Читать книгу Wikinger meiner Träume - Josie Litton - Страница 4

Kapitel 2

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Trotz der heftigen Kopfschmerzen befahl ihr ein Instinkt, aufzustehen und wegzulaufen – wenn sie sich auch nicht erinnerte, wovor sie flüchtete. Als sie sich aufrichten wollte, wurde sie mit sanfter Gewalt in den Sand zurückgedrückt.

»Ganz ruhig, Schätzchen. Das war ein gefährlicher Sturz. Glücklicherweise habt Ihr Euch nichts gebrochen. Aber Ihr dürft Euch nicht bewegen.«

Die tiefe Stimme klang besänftigend, verführerisch – und viel zu vertraut. Er. Diesen Unfall verdankte sie ihm. Er hatte sie verfolgt, über den Klippenrand getrieben und beinahe umgebracht. Jetzt glaubte er sicher, sie wäre ihm hilflos ausgeliefert und eine leichte Beute, was immer er auch mit ihr vorhatte.

Doch da würde ihn eine böse Überraschung erwarten. Bedauerlicherweise erst etwas später – wenn dieses grässliche Schwindelgefühl in ihrem Kopf nachlassen würde ... Weil ihr nichts anderes übrig blieb, gab sie sich mit einem leisen Stöhnen geschlagen, das Dragon für einen Schmerzenslaut hielt.

Erschrocken beugte er sich zu ihr hinab. »Tut Euch außer Eurem Kopf noch etwas anderes weh? Ich untersuchte Euch und konnte keine weiteren Verletzungen feststellen. Aber vielleicht habe ich mich geirrt.«

Er hatte sie untersucht? Was mochte das bedeuten? Rycca starrte in seine Augen, die goldenes Sonnenlicht widerspiegelten. Noch schlimmer – seine Stimme jagte einen seltsamen wohligen Schauer durch ihren Körper und erfüllte sie mit unbegreiflicher Zufriedenheit.

Vorsichtig berührte er ihre Stirn. Das nahm sie kaum wahr, gebannt von der zärtlichen Sorge in seinem Blick. Davon ließ sie sich natürlich nicht täuschen. Solche Krieger kannte sie zur Genüge. In ihrer Mitte war sie aufgewachsen. Die Grobiane nahmen sich, was sie wollten, und dachten immer nur an ihre eigenen Gelüste, ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer Menschen. Aus der beglückenden Höhe ihrer Freiheit in die Hände eines dieser Männer zu fallen – das erschien noch schlimmer als ihr Sturz von den Klippen. Den hatte sie wenigstens überlebt.

Langjährige Erfahrung hatte sie gelehrt, niemals Furcht oder Zweifel zu zeigen. Und so schaute sie den Krieger herausfordernd an, ignorierte das eigenartige Flattern ihres Herzens und fauchte: »Verschwindet!«

Dragon seufzte. Ihren Groll nahm er nicht übel. Es war ihr gutes Recht, ihm zu zürnen, und er bedauerte sogar, dass er ihren Wunsch nicht respektieren konnte. »Tut mir Leid, ich muss bei Euch bleiben, weil Ihr verletzt seid und Hilfe braucht.«

Die Wahrheit.

Nein, unvorstellbar. Männer entschuldigten sich nicht, zumindest nicht bei Frauen. Und es lag ihnen fern, anderen Leuten beizustehen, es sei denn, sie erhofften eine Gegenleistung. Also würde er seine Sanftmut und sein Mitgefühl nur heucheln. Und dieser Gedanke warf eine bedeutsame Frage auf. Hatte ihr der Sturz jenes sonderbare, unerwünschte Talent geraubt? War sie nicht mehr fähig, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden? Wenn das zutraf, würde sie noch ein Dutzend Mal von den Klippen fallen.

Wie auch immer, sie musste die verlockende Möglichkeit erwägen, dass der Krieger wirklich meinte, was er sagte. Misstrauisch erwiderte sie seinen Blick. »Ich brauche keine Hilfe. Lasst mich aufstehen, und ich gehe meines Weges.«

Geduldig schüttelte er den Kopf. »Für eine Frau ist es gefährlich, allein zu reisen.«

»Bevor ich Euch begegnet bin, ist mir nichts zugestoßen.«

»Weil Ihr Glück hattet. Wäre Euch jemand anderer in die Quere gekommen, könnten Euch ernsthafte Schwierigkeiten drohen.«

Hätte sie keine noch stärkeren Kopfschmerzen befürchtet, wäre sie in Gelächter ausgebrochen. Stattdessen begnügte sie sich mit einer Grimasse. »Oh, meint Ihr, vielleicht hätte mich jemand über den Klippenrand gehetzt?«

Der Krieger errötete nicht vor Zorn, was verständlich gewesen wäre, nachdem sie ihn verspottet hatte. Nun schien er sein Verhalten zu bereuen. »Nun, ich hielt Euch für einen Jungen, dem man bessere Manieren beibringen müsste. Hätte ich gewusst, dass Ihr ein Mädchen seid ...« Er unterbrach sich und zuckte die Achseln. »Auch dann wäre ich Euch gefolgt, denn Ihr solltet nicht allein und schutzlos durch Essex wandern. Aber ich hätte Euch rechtzeitig eingefangen, überwältigt und eine Verletzung verhindert.«

Die Wahrheit.

»Schön und gut. Aber Ihr müsst Euch nicht um mich sorgen. Bald treffe ich meinen Bruder – nicht weit von hier.«

Genau genommen lag die Normandie auf der anderen Seite des Meeres. Doch man würde viel länger brauchen, um andere Gebiete im Süden und Osten zu erreichen, zum Beispiel das legendäre Byzanz. Im Westen gab es angeblich ein Land, wo flüssiges Feuer aus den Bergen floss und Dampf aus tiefen Erdspalten stieg. Und manche Leute berichteten von einer Gegend noch weiter im Westen, mit zerklüfteten Küsten und endlosen Wäldern. Wenn man die Normandie damit verglich, wirkte sie eher wie ein Nachbardorf. Also hatte sie im Grunde nicht gelogen.

»Dann werde ich Euch zu ihm bringen«, erklärte der Krieger.

Bedrückt schloss Rycca die Augen. Als sie die Lider wieder hob, wollte er sie auf seine starken Arme nehmen. »Nicht nötig! Ich kann gehen. Außerdem ...« Trotz ihrer Kopfschmerzen schaute sie sich hastig um. »Ihr habt kein Pferd.«

Oh, sein Lächeln – heiliger Himmel, wie ungerecht! Noch nie war sie einem so hinreißenden Mann begegnet. Dieser Wahrheit konnte sie sich nicht länger verschließen. Wenn er lächelte, weckte er sogar den unvernünftigen Wunsch, ihm alles zu geben, was er verlangen mochte. Dass die Kopfverletzung ihr Gehirn vielleicht benebelte, war nur ein schwacher Trost.

Er stand auf und wischte den Sand von seinen stahlharten nackten Schenkeln unter der kurzen Tunika. »Wo wartet Euer Bruder?«

»Mein – was?« Plötzlich war ihr Mund staubtrocken. Natürlich hing auch das mit ihrem Sturz zusammen, keineswegs mit der Nähe dieses Mannes. Aus demselben Grund schlug ihr Herz viel zu schnell. Gewiss, ein solcher Sturz konnte großen Schaden anrichten.

Besorgt neigte er sich zu ihr hinab. »Ich meine Euren Bruder, der Euch erwartet. Habt Ihr das Gedächtnis verloren?«

»Nein, alles in Ordnung.« Wo sich ihr Bruder aufhielt, durfte sie nicht verraten. Sonst würde der Fremde sie womöglich in die Normandie begleiten. Dieser Gefahr würde sie sich nicht aussetzen.

Eigentlich konnte sie ihm gar nichts erzählen. Wenn er herausfand, wie sie hieß und warum sie allein unterwegs war, würde er sie wahrscheinlich nach Hause bringen und dem Schicksal ausliefern, dem sie entfliehen wollte. Ein so starker Krieger musste im Dienst eines großen, mächtigen Herrn stehen. Bei diesem Gedanken krampfte sich ihr Magen zusammen. War er an einen Treueid gebunden, der ihn zwingen würde, gegen ihren Willen zu handeln, mochte sie auch noch so verzweifelt versuchen, ihn umzustimmen?

Mühsam richtete sie sich auf, missachtete ihre Schmerzen und betrachtete sein markantes Gesicht. Und dann stellte sie die Frage, die ihr plötzlich viel wichtiger erschien als alles andere. »Wer seid Ihr?«

Eine schlichte Frage, die er normalerweise ohne Zögern beantwortet hätte ... Trotzdem schwieg er. Irgendetwas verheimlichte ihm diese junge Frau. Davon war er fest überzeugt. Aber was? Sie hatte ihm nichts mitgeteilt und nur einen Bruder erwähnt, an dessen Existenz er zweifelte. Wer mochte sie sein?

Von ihrer Männerkleidung nicht länger getäuscht, schätzte er sie auf siebzehn oder achtzehn. War sie verheiratet? Floh sie vor einem grausamen Ehemann? Oder war sie verstohlen aus einem Kloster geschlichen, nachdem sie erkannt hatte, sie würde sich nicht zur Nonne eignen? Aber um die Situation realistisch zu betrachten, musste er eine weitere Möglichkeit einbeziehen. Flüchtete sie vor der Strafe für ein Verbrechen?

Sicher war es am besten, wenn er sie nach Hawkforte brachte. Dort sollte der Festungsherr entscheiden, was mit ihr geschehen würde. Aber Dragon zögerte – teilweise wegen ihrer Schönheit, die er immer deutlicher sah, je länger er sie musterte. Doch er kannte sich selbst zu gut, um zu glauben, Schönheit allein könnte ihn betören. Auch ihr Geist beeindruckte ihn, ihr Wagemut – oder ihre Tollkühnheit, ihre Weigerung, ihn anzuschmachten wie die meisten anderen Frauen.

Sie verwirrte ihn. Und Rätsel liebte er genauso sehr wie Frauen und fesselnde Geschichten. Wahrscheinlich war die Begegnung das Werk einer höheren Macht. Er hatte geplant, ein paar Tage zu jagen und sich von dem Schicksal abzulenken, das ihm drohte. Jetzt wurde ihm ein noch angenehmerer Zeitvertreib geboten. Einerseits konnte er der jungen Frau helfen – und sich andererseits amüsieren. Sobald sie erkannte, dass sie nichts von ihm zu befürchten hatte, würde sie ihn in ihr Geheimnis einweihen, was es auch sein mochte. Und er würde für ihre Sicherheit sorgen und wieder gutmachen, dass er sie in Lebensgefahr gebracht hatte.

Auf keinen Fall würde er ihr erlauben, die Reise allein fortzusetzen. Wie ihr Verhalten bewies, neigte sie zum Leichtsinn. Also würde er sie vor sich selbst schützen.

Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, kündigte er an: »Wer ich bin, werdet Ihr erfahren, sobald Ihr mir Euren Namen genannt habt.«

Ärgerlich runzelte sie die Stirn. »Warum wollt Ihr meine einfache Frage nicht beantworten?«

»Und warum sagt Ihr mir nicht, wer Ihr seid?«

Damit brachte er sie nur ein paar Sekunden lang aus dem Konzept. »Weil ich zuerst gefragt habe.«

Dragon grinste. In der Tat, die Situation belustigte ihn. Noch besser – mit seiner Herausforderung hatte er sie von ihren zweifellos qualvollen Kopfschmerzen abgelenkt. Sie war immer noch blass. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Je früher sie akzeptierte, dass er sich um sie kümmern würde, desto besser. »Vermutlich erinnert Ihr Euch nicht an Euren Namen.«

»Doch!«

»Dann stellt Euch vor.«

Rycca presste erbost die Lippen zusammen. Wie geschickt er sie in die Enge getrieben hatte ... Wenn sie sich weigerte, ihren Namen zu nennen, würde er glauben, sie hätte etwas zu verbergen, und sie den Behörden übergeben. Und wenn sie den Eindruck erweckte, sie hätte bei ihrem Sturz das Gedächtnis verloren, würde er umso entschlossener für sie sorgen. Keine der beiden Möglichkeiten würde ihr nützen. Deshalb wäre es am besten, ihm zu folgen und eine Gelegenheit zur Flucht abzuwarten.

»Mein Kopf tut weh.« Gewiss keine Lüge, denn hinter ihrer Stirn pochte es schmerzhaft. Natürlich würde er ihre Klage für das Geständnis halten, bei dem Sturz sei ihr Gehirn beeinträchtigt worden.

Noch ehe sie Atem holen konnte, hob er sie behutsam und scheinbar völlig mühelos hoch. Sie war gewiss nicht klein. Aber in seiner Nähe fühlte sie sich absurderweise wie ein Kind. Vielleicht hatte ihr Verstand tatsächlich gelitten. »Wohin bringt Ihr mich?« Wenigstens das sollte er ihr erklären.

Dragon trug sie bereits den Strand entlang. Endlich befand sie sich da, wo sie hingehörte – auf seinen Armen. Ganz vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, um unnötige Erschütterungen zu vermeiden. Zunächst versuchte sie, den Kopf hochzuhalten. Aber sie lehnte ihn bald an seine Schulter. »Zu einer Hütte, nicht weit entfernt.«

»Gehört sie Euch?«

»Einem Freund. Aber sie steht mir zur Verfügung. Dort könnt Ihr Euch erholen.«

»Also stammt Ihr aus dieser Gegend.«

Lächelnd schaute er in ihr Gesicht hinab. »Habe ich das behauptet?« Sie stöhnte leise, offenbar zu geschwächt, um sich auf ein Geplänkel einzulassen.

Sofort bereute Dragon seine Worte. »Schluss mit dem Geschwätz! Ruht Euch aus!«

Eine Zeit lang schwieg sie, dann ging ihr eine neue Frage durch den Sinn. Er hatte verkündet, die Hütte sei nicht weit entfernt. Aber nun hatte er bereits eine halbe Meile zurückgelegt und hielt sie immer noch auf seinen Armen, ohne zu ermüden ... Nein, seine Kraft durfte sie nicht beeindrucken. Und so lenkte sie ihre Gedanken in eine andere Richtung. »Warum habt Ihr kein Pferd?«

Vorwurfsvoll runzelte er die Stirn. Aber er beantwortete die Frage trotzdem. »Ich habe ein Pferd.«

»Wo ist es?«

»Bei der Hütte. Seid jetzt still, Ihr braucht Eure Ruhe.«

Nur weil ihr nichts anderes übrig blieb, gehorchte sie. Erst jetzt wurde ihr voll und ganz bewusst, was geschehen war, und diese Erkenntnis schwächte sie noch zusätzlich. Erschöpft schloss sie die Augen. Nur für ein paar Minuten, nahm sie sich vor. Wenig später schlief sie ein.

Während sie schlummerte, entspannten sich ihre Züge. Offenbar spürte sie keine Schmerzen mehr. Gut so, dachte Dragon. Hoffentlich würde sie schlafen, bis sie die Hütte erreichten. Dann würde sie sich vielleicht besser fühlen, wenn sie erwachte. Da er die junge Frau nicht stören wollte, wagte er keine großen Schritte. Deshalb würde er sein Ziel erst in einer Stunde erreichen. Das machte ihm nichts aus. Viele Meilen weit könnte er sie tragen, und er fand es sogar angenehm, sie in seinen Armen zu halten, trotz der Umstände. Natürlich würde er die Situation noch erfreulicher finden, wäre die junge Dame wach und in sinnlicher Stimmung ... Nein, daran durfte er nicht denken.

Stattdessen fragte er sich, welches Geheimnis sie hüten mochte. Offenbar hatte sie einen ganz bestimmten Ort angesteuert, vermutlich Hawkforte. Was wollte sie dort, ganz allein – eine junge Dame, die allem Anschein nach einer guten Familie entstammte? Hatte sie ein Unrecht erlitten und sich entschlossen, Hawk um Hilfe zu bitten? Möglich – aber wenn das zutraf, warum weigerte sie sich, darüber zu sprechen? Oder hatte sie tatsächlich ihr Gedächtnis verloren? Wohl kaum, dafür hatten die honigbraunen Augen viel zu klar geglänzt. Inzwischen glaubte er an die Existenz ihres Bruders. Hoffte sie ihn in Hawkforte zu treffen? Wenn ja, warum hatte sie das verschwiegen? Suchte sie die Identität ihres Bruders aus irgendwelchen Gründen zu verheimlichen, ebenso wie ihre eigene?

In seinem letzten Brief hatte Hawk von der Revolte eines mercischen Lords berichtet, die niedergeschlagen worden sei. Mercia war mit Wessex verbündet, von Alfred dem Großen regiert, der sein Reich auch noch in andere Richtungen ausgedehnt hatte, Essex eingeschlossen, wo vernünftige Männer wie Hawk ihn nur zu gern als König anerkannten. Für Mercia galt das ebenso. Aber dort lebten offensichtlich einige Leute, die sich gegen die englische Herrschaft sträubten. War die Familie des Mädchens in solche Bestrebungen verwickelt?

Die Stirn gerunzelt, überdachte Hawk diese Möglichkeit. Schon mehrmals hatte er Essex besucht, seit sein Bruder Wolf mit Hawks Schwester verheiratet war. Diese Gegend kannte er inzwischen sehr gut, das restliche England nur teilweise. Wenn er sich recht entsann, gab es in Mercia keinen Zugang zum Meer. Wer aus diesem Land fliehen wollte, musste sich südwärts nach Wessex oder südostwärts nach Essex wenden. Alle anderen Wege führten durch Gebiete, die immer hoch von den Dänen besetzt wurden.

Seufzend betrachtete er das Gesicht der jungen Frau. Früher oder später würde er herausfinden, in welche Schwierigkeiten sie geraten war, und vorher wollte er sie nicht gehen lassen.

Diese Entscheidung, irgendwann im Lauf der letzten Stunde getroffen, überraschte ihn nicht. Oft genug entstanden solche Pläne im Hintergrund seines Bewusstseins. Dass eine schöne Angelsächsin in seiner Gesellschaft Aufsehen erregen würde, störte ihn nicht im Mindesten. Er war bereit, seine Pflicht zu erfüllen. Wenn das irgendjemandem missfiel – zu schade ...

Nachdem er seinen Entschluss gefasst hatte, ging er frohen Mutes weiter. Für einen Mann, der wenige Stunden zuvor einen qualvollen Angriff auf edle Körperteile erlitten hatte, war er erstaunlich gut gelaunt. In einer so heiteren Stimmung hatte er sich nicht mehr befunden, seit ihm vor einigen Monaten klar geworden war, dass er seinem Schicksal nicht entrinnen konnte. Daran hatte sich im Grunde nichts geändert. Trotzdem fühlte er sich jetzt viel besser. Seltsam – so viele schöne, sanftmütige, fügsame Frauen hatte er gekannt. Warum ihn ausgerechnet diese kampflustige, rothaarige kleine Hexe aufheiterte, verstand er nicht. Vielleicht, weil er Herausforderungen liebte.

Aber sie war verletzt, und seine Ehre gebot ihm, bis zu ihrer Genesung alles andere zu vergessen. Erleichtert atmete Dragon auf, als er hinter einem Kiefernwäldchen das Dach der Hütte erblickte.

In der Nähe des kleinen, strohgedeckten Holzhauses stand ein Stall. Bevor seine Begleiter nach Hawkforte weitergeritten waren, hatten sie seine Pferde weisungsgemäß hierher gebracht, gefüttert und ihnen zu trinken gegeben, denn Dragon erfüllte solche Aufgaben nur widerwillig.

Mit einer Schulter stieß er die Hüttentür auf und trat ein. Der Raum war sehr behaglich eingerichtet. In der Mitte, direkt unter dem Rauchabzug, stand ein großes eisernes Kohlenbecken, in dem bereits ein schwaches Feuer entfacht worden war. Nahe dem Herd, an der Wand, lagen eine Daunenmatratze, feine Wolldecken und ein üppiger Pelz auf der Schlafbank. Wenn das noch nicht genügte, um auf den Reichtum des Besitzers hinzuweisen, mussten die kostbaren Schilde und Banner an den Wänden sogar ein schlecht geschultes Auge überzeugen.

Ein kunstvoll geschnitzter Tisch mit passenden Stühlen und einige Truhen vervollständigten die Einrichtung. Da Dragon schon mehrmals hier gewohnt hatte, kannte er den Schuppen hinter dem Haus, in dem einige Vorräte verwahrt wurden, und die Sauna, die in einen nahen Berghang gegraben war. Hawk hatte die Hütte als Geschenk für seine geliebte Frau bauen lassen, Lady Krysta. Wenn die beiden ihren Pflichten entrinnen wollten, zogen sie sich mit ihrem kleinen Sohn in dieses gemütliche Domizil zurück und genossen für ein paar Tage ihr Familienleben. Großzügig stellten sie es ihren Freunden zur Verfügung, Dragon eingeschlossen.

Vorsichtig legte er die junge Frau auf die Schlafbank. Sie bewegte sich kaum. Nach kurzem Zögern zog er ihr die Sandalen aus. Die übrige Kleidung rührte er nicht an, denn sie war ohnehin schon scheu genug. Behutsam entfernte er den Kopfverband und stellte beruhigt fest, dass die Wunde zu heilen begann. Er deckte das Mädchen zu, dann sah er nach den Pferden.

Wie er es erwartet hatte, waren sie von seiner Eskorte versorgt worden. Unbehaglich musterte er die beiden Füchse mit dem silbrig schimmernden Fell. Sie waren Brüder, im Abstand eines Jahres von derselben Stute geboren. Ohne zu ermüden, konnten die großen Biester stundenlang galoppieren und sich danach kampflustig auf ein Schlachtfeld stürzen. Oder sie tobten übermütig wie Fohlen umher. War Dragon dumm genug, mit Äpfeln in ihre Nähe zu kommen, ließen sie ihm keine Ruhe, bis er sie gefüttert und die samtigen Nüstern gestreichelt und versichert hatte, sie seien wundervoll.

Er verabscheute sie. Nein, dieser Gedanke war übertrieben – es störte ihn, dass er sie manchmal brauchte. Das durfte er den Tieren nicht verübeln. Er hasste es zu reiten. Aber daran trugen sie keine Schuld. Niemals würde er sich auf dem Rücken eines Pferdes heimisch fühlen – ganz egal, wie lange er grimmig und beharrlich im Sattel sitzen mochte. Nicht, dass irgendjemand sein Geheimnis kannte. Er ritt so gewandt und geschmeidig, wie er alles tat. Doch darauf war er nicht stolz. Die Götter hatten ihn ungewöhnlich groß und stark geschaffen. Dafür dankte er ihnen – aber ganz sicher nicht, wenn er diese Vorzüge bei seiner Reitkunst anwandte. Wann immer es möglich war, spürte er lieber festen Boden unter den Füßen. Die brachten ihn zu jedem Ziel, das er ansteuerte, und mussten nicht gefüttert werden.

Natürlich ahnten die Pferde, diese dummen Tiere, nichts von seinen Gefühlen. Sie glaubten, er würde sie mögen – was vermutlich erklärte, warum sie sich jedes Mal freuten, ihn wieder zu sehen. Auch jetzt stießen sie ihn an, kämpften um seine Aufmerksamkeit und machten sich zu geifernden Narren. Das ertrug er, bis er die Geduld verlor, und vergewisserte sich, dass sie alles hatten, was sie brauchten. Danach kehrte er in die Hütte zurück.

Die junge Frau schlief immer noch. So bleich und erschöpft, wie sie aussah, würde sie wahrscheinlich erst in ein paar Stunden erwachen. Dragon nahm einen Bogen von einem Wandhaken und einige Pfeile aus einem Köcher, dann ging er hinaus, um Hasen zu jagen.

Als sich die Sonne dem Horizont näherte, erwachte Rycca. Wohlig seufzte sie und drehte sich auf die Seite. Welch ein Luxus, in einem bequemen Bett zu liegen! Wann sie sich das letzte Mal so entspannt gefühlt hatte, wusste sie nicht mehr. Sicher nicht zu Hause, denn von dort war sie geflohen ...

Abrupt öffnete sie die Augen und schaute sich um. Er ließ sich nirgends blicken. Dafür war sie dankbar. Und sie empfand seltsamerweise keine Angst. Die Kopfschmerzen hatten nachgelassen. Aber sämtliche Knochen taten ihr weh. Offenbar spürte sie erst jetzt alle Nachwirkungen ihres Sturzes vom Klippenrand.

Das musste die Hütte sein, die er erwähnt hatte. Erstaunt musterte sie die verschwenderische Einrichtung und zupfte an der weichen Wolldecke, die ihren Körper wärmte. Vor dem Feuer stand ein Tisch mit wuchtigen, spiralförmig geschnitzten Beinen. Die beiden Stühle mit den hohen Lehnen erschreckten sie ein wenig. Solche Möbel hatte sie zuvor nur in ihrem Zuhause gesehen – den Stuhl ihres Vaters und den anderen, der für Ehrengäste bestimmt war. Aber nicht einmal er besaß so schöne, mit bunten Blumen bestickte Kissen, die hier die Sitzflächen zierten und für besonderen Komfort sorgten.

Langsam stand sie auf, schlüpfte in ihre Sandalen, die sie neben dem Bett fand, und wanderte umher. An den Fenstern hingen Ochsenhäute – hochgerollt, um Licht und Luft einzulassen. Darunter standen kunstvoll geschnitzte Truhen. Rycca hob einen Deckel. Zu ihrer Verblüffung wehten ihr die Düfte von Geißblatt entgegen. Sie beugte sich tiefer hinab und entdeckte ein Tablett. Darauf lagen ...

Seifenstücke? Tatsächlich – runde Seifen, die nicht nach Tierfett und Lauge rochen. Überrascht ergriff sie eine, schnupperte daran und fühlte sich auf eine sommerliche Wiese versetzt.

Als hätte sie ihre Finger verbrannt, ließ sie die Seife fallen und schloss die Truhe. Doch das hinderte sie nicht daran, weitere Einzelheiten der Ausstattung zu betrachten – all die kleinen Dinge, die auf eine Bewohnerin hinwiesen. An den Deckenbalken hingen getrocknete Blumensträuße, Schnüre mit Quasten hielten die bestickten Vorhänge zu beiden Seiten der Schlafbank zusammen. Die eisernen Wandhalter waren nicht für Fackeln vorgesehen, die qualmen würden, sondern für kostbare Kerzen.

Keine einfache Frau, sondern eine Lady, die sich offenbar in der Nähe aufhielt, denn die Truhen waren unverschlossen ...

Plötzlich wurde Rycca ihr schmutziges Gesicht bewusst, die formlose Kleidung, die Kopfverletzung. Sie biss in ihre Lippen.

Vorerst konnte sie nichts dagegen unternehmen. Und so straffte sie die Schultern und öffnete die Tür.

Ein frischer Wind bewegte die Wipfel der Bäume. Zögernd trat sie hinaus und spähte nach allen Seiten. Nichts regte sich, nichts ließ erkennen, wo die Lady sein mochte.

Aber sie hörte ein leises Wiehern, das aus einem Stall drang, und ging darauf zu. Noch bevor sie ihn erreichte, erschien ein rotbrauner Pferdekopf im Fenster, und sie starrte in das wunderbarste braune Augenpaar, das sie je gesehen hatte. Entzückt seufzte sie, als ein zweiter Kopf auftauchte. Was für bildschöne Füchse ... Ohne lange zu überlegen, eilte sie in den Stall, und die beiden begrüßten sie mit fröhlichem Schnauben.

»Oh, wie zauberhaft ihr seid!«, gurrte sie. Hingerissen musterte sie die anmutigen und doch kraftvollen Geschöpfe. Sie liebte Pferde. Schon in ihrer frühen Kindheit war sie zum ersten Mal auf eines dieser Tiere geklettert, als niemand zugeschaut hatte. Dass es ein Schlachtross gewesen war, nur von einem starken Mann zu bändigen, hatte keine Rolle gespielt. Auf einem Pferderücken fühlte sie sich sicher und geborgen, beschützt von der Welt ringsum, eins mit dem Wind, der ihren Galopp begleitete. Nicht einmal der Himmel konnte ihr ein größeres Glück bieten.

Welch ein sonderbarer Tag ... Am Morgen war sie im Wald erwacht, von einem imposanten Mann überfallen worden und vor ihm geflohen, dann über den Klippenrand gestürzt – und jetzt lernte sie diese prächtigen Füchse kennen.

Nun vergaß sie alle Schmerzen. »Seid ihr nicht die schönsten Pferde auf Erden?«, flüsterte sie. Bereitwillig stimmten sie zu und warfen die stolzen Köpfe empor. Dann stießen sie Rycca mit ihren weichen Nüstern an, bis sie in Gelächter ausbrach. »Wem gehört ihr denn? Wer verdient so herrliche Pferde?«

Er hatte erklärt, sein Pferd würde bei der Hütte warten. Aber in diesem Stall standen nur die zwei Füchse.

Entweder war sein Pferd nicht hier, oder ... Ryccas Lächeln erlosch. Nur ein ranghoher Krieger konnte so edle Hengste besitzen. Wahrscheinlich waren sie das Geschenk eines vornehmen Herrn, ein Dank für erwiesene Dienste.

In diesem Teil von England lebte nur ein einziger Lord, der sich auf solche Weise erkenntlich zeigen würde – Hawk. Oft genug hatte Rycca ihren Vater und die Brüder über ihn reden hören, voller Furcht und Neid. Da er reich und mächtig war, suchten viele Leute seinen Schutz. In Hawkforte, einer geschäftigen Hafen- und Marktstadt, blühten Handel und Gewerbe. Dieses Ziel steuerte auch Rycca an, in der Hoffnung, ein Schiff zu finden, das zur Normandie segeln würde. Aber in Hawkforte würde ihr ein schreckliches Schicksal drohen, wenn man feststellte, wer sie war.

Angeblich zählten Hawks Krieger zu den stärksten und tüchtigsten des Landes – Furcht erregende, kampferprobte Männer. Auf ihn würde diese Beschreibung passen. Also diente er vermutlich Seiner Lordschaft. Wie gut, dass sie ihm nichts anvertraut hatte ...

Das Wissen um die Gefahr, in die sie beinahe geraten wäre, verdrängte die Unsicherheit, die sie beim Erwachen in dem fremden Bett befallen hatte. Bevor er zurückkehrte, musste sie verschwinden. Die Pferde führten sie in Versuchung. Auf dem Rücken eines dieser Füchse würde sie nicht lange brauchen, um sich meilenweit zu entfernen. Doch sie würde auch Aufsehen erregen. Wenn jemand den Hengst erkannte, der Hawks Krieger gehörte, würde er dem einsamen Reiter zweifellos den Weg versperren.

Aber zu Fuß wäre sie nicht besser dran. Verspätet erkannte sie, was sie längst hätte merken müssen. Einige Stunden, nachdem sie geglaubt hatte, sie wäre ihm endgültig entronnen, war er aufgetaucht. Mühelos hatte er sie verfolgt, und das würde ihm erneut gelingen – es sei denn, sie konnte ihre Spuren verwischen.

Das Problem verstärkte ihre Kopfschmerzen. Widerstrebend verließ sie den Stall und erforschte die Umgebung des kleinen Holzhauses. Von einer Lady war nichts zu sehen, was Rycca mittlerweile für einen Glücksfall hielt. Er hatte erklärt, die Hütte gehöre einem Freund – wahrscheinlich Lord Hawk. Und seine Lady würde sicher nur in seiner Gesellschaft hierher kommen. Rycca erschauerte. Ein einziges Mal hatte sie Hawk gesehen. Noch wichtiger, er hatte sie ebenfalls gesehen.

Wenn sie ihm begegnen würde ... Dieser Gedanke jagte ihr kalte Angst ein, und ihr Kopf schmerzte unerträglich. Zwischen den Bäumen sah sie Wellen schimmern, ein schmaler Pfad führte zu einem Fluss. Neue Hoffnung stieg in ihr auf. Falls die Strömung nicht zu stark und das Wasser nicht zu tief war, konnte sie vielleicht flüchten, ohne Spuren zu hinterlassen.

Und wenn sie nicht so geschwächt wäre ... Sie rang nach Atem. Würde sie genug Kraft aufbringen, um in den Fluss zu steigen und dahinzuwaten, über glitschige Steine und abgebrochene Zweige hinweg, Meile um Meile, bis nach Hawkforte? Vorausgesetzt, die Stadt lag am Ufer ...

Je eher sie sich dazu entschloss, desto früher würde sie ihr Ziel erreichen. Bedeutsame Entscheidungen hatte sie noch nie hinausgezögert. Sobald sie von den Plänen ihrer Familie erfahren hatte, war sie geflohen. Sollte sie warten, bis sich die Lage noch verschlechtern würde? Nein, das ist sinnlos, dachte sie. Trotzdem war sie unfähig, einen Fuß in den Fluss zu setzen, stand einfach nur da, starrte das Wasser an und überlegte, wie wichtig es wäre, der Gefahr zu entrinnen. An einen Baumstamm gelehnt, blinzelte sie ins Licht der sinkenden Sonne.

Ihr ganzer Körper schmerzte, und sie fühlte sich – als wäre sie von einer Klippe gefallen. Bei diesem Gedanken lachte sie gequält. Wie sollte sie sich sonst fühlen? Nicht, dass es eine Rolle spielte. Sie musste tun, was sie beabsichtigte – den ersten notwendigen Schritt ...

Und so richtete sie sich auf. Sobald der Baum sie nicht mehr stützte, schwankte sie bedenklich. Sie hielt sich am starken Stamm fest, holte mehrmals rief Atem, und das schien ihr zu helfen. Wenn sie schnell genug in den Fluss watete, würde die Kälte des Wassers ihre Lebensgeister vielleicht wecken und ihr Mut machen.

Oder sie würde stolpern, in die Wellen fallen und ertrinken. An diesem Tag war sie dem Tod um Haaresbreite entronnen. Wollte sie das Schicksal noch einmal herausfordern?

Hatte sie eine Wahl? Sollte sie hier bleiben und warten, bis sie wieder zu Kräften kam? In der Gesellschaft eines Mannes, der Lord Hawk diente? O ja, eine fabelhafte Idee! Warum erzählte sie ihm nicht alles und ging danach wie ein Opferlamm zur Schlachtbank?

Rycca verwünschte ihre Schwäche. Wäre sie stark wie ein Mann, würde sie sofort in den Fluss springen. Bedauerlicherweise war sie im Körper einer Frau gefangen – und deshalb verwundbar. In ihren Augen brannten Tränen. Wütend wischte sie ihr Gesicht ab. Nein, sie durfte nicht weinen. Zumindest diese Demütigung wollte sie sich ersparen.

Doch die Tränen rannen unaufhaltsam über ihre Wangen. Noch schlimmer – ihre Beine knickten ein. Ehe sie sich am Baumstamm festhalten konnte, sank sie ins Moos und blieb sitzen, zu erschöpft, um aufzustehen.

Wenig später kehrte Dragon von seiner Jagd zurück und fand seinen Schützling. Als er in die Hütte schaute und das leere Bett sah, erschrak er. Aber dann entdeckte er die Fußspuren der jungen Frau und folgte ihr, verärgert über ihre Dummheit.

Sie kauerte am Flussufer, die Beine angezogen, das Kinn auf den Knien. Einige Sekunden lang gönnte er sich die Freude, ihr fein gezeichnetes Profil und das üppige kupferrote Haar zu betrachten, bevor sie seine Anwesenheit bemerkte. Langsam wandte sie den Kopf zur Seite und warf ihm einen kurzen Blick zu, dann starrte sie wieder ins Wasser. Dragon seufzte und setzte sich zu ihr. Nach einer Weile beendete er das Schweigen. »Mögt Ihr Hasen?«

»Wenn sie umherhoppeln – oder wenn sie am Spieß stecken?«

»Eigentlich dachte ich an einen Haseneintopf.«

Als er ihren Magen knurren hörte, grinste er, erhob sich und reichte ihr eine Hand, die sie zögernd ergriff. Nur widerwillig ließ sie sich auf die Beine ziehen.

»Könnt Ihr gehen?«, fragte er.

»Natürlich«, erwiderte sie, machte zwei Schritte und brach zusammen.

Dragon unterdrückte einen Fluch und hob sie hoch, ignorierte ihren Protest und trug sie zur Hütte. Auf dem ganzen Weg runzelte sie die Stirn. »Wenn Ihr etwas gegessen habt, werdet Ihr Euch besser fühlen«, versicherte er und setzte sie vorsichtig aufs Bett.

Unglücklich schaute sie zu ihm auf. Erst jetzt merkte er, dass sie geweint hatte, und er litt mir ihr.

»Hört mir zu«, bat er, kniete vor ihr nieder und umfasste ihre Hände. »Ihr habt einiges durchgemacht. Wie viel Ihr erdulden musstet, weiß ich nicht. Aber von jetzt an wird alles besser. Vertraut mir.«

Die Wahrheit.

Das meinte er ernst – dieser riesenhafte, unbesiegbare Krieger wollte ihr helfen. Mit großen Augen musterte sie ihn, wie ein Naturwunder, das sie zum ersten Mal sah. Ihr Zwillingsbruder Thurlow hatte eine gütige Seele, was ihn von sämtlichen anderen Männern unterschied, die sie kannte. Nie zuvor war ihr einer begegnet, der die Macht hatte, andere seinem Willen zu unterwerfen, und trotzdem so viel Mitgefühl zeigte.

In diesem Moment wurde sie beinahe von der Versuchung überwältigt, ihm ihr Herz auszuschütten. Nur ein einziger bedrückender Gedanke hinderte sie daran. Wenn er erfuhr, wer sie war, würde er sich zwischen den Pflichten gegenüber seinem Herrn und dem Wunsch, ihr zu helfen, hin und her gerissen fühlen. Nein, auf diese Weise wollte sie ihm seine Freundlichkeit nicht vergelten.

Sie starrte die starken Hände an, die ihre schmalen Finger festhielten, und ihre Kehle schnürte sich zu. So viel Kraft – und zugleich so viel Sanftmut ... Im Aufruhr ihrer Gefühle nahm sie die Träne nicht wahr, die wie ein funkelnder Stern auf seine gebräunte, von Wind und Wetter gegerbte Haut tropfte.

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