Читать книгу Wikinger meiner Träume - Josie Litton - Страница 6
Kapitel 4
Оглавление»Vor langer, langer Zeit«, begann Dragon, »wurden zwei kleine Brüder von den Soldaten ihres hasserfüllten Großonkels, der ihrem Großvater den Thron geraubt hatte, am Ufer eines breiten Flusses ausgesetzt. Die Männer sollten die Kinder töten, verspürten aber Mitleid und ließen sie am Leben. Glücklicherweise fanden eine Wölfin und ein Specht die beiden Jungen und ernährten sie, bis ein Hirte sie in seine Hütte holte und großzog. Sobald sie herangewachsen waren, verbündeten sie sich mit anderen jungen Männern, stürzten ihren verbrecherischen Großonkel vom Thron und verhalfen ihrem Großvater zu seinem Recht. Doch damit fingen ihre Abenteuer erst an ...«
Und so ritten sie am silbrig schimmernden Fluss durch den sommerlichen Wald, während Dragon von wilden Kämpfen, Verrat, Tod und glanzvollem Ruhm berichtete. Rycca vergaß ihren Wunsch, wie der Wind dahinzugaloppieren. Nie zuvor hatte sie eine so lebhaft geschilderte Geschichte gehört. Die Stimme des Kriegers schien über sie hinwegzufließen wie warmer Regen, verlockend und bezaubernd.
»Nachdem Romulus seinen Bruder Remus getötet und das Volk der Sabiner erobert hatte, beherrschte er Rom. Aber dann wurde das Land von einem außergewöhnlichen Unwetter heimgesucht, das den Tag plötzlich in dunkle Nacht verwandelte. Grelle Blitze zerrissen den Himmel, und die sieben Hügel der Stadt erzitterten unter gewaltigen Donnerschlägen. Auf den Stufen des Palastes tanzte ein sonderbarer Wirbelwind und drang in das Gebäude ein, ergriff Romulus und trug ihn davon. Nie wieder wurde er gesehen.«
Vollends im Bann der fesselnden Geschichte, seufzte Rycca. »Vielleicht war dieser Wirbelwind der Geist des ermordeten Bruders, der sich rächen wollte.«
»Ja, das wäre möglich«, stimmte Dragon zu. »Aber die alten Römer glaubten, die Götter hätten Romulus geholt, um ihn in ihrem Kreis aufzunehmen.« Inzwischen hatten sie eine idyllische Lichtung erreicht, und er zügelte seinen Fuchs – froh über die Gelegenheit, abzusteigen. »Nun sollten wir die Pferde trinken lassen.«
Rycca nickte und glitt aus dem Sattel. Zärtlich streichelte sie die Nüstern ihres Hengstes. »Was für ein braver Junge du bist! Und dein Gang – so ruhig und sicher ... Ich wette, du könntest den ganzen Tag traben, ohne zu ermüden.«
Das hörte »Romulus« – der Vierbeinige – mit dem gleichen Entzücken, das er einem saftigen Apfel zollen würde. Er schmiegte seinen Kopf an die junge Frau, die ihn lachend liebkoste. Natürlich wollte »Remus« nicht unbeachtet daneben stehen. Und so versuchte er seinen Bruder zu verdrängen. Dieser Kampf störte das Mädchen, das zwischen die Fronten geriet, nicht im Mindesten.
Aber Dragon sorgte sich. Oft genug hatte er auf dem Schlachtfeld beobachtet, wie starke Krieger von ihren Streitrössern zertrampelt worden waren. »Jetzt müssen die beiden endlich trinken«, entschied er, packte die Pferde an den Zügeln und zerrte sie auseinander.
Verwundert musterte sie ihn. Aber sie widersprach nicht. Während die Füchse ihren Durst stillten und dann zufrieden grasten, setzte er sich auf die Uferböschung. An einen bemoosten Feldblock gelehnt, bereute er, dass er keine Angelrute mitgenommen hatte.
»Wer waren die Amazonen?«, fragte die junge Frau unvermittelt.
»Wollt Ihr etwa noch eine Geschichte hören?«, erwiderte er lächelnd, und sie zuckte die Achseln.
»Wenn Ihr eine zu erzählen habt ...«
»Mindestens hundert. Seit ich denken kann, sammle ich Geschichten, oder ich erfinde welche.«
»Dann hättet Ihr ein Barde werden sollen.«
»Ja, das habe ich mir überlegt, aber ...« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Das Schicksal wollte es anders.« Einladend klopfte er neben sich auf den Boden. »Die Amazonen – was für eine faszinierende Geschichte!«
Als sie sich zu ihm gesetzt hatte, fuhr er fort: »Die Amazonen waren wilde Kriegerinnen, die ohne Männer lebten und sich nur mit ihnen einließen, um Kinder zu bekommen. Die Mädchen behielten sie, die Jungen schickten sie zu den Vätern. Um die Amazonen ranken sich zahllose Legenden. Zum Beispiel bekämpften sie einen mächtigen Helden namens Herakles, den die Götter beauftragt hatten, den Gürtel der Amazonenkönigin zu stehlen.«
»Was für eine großartige Heldentat!«, spottete Rycca. »Den Gürtel einer Frau zu stehlen!«
»Besser als ihren Kopf, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt.«
»Ein andermal brach ein blutiger Krieg in einer Stadt namens Troja aus. Die Amazonen verbündeten sich mit den Stadtbewohnern und kämpften gegen den Helden Achilles, der ihre Königin auf dem Schlachtfeld tötete und erst danach erkannte, dass er sie liebte.«
»Daran hätte er vorher denken sollen. Meint Ihr nicht auch?«
»In der Tat. Eine andere Königin – ich glaube, es war die Amazone, deren Gürtel gestohlen wurde – heiratete einen Helden, nachdem er sie in einer Schlacht besiegt hatte.«
Rycca verdrehte die Augen. Nachdenklich pflückte sie einen Grashalm und kaute daran. »Obwohl diese Frauen nichts mit Männern zu tun haben wollten, mussten sie dauernd gegen sie kämpfen.«
»Nur in diesen Geschichten. In Wirklichkeit gab es keine solchen Kriegerinnen.«
Lächelnd schaute sie in seine Augen, die voller Belustigung funkelten. »Muss ich Boudicca noch einmal erwähnen? Auf ihrem Streitwagen führte sie Männer – und Frauen – in die Schlacht. Viele Frauen in diesem Land griffen zu den Waffen.«
»Aber ein ganzes weibliches Volk, das ohne Männer leben wollte? Das finde ich unwahrscheinlich.«
Als Rycca sein herausforderndes Grinsen sah, lachte sie. »Nun, vielleicht beschließen wir kampflustigen Frauen, ein oder zwei Männer in unserer Mitte zu dulden. Natürlich nur nette ...«
Sie beobachtete das Spiel von Sonnenstrahlen und Schatten, das über sein Gesicht flackerte. Entspannt streckte er sich im Gras aus. Doch sie spürte seine verhaltene Kraft. Seltsam – in seiner Nähe fühlte sie sich beschützt und erregt zugleich. Nur wenige Frauen, die auf Reisen gehen wollten, würden einen solchen Begleiter ablehnen.
Plötzlich hob er eine Hand und strich das Haar aus ihrer Stirn. Die Geste wirkte wie eine Liebkosung. »Da habt Ihr Euch wirklich schlimm verletzt.«
»Oh, ich spüre die Wunde gar nicht mehr ...« In diesem Moment hätte man mit einem Stock auf ihren Kopf schlagen können, und es wäre ihr kaum bewusst geworden.
»Trotzdem solltet Ihr’s nicht übertreiben.«
»Also kommt ein Galopp nicht in Frage?«
Dragon rückte näher zu ihr, um ihr Haar etwas genauer zu betrachten, fasziniert vom feurigen Glanz, den die Sonnenstrahlen erzeugten. Träumerisch ließ er eine seidige Strähne zwischen seinen Fingern hindurchgleiten. »Im Wald kann man nicht galoppieren.«
»Aber bei den Klippen wachsen keine Bäume. Wie weit ist es bis dorthin?«
Vorwurfsvoll zupfte er an ihrem Haar und ließ es los. »Ihr wollt zu den Klippen zurückkehren? Nicht zu fassen!«
Seiner Berührung beraubt, ärgerte sie sich über ihre unverständliche Enttäuschung und fauchte: »Glaubt Ihr, ich würde wieder hinunterfallen?«
»Wenn Ihr eines dieser Ungetüme reitet, ist alles möglich.« Dragon zeigte auf die beiden Füchse, die einander spielerisch anstießen, während sie große Grasbüschel aus dem Erdreich rissen.
»Das meint Ihr nicht ernst!«, erwiderte sie verblüfft. »So liebe, süße, brave Geschöpfe!«
»Einfach nur Pferde, und es gibt keinen Grund, ihretwegen in Verzückung zu geraten.«
Diesen Worten folgte ein langes Schweigen, das Rycca schließlich brach. »Ihr mögt keine Pferde.« Maßlos erstaunt, starrte sie ihn an. »Da besitzt Ihr die wunderbarsten Hengste, die ich jemals sah – und Ihr mögt sie nicht?«
»Warum muss ich sie mögen? Genügt es nicht, dass ich gut für sie sorge?«
Dem konnte sie nicht widersprechen. Doch sie wunderte sich immer noch. »Obwohl Ihr Euch nichts aus Pferden macht, seid Ihr ein ausgezeichneter Reiter. Aber Ihr scheint nicht gern zu reiten.«
»Genauso ungern, wie ich meine Feinde auf dem Schlachtfeld töte. Trotzdem muss ich’s tun.«
Sonderbar – ein Krieger, der seine Kämpfe nicht zu schätzen wusste ... In Ryccas Familie nutzten die Männer jede Gelegenheit, um das Schwert zu schwingen – zumindest, wenn sie mit einem Sieg rechneten. In letzter Zeit konnten sie sich nur selten an diesem Glück ergötzen.
»Habt Ihr schlechte Erfahrungen mit einem Pferd gemacht?« erkundigte sie sich.
»Ja«, gab er geistesabwesend zu und beobachtete ihre anmutigen Bewegungen, als sie eine bequemere Haltung im Gras einnahm. Die zu große Männerkleidung verbarg nur ihren Körper, nicht die schlanken, wohlgeformten Beine. Mühelos stellte er sich vor, wie himmlisch es wäre, zwischen diesen schönen Schenkeln zu liegen.
»Was ist geschehen?«
»Wann?«
»An jenem Tag, als Ihr eine schlechte Erfahrung mit einem Pferd gemacht habt«, erläuterte sie geduldig.
»Ach, das meint Ihr ... Ich bin auf eins gestiegen.«
»Und dann?«
»Es trabte und rannte umher – das Übliche.«
»Seid Ihr im Sattel geblieben?«
»Natürlich. Solange sich das Pferd bewegte, war ich nicht so dumm, hinunterzuspringen.«
Mit schmalen Augen schaute sie ihn an. »Wurdet Ihr abgeworfen?«
»Kein einziges Mal. Das lässt sich leicht vermeiden.«
»Tatsächlich? Wie denn?«
»Man muss das Tier einfach nur zwischen den Beinen festhalten, und man darf das Gleichgewicht nicht verlieren«, antwortete er in einem Tonfall, der besagte, das sollte sie eigentlich wissen.
»Nachdem Ihr niemals abgeworfen wurdet – was habt Ihr denn gegen die Pferde?«
»Wenn ich’s Euch verrate – seid Ihr dann zufrieden und hört auf, mich mit diesen albernen Fragen zu bestürmen?«
»Vielleicht. Aber es muss eine einleuchtende Erklärung sein. Ich glaube einfach nicht, dass ein so guter Reiter wie Ihr keine Pferde mag.«
»An den Pferden liegt’s nicht direkt. Es missfällt mir, auf ihnen zu sitzen.«
Durch dichte Wimpern musterte sie ihn, und zwischen ihren Brauen bildeten sich zarte Fältchen. »Ich bemühe mich wirklich, das zu begreifen.«
»Weil es so hoch oben ist ...«
»Hoch oben?«
Erbost nickte er. Warum gestand er ihr, was er noch keiner Menschenseele erzählt hatte, nicht einmal seinem Bruder? Nun, wenn er auf diese Weise das Vertrauen der jungen Frau gewann, würde sich seine Aufrichtigkeit vielleicht lohnen.
Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. »Oh, Ihr leidet an Höhenangst?«
»Allem Anschein nach.«
»Und weil Eure Pferde so groß und hochbeinig sind ...«
»Deshalb mag ich sie nicht.«
»Gewiss, das ist ein Problem. Und warum leidet Ihr an Höhenangst?«
»Wolltet Ihr nicht aufhören, mich mit Fragen zu belästigen?«
Ungerührt zuckte sie die Achseln. Dragon seufzte und gab sich geschlagen. Bevor sie die ganze Wahrheit erfuhr, würde sie nicht lockerlassen.
»Als ich noch ein Kind war, verließen mein Bruder und ich unser Zuhause. An Bord eines Schiffs bildete ich mir ein, ich müsste auf den Großmast klettern. Aus unerfindlichen Gründen dachte ich, da oben könnte ich die Sterne berühren. Bald merkte ich, dass das unmöglich war, und wollte hinuntersteigen. Aber inzwischen war es stockdunkel geworden, und das Wetter hatte umgeschlagen. Der Wind heulte gespenstisch, das Schiff schwankte immer heftiger. Und so klammerte ich mich am Mast fest und wartete, bis mich mein Bruder am nächsten Morgen entdeckte.«
Ein Kind, das die Sterne berühren wollte, dachte Rycca zutiefst bewegt. »Wo waren Eure Eltern?«
»Sie hatten bei einem Überfall ihr Leben verloren. So wie üblich. Zumindest war man damals daran gewöhnt. Glücklicherweise hat sich das inzwischen geändert.«
Ohne zu überlegen, streichelte sie seine Hand. Er sah Tränen in ihren Augen glänzen und wusste, sie würde wieder an ihr eigenes Leid denken.
Verdammt, warum hatte er sie daran erinnert? Er sprang auf und zog sie hoch. »Wenn wir die Biester noch lange allein lassen, werden sie unruhig.«
Nun standen sie dicht voreinander. Er roch den Duft ihrer Haut, frisches Gras, mit Geißblatt vermischt. Unwillkürlich ließ er seinen Blick zu ihrem Mund schweifen. Weiße Zähne gruben sich in die volle Unterlippe, und er legte einen Finger darauf. »Nein – nicht ...«
Er hörte sie seufzen und spürte ihre Unsicherheit. Was er jetzt tun würde, war falsch. Schlimmer noch – völlig verrückt.
Aber niemand konnte ihn zurückhalten – nur die junge Frau selbst.
Da sie keinen Widerstand leistete, neigte er seinen dunklen Kopf zu ihrem rotblonden hinab. Nur ganz leicht berührte er ihren Mund mit seinem.
Von unbekannten Gefühlen überwältigt, konnte Rycca kaum atmen. Heißes Entzücken durchströmte ihren ganzen Körper, alle klaren Gedanken verflogen, und sie verwandelte sich in das Mädchen zurück, das am Morgen neben dem Bett gekniet und in seinem Duft geschwelgt hatte.
Voller Sehnsucht trat sie noch näher zu ihm. So glatt waren seine Lippen, so warm und – behutsam. Bei den Zechgelagen im Haus des Vaters hatten die Männer die Frauen geküsst, lüstern und gierig, wie sie Hirschkeulen verschlangen, mit hungrigen, weit geöffneten Mündern. Solche Szenen hatte sie voller Ekel beobachtet und geglaubt, sie wäre gefühlskalt. Wie dumm war sie gewesen – jetzt schien sie zu glühen. Sie bebte vor Verlangen – und vor Entsetzen, weil ihr das bewusst wurde. O Gott, welch eine Begierde! Wie war es nur möglich, ganz plötzlich solche ungehörigen Wünsche zu empfinden?
Sie musste ihn berühren, ihre Hände auf seine harte Brust pressen und ihn mit ihrer zitternden Zungenspitze kosten. Oh, welche Freude, sein Erschauern wahrzunehmen! Er drückte sie fester an sich, küsste sie leidenschaftlicher, und seine Zunge zwang sie, die Lippen zu öffnen. Wäre sie zu Atem gekommen, hätte sie vor lauter Ekstase geschrien. All die Jahre hatte sie nichts von den schönsten Wundern dieser Welt geahnt. Ihre Hände glitten nach oben zu seinen breiten Schultern, ihre Finger schlangen sich in sein dichtes, seidiges Nackenhaar. Unter der Männertunika schmerzten ihre Brustwarzen. Hilflos gab sie dem Bedürfnis nach, ihre Hüften an seinen zu reiben.
In wachsendem Staunen fragte sich Dragon, ob er eine Flammengestalt umarmte. Aus ihrem Körper schien wilde Glut in seinen zu dringen. Obwohl er die Liebeslust in vielen Varianten kannte, hatte er noch keine so überwältigende Leidenschaft verspürt wie in diesem Augenblick. Offenbar hatte seine Kriegerin – so nannte er sie inzwischen – die gleiche sinnliche Natur wie er.
Und trotzdem war sie unschuldig. Das wusste er, denn er hatte genug Erfahrungen mit Frauen gesammelt. Diese Erkenntnis verscheuchte den roten Nebel seines Verlangens, doch er konnte sich nicht dazu durchringen, die Umarmung zu beenden. Den Kopf der jungen Frau an seine Brust gepresst, streichelte er zärtlich ihr Haar, während er den brennenden Wunsch bekämpfte, mit ihr ins weiche Gras zu sinken und zu genießen, was sie offensichtlich genauso heiß ersehnte wie er selbst.
Er hatte sie gezwungen, ihn zu begleiten, und er wollte ihr Vertrauen gewinnen. Mit diesem Gedanken stärkte er sein schwankendes Gewissen. Obwohl sie ihm nichts verweigern würde – seine Ehre gebot ihm, verantwortungsbewusst zu handeln.
»Das hätte ich nicht tun dürfen«, flüsterte er.
Verwundert schaute sie zu ihm auf, bis sie die Bedeutung seiner Worte verstand. Sofort versteifte sie sich, stemmte beide Hände gegen seine Brust, und er musste sich zwingen, sie loszulassen. Aber er versuchte ihre Hand zu ergreifen, als sie hastig zurücktrat. Die Wangen hochrot, wich sie ihm aus.
»Hör mir zu«, bat er eindringlich. »Du bist ein junges unberührtes Mädchen. Und ich habe mir gelobt, dich zu beschützen. Deshalb hätte ich das nicht tun dürfen. Aber um die Wahrheit zu gestehen – du führst mich in Versuchung, wie ich es nie zuvor ...« Abrupt verstummte er, denn er wollte sie nicht erschrecken. »Trotzdem schwöre ich dir – du hast nichts von mir zu befürchten.«
Die Wahrheit.
Nachdenklich betrachtete sie ihn – diesen wunderbaren, faszinierenden, kraftvollen Mann, der sie in der Nacht umarmt hatte, um ihre Ängste zu verscheuchen, und mit ihr ausgeritten war, ohne Rücksicht auf seine eigenen Gefühle. Die bezähmte er auch jetzt, um sie vor ihrer eigenen berückenden Sehnsucht zu retten. Der Held dieser fremden Welt ... »Sogar über die Klippen bist du gestiegen«, sagte sie leise.
Tatsächlich, er fühlte sich, als wäre er von einem hohen Gipfel herabgestürzt. Doch sie meinte zweifellos etwas ganz anderes.
Lächelnd las sie die unausgesprochene Frage in seinen Augen. »Obwohl du an Höhenangst leidest, bist du mir zum Klippenrand gefolgt und hinabgeklettert, um mich vor dem sicheren Tod zu bewahren.«
Nun seufzte Dragon erleichtert auf. Sie zürnte ihm nicht. »Und dann trug ich dich zur Hütte.«
Ryccas Lächeln vertiefte sich. »Welch ein entschlossener Mann ...«
»O ja«, bestätigte er und ging zu den Pferden.
Gegen Mittag kehrten sie in die Hütte zurück. Rycca behauptete, sie würde sich großartig fühlen. Doch sie widersprach Dragon nicht, als er ihr empfahl, sich hinzulegen und auszuruhen. Sobald sie die Augen geschlossen hatte, schlief sie ein und erwachte erst am Abend.
Nirgends ließ er sich blicken. Romulus und Remus standen im Stall. Sie freuten sich sichtlich, Rycca wieder zu sehen. Also war er nicht weggeritten. Natürlich – falls er sich entfernt hatte, zog er es vor, seine Beine zu benutzen. Nicht, dass sie ernsthaft glaubte, er hätte sie verlassen. Trotzdem war sie dumm genug, um aufzuatmen, nachdem sie den ausgenommenen, geschuppten Fisch entdeckt hatte, der auf grünen Zweigen über dem Feuer gegart werden sollte. Wo mochte er sein? Am Fluss? Sie wandte sich in diese Richtung. Und da sah sie vom Hang eines niedrigen Hügels, nahe der Hütte, Rauch aufsteigen.
Sie hatte von Saunen gehört. Aber diesen Brauch pflegten die Dänen, sicher keine ehrbaren Engländer. Warum gab es hier eine Sauna? Sie wollte darauf zugehen, dann blieb sie wie festgewurzelt stehen, denn am Fuß des Hangs öffnete sich eine Tür, und jemand trat heraus – ein nackter Mann.
O Gott ...
Ryccas Wangen brannten wie Feuer, was sie kaum wahrnahm. Hastig trat sie hinter einen Baum und starrte ihn an, die Augen weit aufgerissen, von Bewunderung überwältigt.
Noch nie hatte sie einen schöneren Körper gesehen. Ihre Hände prickelten vor Verlangen, diese breiten Schultern zu berühren, über die Brust zu streichen, die muskulösen Arme, harten Schenkeln – und dann wieder nach oben, zu ...
Offenbar hatte sie zu atmen vergessen, denn ihre Lungen rangen schmerzhaft nach Luft. Sie beobachtete, wie er zum Fluss ging. Sogar sein Rücken war eine Augenweide. Und die prallen Hinterbacken ...
Wann war der Abend so heiß geworden? Beinahe glaubte sie, das Gras müsste vor ihren Augen in Flammen aufgehen. Oder vielleicht hatte sich die Sonne der Erde genähert. Gewiss, daran musste es liegen.
Nein, in ihr selbst loderte ein Feuer, eine glutvolle Begierde nach diesem hinreißenden Mann. Jetzt wusste sie, was in den Frauen vorging, über die sich ihr Vater und seine Kumpane so oft unterhielten – die angeblich heißer Wollust frönten. Stets hatte Rycca geglaubt, solche Frauen würde es nicht geben. Jetzt wusste sie es besser. Ja, sie begehrte den Fremden, und er ahnte gar nicht, auf welch unschickliche Weise er gemustert wurde. Würde sie ihn dabei ertappen, dass er sie so dreist anstarrte, wäre sie wütend. Und erregt. O nein, das stimmte nicht. Oder vielleicht doch ... Daran wollte sie nicht denken.
Eigentlich sollte sie sich schämen. Und sobald sie wieder zu Atem kam, würde sie das wahrscheinlich auch tun.
Er ging zum Fluss – zweifellos, um zu schwimmen und sich nach der Hitze in der Sauna abzukühlen. Das gehörte dazu, nicht wahr? Erst heiße Dämpfe, dann kaltes Wasser. Funkelnde Tropfen würden über diesen reizvollen Körper rinnen und Spuren ziehen, die sie mit ihren Fingerspitzen nur zu gern verfolgen würde ...
Auch Rycca könnte ein kühles Bad gut gebrauchen. Aber sie würde sich nicht einmal in die Nähe des Flusses wagen. So viel Verstand, um diese Gefahr zu meiden, hatte sie immer noch.
Oder ihre Vernunft besiegte die Emotionen, nachdem er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Trotzdem wurde sie von süßen Erinnerungen verfolgt, von all den verwirrenden Einzelheiten jener Umarmung.
Ganz ruhig ein- und ausatmen, befahl sie sich. Er ist nur ein Mann – einfach nur ein Mann. Solange sie das nicht vergaß, war alles in Ordnung.
Doch er ließ sich nicht mit anderen Männern vergleichen – obwohl sie ihr Bestes tat, um diese Erkenntnis zu verdrängen.
Und deshalb musste sie ein Problem lösen. Wenn er zurückkam, würde sie sich vor lauter Scham in einer Ecke verkriechen ...
Nein, welch ein Unsinn! Dafür war sie viel zu stolz. Irgendwie würde sie die Begegnung meistern.
Wenig später verließ Dragon das Flussufer, in einer sauberen, ärmellosen Tunika aus fein gesponnener brauner Wolle, die bis zu seinen Schenkeln reichte. Bei mildem Wetter war das seine übliche Kleidung. An einem breiten Ledergürtel hing eine Schwertscheide. Weiche Kiefernnadeln bedeckten den Weg zur Hütte. Deshalb trug er keine Sandalen. Die feuchten Haare hatte er im Nacken mit einem Band umwunden. Bevor er in die Sauna gegangen war, hatte er sich rasiert. Jetzt fühlte er sich erfrischt und sauber. Hawk konnte ein hinterhältiger autoritärer Bastard sein. Aber er besaß eine komfortable Sauna. Und er war ein guter Freund, dem es verdammt schwer fallen würde, zu begreifen, warum sich Dragon von einer rothaarigen Verführerin bezaubern ließ, die er gar nicht anschauen dürfte.
Geschweige denn küssen.
Nur ein Kuss, der nichts bedeuten sollte.
Auf seinen Reisen hatte er sich mit bildschönen, erfahrenen Kurtisanen vergnügt. Oder die Betten von Frauen geteilt, die mit ihrer Leidenschaft wettmachten, was ihnen an Liebeskünsten fehlte. Inzwischen müsste er das Stadium überwunden haben, wo ihn ein einziger Kuss übermäßig beeindrucken könnte.
Oder doch nicht?
Wie auch immer, es spielte keine Rolle, weil ihn größere Sorgen plagten. Zum Beispiel die Frage, wie er das unerträgliche Verlangen nach der jungen Frau zügeln sollte.
Seufzend nahm er sich vor, endlich herauszufinden, wer sie war. Sobald er das wusste, würde er die Gefahr abschätzen, in der sie schwebte, und ihre Sicherheit gewährleisten. Selbst wenn ihre Familie in die kürzlich niedergeschlagene Revolte gegen König Alfred verwickelt war, brauchte sie die Zukunft nicht zu fürchten. Hawk würde sie beschützen und ihr Schicksal dem König ans Herz legen. Wenn es um Frauen und Kinder ging, kannte der Herrscher keine Rachsucht. Für die junge Kriegerin wäre es am besten, Dragon anzuvertrauen, wovor sie floh. Dann würde ihr sicher nichts zustoßen.
Doch das musste er ihr erst einmal klar machen.
Mit diesem Problem befasste er sich immer noch, als er die Hütte erreichte. Die junge Frau war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich schlief sie noch. Aber der Fisch konnte nicht länger warten. Außerdem musste sie hungrig sein. Gerade wollte er sie wecken, da trat sie hinter dem Stall hervor, den Kopf hoch erhoben.
Gleichmütig lächelte sie ihn an, die Wangen gerötet – von ihrem Schlummer, vermutete er.
»Ah, du bist zurückgekommen«, begrüßte sie ihn.
»Ich war schwimmen. Übrigens, hier gibt es eine Sauna, falls du sie benutzen willst.«
Dieser Vorschlag schien ihr zu missfallen. Vielleicht fand sie ihn fremdartig und exotisch. »Nein, ich bade lieber im Fluss. Sicher ist das Wasser warm genug.«
»O ja, sehr erfrischend.« Bald würden sie über das Wetter reden. Nach dem Kuss hatte sie nicht so verlegen gewirkt wie jetzt. Was mochte sie bedrücken? Warum wich sie seinem Blick aus? Bereute sie, was zwischen ihnen geschehen war – nachdem sie darüber nachgedacht hatte?
Das würde er bedauern, denn es erschwerte die Aufgabe, ihr Vertrauen zu gewinnen. Doch was den Kuss betraf – deshalb empfand er keine Gewissensbisse, die Erinnerung war zu süß. »Nun will ich mich um den Fisch kümmern«, erklärte er.
Während er das Abendessen vorbereitete, sammelte sie wilde Kräuter und Beeren. Meistens aßen sie schweigend, abgesehen von dem Lob, das sie dem gebratenen Fisch zollte, und einer kurzen Diskussion über die Frage, wie man am besten Forellen fing. Sie bevorzugte Netze, er Angelruten. Überaus höflich unterhielten sie sich.
Nach der Mahlzeit brach die Nacht herein. Sie nippten an dem Rheinwein, den Dragon in der Speisekammer gefunden hatte. Was die Vorräte betraf, war Hawk ein überaus großzügiger Gastgeber.
Rötlich schimmerte der Mars neben dem strahlend hellen Stern Spica. In dieser Nacht würde kein Mond scheinen, und der klare Himmel bot eine günstige Gelegenheit, die Konstellationen zu studieren.
»Kennst du auch Geschichten über Sterne?«, fragte Rycca zögernd. Sie hatte bemerkt, wohin er schaute, und die Neugier, die sie schon so oft beim Anblick der Lichter über der Erde verspürt hatte, erwachte wieder. Manchmal erschienen sie so nahe, als könnte man sie berühren, so, wie er es in der Kindheit versucht hatte.
»O ja, ein paar«, erwiderte er lächelnd. Sollte er sie mit Geschichten einlullen wie eine Mutter, die ihr Kind besänftigt? Sollte er Dichtung und Wahrheit erzählen, bis sie alles andere vergessen würde? Er füllte die beiden Becher noch einmal. »Siehst du die beiden hellen Sterne, die übereinander stehen – und die anderen zu ihrer Linken? Das ist Cassiopeia, die einstige Königin von Äthiopien, einem alten Land im Süden. Nachdem diese prahlerische Frau die Götter erzürnt hatte, wurde sie an ihren Thron gekettet. Hin und wieder hängt sie nach unten.«
»Wie schrecklich!«
»Gewiss. Aber die Araber behaupten, sie sei einfach nur ein kniendes Kamel. Rechts von ihr siehst du ihre Tochter Andromeda. Um Götter zu beschwichtigen und ihrem Schicksal zu entrinnen, wollte sie ihr Kind opfern, band es an einen Felsen am Meer fest und hoffte, ein Ungeheuer würde es verschlingen. Glücklicherweise ritt der Held Perseus auf einem geflügelten Pferd vom Himmel herab und rettete Andromeda gerade noch rechtzeitig.«
»Beneidenswerte Andromeda ...«, murmelte Rycca.
Dragon nutzte die Gunst der Stunde. »Manchmal brauchen die Menschen Hilfe und müssen jemandem vertrauen, um ihre Probleme zu lösen.«
»Aber ich bin nicht an einen Felsen gefesselt.«
Ihre Geistesgegenwart verblüffte ihn. »Vielleicht doch – und du versuchst, dich allein aus einer Notlage zu befreien.«
»Was geschah mit Andromeda, nachdem Perseus sie gerettet hatte?«
»Welche Rolle spielt das?«
»Gehört das nicht zu der Geschichte?«
»Ja, wahrscheinlich schon.«
»Dann erzähl mir, wie es weiterging – bitte.«
Mit diesem Wort erreichte sie ihr Ziel. »Die beiden verliebten sich ineinander, Perseus nahm Andromeda zur Frau, und sie gebar ihm sechs Söhne und eine Tochter. Doch sie führten kein sorgenfreies Leben. Unwissentlich erfüllte Perseus die Prophezeiung, die seine Geburt überschattet hatte, und tötete seinen Großvater. Deshalb musste er aus seiner Heimat fliehen. Aber er gründete ein neues Königreich, dem viele Helden entstammen sollten. Und damit ist die Geschichte beendet.«
Inzwischen war das letzte Tageslicht erloschen, und er sah ihr Gesicht im Schatten, im Widerschein der Flammen. »Nur eine schöne Legende«, meinte sie. »Mehr nicht.«
»Es hätte tatsächlich geschehen können.«
Obwohl sie schwieg, wusste er, dass sie ihm nicht zustimmte.
Wenig später gingen sie schlafen – Rycca in der Hütte, Dragon im Freien. Die Nacht verdunkelte sich, Rehe und Hirsche tauchten aus dem Unterholz auf, wo sie tagsüber geschlafen hatten. Auch Füchse krochen aus ihrem Bau. Über Dragons Kopf flog eine Eule hinweg, die Flügel in der flüsternden Luft kaum bewegt. Ein paar kleine Fledermäuse flatterten unter den Bäumen. Im Stall träumten Romulus und Remus von grenzenlosen, saftig grünen Wiesen.
Dragon beobachtete, wie sich die Sternbilder veränderten. Bald sah er seinen Namensvetter, den Drachen, über den Himmel schweben. Früher hatte der hellste Stern im Drachen allen Reisenden den Weg nach Norden gewiesen. Jetzt war das nicht mehr möglich, denn der Himmel hatte sich verändert – auf seine eigene langsame Weise, die man in einem befristeten Menschenleben nicht wahrnahm. Er trank noch etwas Wein.
In schnellem Flug glitt ein funkelnder Stern über den Himmel und verschwand – blitzschnell erloschen, als hätte er niemals existiert.
So verdammt kurz war das Leben.
Immer wieder schlug Rycca mit der Faust auf das Kissen. Was zuvor angenehm und bequem gewesen war, erschien ihr jetzt klumpig. Und die weiche Decke reizte ihre Haut. Darunter war ihr zu heiß, ohne die dicke Wolle fror sie. Sie fand das Bett zu breit, die Luft zu still, die Nacht zu lang.
Also wirklich – wie konnte er sie mit Andromeda vergleichen? Und sich selbst mit dem Helden Perseus? Niemals würde er ein geflügeltes Pferd reiten. Sieben Kinder – ein verlorenes Königreich und ein neues Land. Welch eine Geschichte ...
In ihrem Innern fühlte sie eine dumpfe, schmerzliche Leere. Warum ist das Leben so schwierig, fragte sie sich bedrückt. Solange sie mit ihrem Zwillingsbruder zusammen gewesen war, hatten sie einander nach besten Kräften geholfen. Davon abgesehen, blickte sie auf viele trostlose Jahre voller Zwietracht und Grausamkeit zurück. Und die Zukunft? Selbst wenn sie die Normandie erreichte – was mochte sie dort erwarten?
Thurlow musste seinen eigenen Weg gehen. Auf ihn konnte sie sich nicht verlassen. Wahrscheinlich blieben ihr nur zwei Möglichkeiten – das Kloster oder eine Ehe, beides gewissermaßen ein Gefängnis.
Aber es gab noch etwas anderes – das spürte sie mit allen Fasern ihres Seins. Am Strand war es ihr bewusst geworden, als sie ihre Freiheit genossen hatte. Was nutzte ihr die Freiheit, wenn sie allein lebte? Oder die Zweisamkeit, wenn sie die Gefangenschaft bedeutete?
Dieses verdammte Kissen ...
Sie stieg aus dem Bett und wanderte zum Fenster, ging zum Tisch, strich über die Kante und erinnerte sich an den Kuss.
Da verstärkte sich der Schmerz in ihrem Innern.
Vermutlich würde man sie gefangen nehmen. Den Gedanken an diese Gefahr hatte sie tagelang verdrängt. Jetzt blickte sie der unheilvollen Wirklichkeit ins Auge. Nach Hawkforte zu gelangen, war schwierig genug. Vielleicht sogar unmöglich, denn inzwischen musste sich ihr Verschwinden herumgesprochen haben, und die Leute würden nach ihr suchen. Obwohl er ihr helfen würde, begann ihre Zuversicht zu schwinden.
Und wenn ihr die Flucht misslang, welches Schicksal mochte ihr dann drohen? Sie erschauerte. Sicher würde man sie einsperren, vielleicht sogar sterben lassen. Das traute sie ihrer Familie zu, und der Tod wäre ihre einzige Freiheit.
Ihr Atem stockte. Nein, sie liebte das Leben, jeden einzelnen Augenblick, und sie wollte in all den Freuden schwelgen, die es ihr bieten würde, wenn ...
Wenn – was?
Wenn ich fliegen könnte, flüsterte ihr Herz.