den Spuren eines häufigen Straucheins. Aber der Bengel ruhte sich nicht aus. Steuerte er ein ganz bestimmtes Ziel an?

Dragon überlegte, wie lange er an diesem Morgen schon unterwegs war. Nun musste er sich in der Nähe von Hawkforte befinden, der Festung seines Gastgebers Hawk of Essex. Die starken Mauern – erbaut, um den Angriffen der Dänen standzuhalten, die den Schlossherrn neuerdings nicht mehr herausforderten – schützten den Wohlstand der Stadt und den Hafen. Im näheren Umkreis lagen noch andere Siedlungen. Aber keine konnte sich mit Hawks imposanter Residenz messen. Dort wollte der Junge wahrscheinlich Zuflucht suchen.

Auch Dragons Reise führte zur Festung. Aber er hatte es nicht eilig, dieses Ziel zu erreichen. Sobald er Hawkforte betrat, würde er seine Freiheit verlieren und sein Hals unweigerlich in der Schlinge stecken.

Solch düsteren Gedanken mochte er vorerst nicht nachhängen. Wieder einmal fragte er sich, warum der Junge allein durch Essex wanderte. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Allzu lange würde es nicht mehr dauern, bis der Lausbube eine Erklärung abgeben musste. Im Wald beschleunigte Dragon seine Schritte. Immer näher pirschte er sich an sein Opfer heran.

Rycca sank auf einen bemoosten Felsen und rang nach Luft. Obwohl sie sich todmüde fühlte und ihre Füße schmerzten, war sie fest entschlossen, ihren Weg fortzusetzen. In dieser Gegend plätscherten genug Bäche, die ihren Durst löschen konnten. Aber sie war halb verhungert, und sie hatte nur eine Hand voll Beeren gefunden. Ihr kleiner Beutel mit dem Reiseproviant lag an der Stelle, wo der goldene Riese über sie hergefallen war. Wie albern, ihn so zu nennen ... Offenbar hatte die Erschöpfung ihren Geist verwirrt. Er war einfach nur ein Mann, noch dazu ein verdammtes Raubein. Außerdem gab es keinen Grund, überhaupt an ihn zu denken. Selbst wenn er ihr folgen wollte – sie war zu schnell geflohen und längst über alle Berge. Nun trieb er sich irgendwo in den Wäldern herum, weit von ihr entfernt. Vielleicht verfluchte er sie immer noch. Aber er würde ihr sicher nie mehr begegnen.

Wie schade ...

Bestürzt runzelte Rycca die Stirn. Welcher boshafte Kobold setzte ihr solche Flausen in den Kopf? Gewiss, sie war völlig erschöpft. Aber das entschuldigte ihre Dummheit nicht. Sie musste doch wahrlich über wichtigere Dinge nachdenken – über ihre Zukunft, wie sie ihr Leben meistern sollte. Von einem Mann zu träumen – damit würde sie nur ihre Zeit und ihre seelischen Kräfte vergeuden.

Der schönste Mann, den ich jemals sah...

»Hör auf!« Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie merkte, dass sie laut gesprochen hatte, und presste die Lippen zusammen. Schluss damit! Solche törichten Wünsche musste sie sofort verdrängen und vernünftige Pläne schmieden.

Feigling.

Nein, keineswegs! Wenn eine Frau dem Schicksal trotzte, das ihr die Familie aufzwingen wollten, ihr Leben selbst in die Hand nahm und eine ferne, fremde Küste ansteuerte, war sie nicht feige.

Aber eine Närrin.

Verdammt, verdammt, verdammt! Dieses verfluchte Talent verfolgte sie schon seit der frühen Kindheit. Wie sie es hasste, anders zu sein und immer alles zu wissen! Könnte man sie belügen, wäre sie glücklich. Würde man sie glauben machen, was nicht stimmte, würde sie sich freuen. Wenn man sie mit Ausflüchten täuschte und hinterging, beschwindelte und betrog – nichts würde ihr besser gefallen. In segensreicher Ignoranz zu leben, nichts zu durchschauen, zumindest nicht mehr als normale Menschen, von der Wahrheit verschont zu werden – das erträumte sie genauso sehnsüchtig wie die Freiheit.

Er war ein Mann, mehr nicht. Ein gefährlicher Fremder. Welch ein Glück, dass sie ihn nie wieder sehen würde ...

Lüge.

Erbost stand sie von dem bemoosten Felsblock auf, verbannte alle albernen Gedanken und ging weiter durch den Wald. Vor Einbruch der Dunkelheit würde sie Hawkforte erreichen und an Bord eines Schiffs mit Kurs auf die Normandie schleichen. Dort würde sie Thurlow wiedersehen. Gemeinsam wollten sie ein neues Leben beginnen, weit weg von dem Grauen, das ihr drohen würde, wäre sie dumm genug, in England zu bleiben.

Und das ist die reine Wahrheit.

Nun herrschte Stille in ihrem Gehirn und im Wald, als hätte ihre unbeugsame Entschlossenheit sogar die Natur zum Schweigen gebracht.

Erleichtert eilte sie weiter. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, zurückzublicken oder darauf zu lauschen, was hinter ihr geschehen mochte. Hätte sie das getan, wäre ihr nichts aufgefallen. Denn Dragon folgte ihr wie ein lautloses Gespenst – unbeirrbar, unerbittlich.

Eine knappe Stunde, nachdem er die Bewegung am Rand der Bäume gesehen hatte, holte er den Jungen ein. Er hätte ihn schneller fangen können. Aber er war zurückgeblieben, um sicherzugehen, dass er nicht entdeckt wurde, um den richtigen Moment abzuwarten und den kleinen Rüpel zu überrumpeln. Es musste möglichst schnell geschehen, ehe sich der Bursche bei seiner Gegenwehr verletzen würde. Und dann wollte er seine Rache genießen.

Zweifellos wäre sein Plan gelungen, hätten ihm die unberechenbaren Launen der Natur keinen Streich gespielt. Als er an einem Gebüsch vorbeiging, in dem eine Graugansfamilie hauste, erregte er den Zorn der Eltern, die ihre Jungen zu schützen trachteten. Empört flog das Männchen aus dem Nest, und das Weibchen reckte den Hals hoch, breitete die Flügel über den kleinen Vögeln aus und gackerte drohend.

In diesen Lärm mischten sich die Stimmen anderer Vögel. Kreischend und krächzend und zwitschernd flatterten sie aus dem Unterholz und beschimpften den Eindringling, der ihre Ruhe störte. Das wilde Geschrei durchdrang sogar den Nebel von Ryccas Müdigkeit. Verwundert schaute sie nach allen Seiten, und ihre Überraschung verwandelte sich sofort in eisiges Entsetzen.

Der schönste Mann, den sie je gesehen hatte ...

Ungläubig blinzelte sie.

Doch sie hielt nicht inne, um über die plötzliche Ankunft des Fremden oder ihre eigene Dummheit nachzudenken. Stattdessen wandte sie sich ab und stürmte davon, so schnell ihre schmerzenden Beine sie trugen.

Dragon folgte ihr unverzüglich. Denn er wollte dem Jungen nicht erlauben, die letzten Kräfte zu verbrauchen. Sobald er seine Rachegelüste befriedigt hatte, würde er herausfinden, warum der kleine Tunichtgut allein unterwegs war und welches Ziel er ansteuerte. Dann würde er ihn in Sicherheit bringen, nach Hawkforte, ganz egal, ob es dem Burschen passte oder nicht und ob er eine Reisebegleitung zu schätzen wusste. Nicht nur Dragons Beschützerinstinkt war erwacht, sondern auch seine Neugier. Hinter dem Entschluss des Jungen, allein in die weite Welt hinauszuziehen, musste irgendetwas stecken. Und Dragon liebte interessante Geschichten. Die Leute behaupteten, er hätte genauso viel zu erzählen wie die besten Skalden oder Barden. Und einige meinten sogar, er müsste diesen Beruf ergreifen, von Haus zu Haus wandern und all die großartigen Ereignisse dieses Zeitalters schildern. Doch das Schicksal hatte ihn zum Krieger und Anführer bestimmt. Und damit war er einverstanden.

Trotzdem genoss er die Abende am Herdfeuer, wo das Ale in Strömen floss, wenn er das Publikum mit der Magie seiner Worte verzauberte.

In der Tat, dieser Junge ist verzweifelt, dachte er. Sonst würde er nach all den Meilen, die er zurückgelegt hatte, nicht so erstaunlich schnell durch den Wald laufen. Allmählich schmolz sein Vorsprung. Wenn er auch ein beachtliches Durchhaltevermögen hatte, Dragon war ein erwachsener Mann, in zahlreichen Kämpfen erprobt, auf dem Höhepunkt seiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Seine muskulösen Beine schienen über den Boden zu fliegen. Mühelos meisterte er jedes Hindernis. Und er kannte keine Gnade.

Das schien der Junge zu erkennen, als er einen Blick über die Schulter warf. Inzwischen war Dragon so nahe an ihn herangekommen, dass er kalte Angst in den großen, von dichten Wimpern umrahmten Augen las. Plötzlich ging ihm ein neuer Gedanke durch den Sinn. Gab es einen besonderen Grund, der den Burschen zu dieser halsbrecherischen Flucht veranlasste? Eine beklemmende Erinnerung kehrte zurück. Seinem Heim von grausamen Kriegswirren entrissen, war Dragon – noch ein halbes Kind – mit seinem älteren Bruder über die Weltmeere gesegelt. Im Laderaum des Schiffs, eines Nachts, ein Mann ... Bei diesem Gedanken runzelte Dragon die Stirn, nach all den Jahren immer noch entsetzt. Verbissen hatte er gekämpft. Aber allein wäre er der Gefahr nicht entronnen. Sein Bruder Wolf – schon damals groß für sein Alter und mit jenen Fähigkeiten gerüstet, die ihm zum Ruhm eines bedeutsamen Kriegers verhelfen würden, hatte ihn gerettet. Wütend stach er den Angreifer nieder, ließ ihn im Todeskampf liegen, umarmte Dragon und schwor ihm, sie würden alle Feinde besiegen, die jemals ihre Wege kreuzen sollten. Und das gelang ihnen. Mittlerweile waren die Brüder Hakonson zu Macht und Reichtum aufgestiegen. Aber Dragon hatte nie vergessen, wie man sich fühlte, wenn man jung und hilflos und verängstigt war.

Obwohl ihn seine milde Stimmung ärgerte, rief er dem Jungen zu: »Du musst nicht weglaufen! Keine Bange, ich werde dir nichts antun. Bleib stehen, und wir reden miteinander.«

Damit handelte er sich einen Blick ein, der besagte, außer den unteren Regionen müsste auch noch sein Kopf verletzt worden sein. Dann beschleunigte der Bursche sein Tempo.

Dragon seufzte. Mit langen Schritten rannte er weiter, flog durch die Luft und warf den Flüchtling zu Boden. Dabei drehte er sich blitzschnell herum, so dass er auf dem Rücken landete und dem Jungen einen schmerzhaften Sturz ersparte. Aber vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte dem kleinen Balg alle Luft aus den Lungen gepresst, denn es wehrte sich hartnäckig, trat in alle Richtungen und tat sein Bestes, um auf sämtliche verfügbaren Körperteile seines Gegners zu schlagen.

»Lass das, jetzt reicht’s!«, stieß Dragon hervor, sprang auf, zerrte den Jungen mit sich empor und schüttelte ihn. »Beruhige dich! Ich will doch nur mit dir reden!«

Mit dieser Erklärung erreichte er gar nichts. Das Gesicht hochrot, die Augen weit aufgerissen, bekämpfte ihn der Kleine mit aller Kraft. Dragon ergriff die einzig richtige Maßnahme – er hielt ihn auf Armeslänge von sich und wartete ab, bis der erbitterte Widerstand langsam, aber sicher erlahmte. Schließlich ließ der Bursche die ermatteten Fäuste sinken.

»Bist du jetzt bereit, mit mir zu reden?«, fragte Dargon freundlich.

Der Junge schnappte mühsam nach Luft. Offensichtlich konnte er nicht sprechen, aber er warf Dragon einen finsteren, feindseligen Blick zu.

»Nein? Gut, dann will ich mich noch eine Weile gedulden.« Am langen, starken Arm ausgestreckt, hielt er den Jungen am Kragen hoch, so dass die Beine über dem Waldboden baumelten. Mit sanfter Stimme wiederholte er: »Ich werde dir nichts antun.« Als sein Gefangener ungläubig die Brauen hob, fügte Dragon hinzu: »Eigentlich hatte ich vor, dich zu verprügeln. Das hättest du verdient. Aber du dachtest vielleicht, du müsstest dich verteidigen, nachdem ich über dich hergefallen war. Das will ich dir zugestehen. Jeder Mann hat das Recht, sich zu schützen.« Mit voller Absicht nannte er ihn einen Mann, obwohl der kleine Kerl noch Jahre brauchen würde, um einer zu werden. Vermutlich war er nicht einmal dreizehn. Jetzt, als Dragon ihn genauer betrachtete, kam er ihm jünger vor. Auf den eben noch geröteten Wangen, die nun erblassten, zeigten sich nicht die geringsten Spuren erster, zarter Barthaare. Der Junge hatte fein gezeichnete Züge, eine schmale, gerade Nase über vollen Lippen, ein sanft gerundetes Kinn. Aber es waren die großen, etwas schräg gestellten, honigbraunen Augen, die Dragons Blick fesselten – und einen plötzlichen schlimmen Verdacht erregten.

Ohne Vorwarnung hob er seine freie Hand und riss dem kleinen Racker die Kappe vom Kopf.

»Nein!« Schmale Finger schnellten empor, um ihn daran zu hindern. Viel zu spät. Kupferrotes seidiges Haar fiel herab. Entgeistert hielt Dragon den Atem an. Ein Mädchen. Großer Gott, ein Mädchen hatte ihn auf die Knie geworfen. Diese Erkenntnis verblüffte ihn vor allem deshalb, weil er im Verlauf seiner langjährigen – und reichlichen – Erfahrungen mit Frauen so etwas noch nie erlebt hatte. Bei aller Bescheidenheit, das weibliche Geschlecht pflegte ihn ermutigend und liebevoll anzuschauen. Vielleicht wegen seines Aussehens – auf das er keinen besonderen Wert legte. Auch sein Reichtum und seine Macht hatten einige Damen beeindruckt. Aber er glaubte, seine Wirkung auf die Frauen hing in erster Linie mit der Bewunderung zusammen, die er ihnen zollte. Ja, er betete sie geradezu an. Die Frauen waren das schönste Geschenk, das der Allmächtige den Männern vergönnte – sanft und stark zugleich. Außerdem rochen sie gut, lächelten bezaubernd und brachten neues Leben hervor. Immer wieder entzückten sie Dragon, im Bett und auch außerhalb. In ihrer Gesellschaft fühlte er sich stets ungemein wohl und glücklich. Dass eines dieser himmlischen Geschöpfe ihn absichtlich verletzt hatte – das verstand er beim besten Willen nicht.

Natürlich durfte er ihr den Angriff nicht verübeln. Vor lauter Angst musste sie außer sich gewesen sein. Jetzt erschien ihm die Frage, die den vermeintlichen Jungen betroffen hatte, noch dringlicher. Warum zum Teufel lief sie allein durch den Wald? Wenn sie sich auch mit Männerkleidern tarnte – das war kein ausreichender Schutz. Hätte er sie bei der ersten Begegnung etwas länger gemustert, wäre ihm ihr Geschlecht zweifellos aufgefallen. »Schon gut, meine Kleine«, sagte er beschwichtigend. Vorsichtig stellte er sie auf die Füße – bereit, sie sofort wieder festzuhalten, wenn sie vor Erschöpfung zusammenbrechen sollte. »Von mir habt Ihr nichts zu befürchten. Ich werde Euch in Sicherheit bringen und ...«

Behände fuhr sie herum und rannte davon, flink wie ein junges Reh. Dragon starrte ihr fassungslos nach. Woher nahm sie die Kraft zu einem weiteren Fluchtversuch? Nun zeigte sich wieder einmal, wie rätselhaft die Frauen waren. Natürlich musste er sie zurückhalten. Sie konnte sich verirren, nichts Essbares finden und erfrieren, sobald die Nacht hereinbrach – und einem Mann begegnen, der den Frauen nicht so gewogen war wie er selbst.

Das konnte Dragon nicht zulassen. Und er würde ihr auch nicht erlauben, sich zu verletzen, während sie durch den Wald stürmte, ohne ihre Umgebung zu beachten. In wachsender Sorge folgte er ihr.

Keuchend rang Rycca nach Luft. Ihre Beine fühlten sich bleischwer an, und es gelang ihr kaum noch, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nur der Mut ihrer Verzweiflung hielt sie davon ab, ins Moos zu sinken. Warum spielte ihr das Schicksal so grausame Streiche? Kaum war sie den beängstigenden Plänen ihrer Familie entronnen, hatte ein riesengroßer, starker Krieger ihren Weg gekreuzt.

Und der schönste Mann auf Erden ...

Wie albern ... Hätte sie genug Luft bekommen, wäre sie in ungläubiges Gelächter ausgebrochen. Sogar jetzt, als sie um ihr Leben rannte, gingen ihr solche törichten Gedanken durch den Kopf. War sie von irgendeinem Dämon besessen?

Nur von der Wahrheit.

Zur Hölle mit der Wahrheit! Und mit allem anderen, was ihr diese Welt zumutete! Nein, weder diesem Krieger noch ihrer eigenen Schwäche würde sie zum Opfer fallen. Sie würde weiterlaufen, bis ihr Herz zersprang, und niemals, niemals klein beigeben. Nur Feiglinge kapitulierten. Und sie war nicht feige. Ohne die Tränen ihrer Furcht und Erschöpfung wahrzunehmen, die über ihre Wangen rollten, eilte sie entschlossen dahin. Wie sich das Terrain veränderte, wie sich der Wald ringsum lichtete, merkte sie nicht. Sie sah auch nicht das Meer, das unterhalb der Felsen schimmerte. Dragons angstvollen Ruf hörte sie nicht. Völlig entkräftet, ihrer Hoffnung beraubt, nur noch von Verzweiflung getrieben, taumelte sie über den Klippenrand. Aus ihrer Kehle rang sich ein halb erstickter Schrei, und sie griff nach den Büschen, um den Sturz zu verhindern – vergeblich. Schluchzend starrte sie zur weiß schäumenden Brandung hinab, die ihr entgegenraste.

Dragon sah das Mädchen hinter dem Klippenrand verschwinden und bekämpfte die heftige Übelkeit, die in ihm aufstieg. Was die Verfolgungsjagd bewirkt hatte, konnte er kaum fassen. Aber das furchtbare Ergebnis ließ sich nicht leugnen. Vielleicht war das Mädchen tot oder lag im Sterben – durch seine Schuld. Stöhnend warf er sich über den Rand des Abgrunds, schlitterte den Steilhang hinab. Aus einer Höhe von einem Dutzend Fuß sprang er auf den Strand.

Was er sah, krampfte sein Herz zusammen. Verkrümmt lag sie am Wasserrand, neben dem Felsblock, der ihren Fall gebremst hatte. Kupferrotes Haar schwamm in den Wellen der heranströmenden Flut. Nur noch wenige Minuten – und sie würde ertrinken. Die schlanke Gestalt bewegte sich nicht. Aus einer Wunde an der Stirn quoll Blut und rann ins Meer.

Dragon hob sie hoch und trug sie den Strand hinauf. Behutsam legt er sie in den Sand und zögerte. Was sollte er tun? Auf den Schlachtfeldern hatte er zahllose Verletzte gesehen. Und vor einem Jahr hatte er sein eigenes Leben gerettet, durch die schnelle, fachkundige Behandlung einer Wunde, an der er sonst gestorben wäre. Aber jetzt fühlte er sich völlig hilflos. So schwach und zerbrechlich sah sie aus. Aller Mut war verflogen. Mühsam schluckte er. Dann öffnete er einen kleinen Beutel, der an seinem Gürtel hing. Darin verwahrte er einige Vorräte. Nicht nur seine Vernunft gebot ihm, sie stets bei sich zu tragen. Darauf bestand auch seine Schwägerin, eine kluge, heilkundige Frau. Vorsichtig presste er ein weiches sauberes Tuch auf die Stirnwunde der jungen Frau. Sobald die Blutung versiegt war, verband er ihren Kopf und tastete ihren Körper ab. Zu seiner Erleichterung hatte sie sich keine Knochen gebrochen. Bei der Untersuchung bemerkte er die weiblichen Rundungen unter den Männerkleidern. Entschlossen ignorierte er diese Entdeckung. Aber seine Hand zitterte, als er sie unter die Tunika schob, um festzustellen, ob die Rippen unversehrt waren.

Nach einem tiefen Atemzug richtete er sich auf. Offenbar hatte sie sich nur am Kopf verletzt. Davon konnte sie genesen. Oder sie würde nie mehr erwachen und aus der Ohnmacht in den ewigen Schlaf hinübergleiten. Beides hatte er bei Männern gesehen, die ähnliche Wunden erlitten hatten. Nur die Zeit würde die bange Frage beantworten, ob die junge Frau am Leben bleiben würde. Während er überlegte, wie er sie an einen bequemeren Ort bringen sollte, hörte er sie leise stöhnen. Erleichtert seufzte er auf. Oder hatte er sich den leisen Laut nur eingebildet? Weil er so inständig auf ein Lebenszeichen gehofft hatte? Er neigte sich hinab, immer tiefer, bis ein warmer Atemzug seine Wange streifte. Langsam hob sie die Lider.

Wikinger meiner Träume

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