Читать книгу Wikinger meiner Träume - Josie Litton - Страница 5

Kapitel 3

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Die Träne schien ihn zu verbrennen, und er betrachtete sie eine Zeit lang, bevor er die Hände der jungen Frau losließ. Dann stand er auf. »Legt Euch hin und ruht Euch aus.« Seine Stimme nahm einen rauen Klang an. »Wenn das Essen fertig ist, wecke ich Euch.«

Zu erschöpft, um zu antworten, nickte sie nur. Er breitete eine Decke über ihren Körper und wartete, bis sie tief und gleichmäßig atmete. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie schlief, verließ er die Hütte. Er machte ein kleines Feuer über einem eisernen Dreifuß, an den er einen Kochtopf hängte, mit Wasser aus einem nahen Brunnen gefüllt. Während sich das Wasser erhitzte, legte er Fleischstücke, Wilde Möhren, Rüben und Kohl hinein. Schließlich streute er eine Hand voll Kräuter und Gewürze in den Eintopf, der über den Flammen brodelte. In der Speisekammer hinter dem Haus fand er Weinschläuche, frisch gebackenes Brot, goldgelbe Käselaibe und einen Obstkorb – lauter Vorräte, von den Dienstboten seines fürsorglichen Gastgebers bereitgestellt.

Abgesehen von der treuen Freundschaft, hatte Hawk auch einen anderen Grund, um ihn in gute Laune zu versetzen. Und wenn Dragon ein paar geruhsame Tage in der Jagdhütte brauchte, fern von der Welt – dann sollte es eben so sein. Ein paar Tage in der Gesellschaft einer reizvollen Sächsin. O ja, eine großartige Idee.

Allerdings bestand die Gefahr, dass er seinem Schicksal danach noch heftiger zürnen würde denn je. Dieses Risiko nahm er gern in Kauf. Immerhin war sie durch seine Schuld von der Klippe gestürzt, und dafür musste er sie entschädigen.

Eine herzhafte Mahlzeit ist ein guter Anfang, dachte er. Als das Essen fertig war, bewegte sich die junge Frau. Dragon trug den köstlich duftenden Kochtopf ins Haus. Belustigt beobachtete er, wie ihre Nasenflügel bebten.

Dann hob sie die Lider, richtete sich auf und fragte neugierig: »Was ist das?«

»Gleich werdet Ihr’s merken.« Er stellte den Topf auf den Tisch. »Kommt her und esst.«

Etwas misstrauisch gehorchte sie und ließ Dragon nicht aus den Augen, bis sie sich über den Topf beugte und schnupperte. »Oh – Ihr könnt kochen!«, rief sie erstaunt.

»Nun ja ...« Bescheiden zuckte er die Achseln. »Ein Freund hat mir beigebracht, wie man einfache Mahlzeiten zubereitet.«

»Offenbar habt Ihr viele Freunde.«

Dragon grinste und rückte ihr einen Stuhl zurecht. »Was das betrifft, darf ich mich glücklich schätzen. Sicher liegt es an meinem freundlichen Wesen.«

»Ah, ein freundlicher Krieger! Umarmt Ihr Eure Feinde auf dem Schlachtfeld? Zerquetscht Ihr sie vor lauter Herzensgüte?«

Bevor er antwortete, ergriff er einen Schöpflöffel und füllte einen Teller. In ihrer Stimme hatte ein bitterer Unterton mitgeschwungen. Kein Wunder in einem Land, wo sogar junge Menschen das Grauen des Krieges kannten ... Aber seit einiger Zeit herrschte Frieden. »Habt Ihr’s noch nicht gehört? Die Kämpfe sind beendet.«

»Ach ja, das verdanken wir dem gesegneten Alfred. Manche Leute behaupten sogar, die Kirche würde ihn heilig sprechen. Natürlich müsste er erst einmal sterben.«

Nur mühsam verbarg er seine Überraschung. Wie freimütig sie über den König redete – fast spöttisch ... Teilten alle Engländer diese Gesinnung? Oder entstammte sie einem vornehmen Haus, das Alfred nicht treu ergeben war? Dragon schob den Teller zu ihr hinüber und legte einen Löffel daneben, aus Eichenholz geschnitzt. Dann füllte er einen Teller für sich selbst. »Den Tod eines Königs sollte man nicht erwähnen.«

Der sanfte Tadel schien sie zu verblüffen. »Oh, ich wünsche ihm nichts Böses. Ganz im Gegenteil. Ich bin nur – skeptisch.«

»Zweifelt Ihr an Alfred?« Dragon ergriff einen Brotlaib und brach ein Stück ab, das er ihr reichte. »Oder am Frieden?«

Darauf gab sie keine Antwort. Glaubte sie vielleicht, sie hätte schon zu viel gesagt?

Jedenfalls bot ihr der Eintopf einen willkommenen Vorwand, um das Thema zu wechseln. Sie kostete ihn und seufzte entzückt. »Offensichtlich ist Euer Freund ein Genie.«

Er lachte und dachte an den einäugigen Olaf, einen alten Wikinger, der sich zu den Brüdern Hakonson gesellt hatte, während sie um die Welt gesegelt waren. Danach hatte er ihren Aufstieg zur Macht miterlebt und ihnen stets zur Seite gestanden. Das Rezept für den Eintopf stammte von Olaf, was ihn mit berechtigtem Stolz erfüllte.

»Das werde ich ihm ausrichten«, versprach Dragon. »Versucht den Wein.«

Ehe sie protestieren konnte, füllte er einen Kelch. Vorsichtig nippte sie daran. Es war ein exzellenter Wein aus dem Land der Franken. Aber Dragon erwartete nicht, sie würde sich darüber wundern. Dass sie einem edlen Haus angehörte, hatte er bereits erraten. Also musste sie an solchen Luxus gewöhnt sein. Trotzdem wirkte sie leicht verwirrt.

»Sicher habt Ihr schon öfter einen ähnlichen Wein getrunken«, meinte er.

Bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Mahlzeit richtete, warf sie ihm einen kurzen Blick zu. »Er schmeckt recht gut.«

Schweigend aßen sie. Beide waren hungrig und würdigten den aromatischen Eintopf. Trotzdem spürten sie, was unausgesprochen blieb. Solange sie ihm verheimlichte, wer sie war, würde er nichts über sich selbst erzählen. Nie zuvor war ihm aufgefallen, wie wenig Gesprächsstoff ein solcher Entschluss übrig ließ. Hin und wieder erwog er eine Unterhaltung zu beginnen. Doch er besann sich jedes Mal eines Besseren. Die junge Frau sah immer noch müde aus, und ihr verbundener Kopf erinnerte ihn unentwegt an die Qualen, die sie ausgestanden hatte. Deshalb wollte er sie nicht bedrängen.

Nach der Mahlzeit stand er auf und räumte den Tisch ab. Die Sonne war beinahe hinter den westlichen Bergen verschwunden. Bald würde die Dunkelheit hereinbrechen. »Da drüben in der Truhe findet Ihr ein Nachthemd«, erklärte er.

Unsicher hob sie die Brauen. »Glaubt Ihr, die Besitzerin würde es billigen, wenn ich ihre Sachen benutze – selbst wenn sie so leichtsinnig ist, ihre Truhen unverschlossen zu lassen?«

»Sie ist keineswegs leichtsinnig, sondern sehr großzügig. Und es macht ihr gewiss nichts aus.«

»Wer ist sie?«

Diese Frage traf ihn unvorbereitet, und er hätte beinahe geantwortet. Gerade noch rechtzeitig hielt er sich zurück. »Wer seid Ihr?«

Die Stirn gerunzelt, wich sie seinem Blick aus. Dragon seufzte übertrieben laut und nahm den Topf vom Tisch. »Wenn Ihr ausgeruht seid, werdet Ihr mir hoffentlich bei den häuslichen Pflichten helfen.«

Da wandte sie so schnell den Kopf zu ihm, dass ihr seidiges kupferrotes Haar seinen Arm streifte. »Wieso nehmt Ihr an, ich würde lange genug hier bleiben?«

»Weil ich Euch für klug halte. Falls das nicht zutrifft, solltet Ihr wenigstens vernünftig genug sein, um zu erkennen, dass Ihr nicht weit kommen würdet.« Unheilvoll fügte er hinzu: »Wenn ich Euch noch einmal nachlaufen muss, werde ich die zweifellos ernsthaften Gründe für Eure Heimlichtuerei nicht mehr berücksichtigen und Euch sofort der Obrigkeit übergeben. Ist das klar?« Sie erblasste, aber er bezwang seine Schuldgefühle. Mit dieser Drohung diente er nicht nur seinem eigenen Seelenfrieden, sondern auch ihrem Wohl. Ihre geflüsterte Antwort war unverständlich, und er beugte sich zu ihr hinab: »Wie, bitte?«

Aus ihren Augen, jetzt auf gleicher Höhe mit seinen, schienen Funken zu sprühen. »Erst einmal müsstet Ihr mich einfangen«, wiederholte sie und betonte jede einzelne Silbe.

Ihre Verzweiflung war offenkundig. In etwas milderem Ton erwiderte er: »Das würde mir dank Eures jetzigen Zustands nicht schwer fallen. Vielleicht wäre es etwas mühsamer, wenn Ihr Euch erholt habt.«

Schon wieder begegnete er ihr sanft und freundlich, statt ihr die Herausforderung heimzuzahlen, was sie halb und halb erwartet hatte. Er ärgerte sich nicht einmal. Oh, es war so ungerecht. Wie ein schöner heidnischer Gott stand er vor ihr, reine Herzensgüte erfüllte ihn, und – Wunder über Wunder – er konnte kochen.

Solche Männer gab es nicht in Ryccas Welt. Zumindest hatte sie keine kennen gelernt.

War sie bei ihrem Sturz von der Klippe in ein anderes Land voller Glück und Seligkeiten geraten? Abgesehen von ihren Kopfschmerzen. Hätte sie bloß keinen Wein getrunken ... Nun fühlte sie sich etwas schwindlig.

»Lasst Euch helfen.« Der Gott ergriff ihren Arm, zog sie vom Stuhl hoch und führte sie zum Bett.

Zu diesem weichen, breiten Lager, offenbar für zwei Personen bestimmt ... Nie hätte sie gedacht, sie würde jemals ein Bett mit einem Mann teilen. Daran verschwendete sie auch jetzt keinen Gedanken. Heiliger Himmel, seine Nähe ... Behutsam umfasste er ihren Ellbogen. Bei dieser Berührung wurde ihr heiß und kalt. Wahrscheinlich litt sie an Schüttelfrost. Verständlich – nach diesem Tag ... Aber im Grunde war sie kerngesund wie die Pferde, die sie so liebte, und sie würde die Unpässlichkeit bald überwinden.

»Ich schlafe draußen«, verkündete er. »Wenn Ihr etwas braucht, ruft nach mir. Sicher werde ich Euch hören.«

Als diese Worte in ihr Bewusstsein drangen, empfand sie Erleichterung – keine Enttäuschung. So kühn war sie nicht, zumindest nicht in solchen Dingen. Dass sie das eine Gefühl beinahe mit dem anderen verwechselt hätte, musste an ihrem benebelten Gehirn liegen.

Nachdem er den Raum verlassen und die Tür leise hinter sich geschlossen hatte, saß sie eine Zeit lang auf der Bettkante. Das nahrhafte Essen spendete ihr neue Kraft, und sie hatte bereits länger geschlafen als üblich. Und so schaute sie sich wieder um. Dieser Raum faszinierte sie. Nie zuvor hatte sie ein Zimmer gesehen, das so deutlich den Einfluss einer Frau zeigte. In der Festung ihres Vaters gab es keine Spuren, die von weiblichem Geschmack zeugten. Falls sie jemals existiert hatten, waren sie mit dem Tod der Mutter verschwunden. Nach mehreren Fehlgeburten hatte die bleiche, schweigsame Frau im Kindbett den Tod gefunden, als Rycca acht Jahre alt gewesen war. Nichts hatte sie zurückgelassen – nichts außer einem Grab, nur von den Zwillingen regelmäßig besucht. Der Burg ihres Gemahls hatte sie keinen Stempel aufgedrückt, ebenso wenig wie andere Frauen. Dort verachtete man alles, was feminin wirkte, und hielt es für ein Zeichen von Schwäche.

Und hier wurde die Weiblichkeit nicht nur geduldet, sondern offensichtlich auch geachtet. Nachdenklich stand Rycca auf, ging zu den geschnitzten Truhen und hob den Deckel, unter dem sie die kostbaren Seifen gefunden hatte. Neben dem Tablett lag ein zusammengefaltetes Nachthemd.

Sie war immer nur nackt oder in rauer Wolle schlafen gegangen. Aber ein Hemd aus so feinem Leinen hatte sie noch nie gesehen. Impulsiv hob sie es hoch und roch daran. Der weiche Stoff duftete nach Sonnenschein und Rosen, und der Wunsch, etwas so Himmlisches zu tragen, überwältigte Rycca.

Als sie aus ihrer Tunika schlüpfen wollte, klopfte es an der Tür. Hastig legte sie das Nachthemd in die Truhe zurück. »Ja?«

Dragon betrat die Hütte, einen gefüllten ledernen Eimer in der Hand, den er auf den Tisch stellte. »Vielleicht braucht Ihr das. Vorsicht, das Wasser ist heiß. Wartet lieber, bis es etwas abkühlt.«

Verwundert nickte sie. Ein Krieger schöpfte Waschwasser aus einem Brunnen, erhitzte es, und er verwendete es nicht einmal für sich selbst, sondern brachte es einer Frau. Tatsächlich, sie musste in einer anderen Welt gelandet sein.

»Danke«, murmelte sie. Doch er war bereits hinausgegangen und schloss die Tür hinter sich.

Wenig später kroch sie unter die Bettdecken, von Kopf bis Fuß gewaschen, in dem feinen Leinenhemd. Trotz ihrer Erschöpfung hatte sie Ordnung gemacht. Jetzt lag sie auf einer weichen Matratze, unter federleichten Decken, und beobachtete, wie die sommerliche Abenddämmerung ins Dunkel der Nacht überging. Noch bevor sie einschlief, glaubte sie zu träumen.

Um Schlaf zu finden, brauchte Dragon viel länger. Auf einem Lager aus Kiefernnadeln ausgestreckt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, betrachtete er die Sterne. Aus reiner Gewohnheit suchte er die einzelnen Konstellationen und erinnerte sich an die damit verbundenen Geschichten. Doch dann schweiften seine Gedanken zu der rätselhaften Frau. Sie trug die Kleider eines jungen Burschen aus vornehmem Haus. Dazu passten auch ihr herausforderndes Benehmen und ihr Selbstbewusstsein. Doch sie hatte nie zuvor edlen Wein getrunken. Und jede noch so kleine höfliche Geste schien sie zu überraschen. War das typisch für englische Damen? Oder bildete sie eine Ausnahme? Wie sollte er das herausfinden?

Schließlich schlummerte er ein, denn der Tag war lang gewesen.

Mitten in der Nacht fuhr er aus dem Schlaf hoch, von einem schrillen Schrei aufgeschreckt, der das leise Summen sommerlicher Insekten unterbrach und einen streunenden Fuchs in seinen Bau zurückjagte. Sofort sprang Dragon auf und ergriff das Schwert, das neben ihm lag. Der Schrei war aus der Hütte gedrungen. Während er die Tür aufstieß, riss er die Klinge aus der Scheide. Wer immer hier eingedrungen war, würde innerhalb weniger Sekunden sein Leben aushauchen. Aber er sah nur die junge Frau. Keuchend saß sie auf dem Bett und starrte blicklos vor sich hin. Dann erschauerte sie, als versuchte sie die letzten Nebel ihres Schlafs zu verscheuchen – die Nachwirkungen eines bösen Traums.

Dragon ließ das Schwert fallen, setzte sich zu ihr und nahm sie in die Arme. Besänftigend wiegte er sie hin und her. »Alles ist gut, nichts wird Euch zustoßen. Hier seid Ihr in Sicherheit. Glaubt mir, Ihr habt nichts zu befürchten.«

Zitternd klammerte sie sich an ihn, presste den Kopf an seine Brust und schien Schutz vor der ganzen Welt zu suchen. Ein wildes Schluchzen erschütterte ihren Körper. Voller Sorge drückte er sie noch fester an sich. Hatte sie geträumt, sie wäre wieder von den Klippen in die Tiefe gestürzt? Ja, das war möglich. Nun musste er sie beruhigen. Eine Frau so unglücklich zu sehen, das ertrug er nicht. Vorsichtig legte er sich mit ihr aufs Bett.

Seine geflüsterten Trostworte hörte Rycca nicht. Aber sie spürte seine Hand, die ihr Haar streichelte. Seine Zärtlichkeit zerteilte den Nebel ihres Grauens, erreichte aber nicht die Frau, die er umarmte, sondern das kleine Mädchen, von qualvollen Erinnerungen gefangen.

So schreckliche Erinnerungen ... Aus brennenden Hütten stieg Rauch empor, überall lagen Leichen. Verzweifelte, schreiende Menschen rannten umher, strauchelten und stürzten ... Und Aelflynne ... Die liebe, süße Aelflynne, in Ryccas Alter, ebenfalls ein mutterloses Kind, die beste Freundin ... So oft waren sie ins Heu gekrochen, um mit Puppen zu spielen und Geheimnisse auszutauschen. Aelflynne ...

»Nein!«

Mit beiden Fäusten hämmerte sie gegen Dragons Brust. Tränen strömten über ihre bleichen Wangen. So wie in jener grässlichen Nacht stockte ihr Atem. Hustend und würgend hatte sie sich durch den Qualm zu ihrer Freundin gekämpft. Immer wieder war sie auf dem dunklen Blut ausgerutscht, das in der gierigen Erde versickerte. Und Aelflynne, bleich und reglos – weit aufgerissen hatten die Augen zum gnadenlosen Himmel hinaufgestarrt.

Genauso wie damals wollte Rycca sterben, einer Welt entrinnen, in der so entsetzliche Dinge geschahen. Doch dann mischte sich etwas anderes in die beklemmende Erinnerung – starke Arme und eine sanfte Stimme, die sie aus dem Abgrund der Verzweiflung zurückholten.

Er – der Held dieser merkwürdigen neuen Welt, in die sie unversehens geraten war. In seiner Nähe ließ das Grauen allmählich nach. Nur für ein paar Sekunden öffnete sie die Augen und begegnete seinem Blick, bevor sie in einen traumlosen, erholsamen Schlaf versank.

Erleichtert seufzte Dragon auf. Die bösen Träume waren entschwunden. Aber vielleicht würden sie zurückkehren. Deshalb durfte er die junge Frau nicht allein lassen. Er selbst konnte nicht einschlafen. Viel zu deutlich spürte er ihren weichen Körper durch ihr dünnes Nachthemd, und er wünschte ausnahmsweise, er wäre nicht so leidenschaftlich veranlagt. Nun, ich bin eben so, wie ich bin, dachte er wehmütig. Zum Glück nahm sie seine wachsende Erregung nicht wahr. Wenn sie erwachte, würde er ihr neues Entsetzen einjagen? Was sollte er dann tun? Mit Frauen, die ihm nicht wohlgesinnt waren, hatte er keine Erfahrungen gemacht. Diese junge Dame hatte nicht den Eindruck erweckt, sie würde für ihn schwärmen. Viel mehr glich sie einem kleinen Igel, der seine Stacheln in alle Richtungen spreizte.

Jetzt bewegte sie sich. Nein, keine Stacheln – sondern verlockende, warme Rundungen. Mühsam unterdrückte er ein Stöhnen und wappnete sich gegen eine lange, qualvolle Nacht.

Von einem tiefen Schlaf erfrischt, öffnete Rycca die Augen. Ihre Kopfschmerzen waren fast verflogen. Nur ihre Glieder fühlten sich immer noch ein wenig steif an. Aber auch davon spürte sie nichts mehr, nachdem sie sich ein paar Mal wohlig gestreckt hatte. Sie stieg aus dem Bett, zog vorsichtig das schöne Nachthemd über ihren Kopf und wusch sich mit dem Wasser im Eimer, der auf dem Tisch stand. Dabei erinnerte sie sich an ihren Traum. Über ihren Rücken rann ein Schauer. Doch sie fror nicht wirklich, denn die Luft war mild und das Wasser angenehm warm.

Längst müsste das Waschwasser vom vergangenen Abend erkaltet sein. Also hatte er diesen Eimer für sie erhitzt – bevor sie erwacht war.

Erst jetzt sah sie die Spuren zweier Körper im breiten Bett. Seite an Seite.

Als die Erinnerung zurückkehrte, vergaß sie das Wasser, das von ihrem Gesicht tropfte. Der Traum überraschte sie nicht, denn er suchte sie jedes Mal heim, wenn sie besonders müde oder verängstigt war oder Schmerzen erleiden musste. War er tatsächlich zu ihr gekommen, um sie zu trösten und in den Armen zu halten? Hatte er die Nacht bei ihr verbracht und sie beschützt und die Furcht verscheucht? Offensichtlich, denn das Grauen war erstaunlich schnell entschwunden ...

Allein schon das gute Essen und das heiße Wasser erschienen ihr ungewöhnlich. Dass er sie auch noch so zärtlich getröstet hatte ... Nein, unmöglich! Und doch – die Spuren im Bett bewiesen das Gegenteil. Spontan neigte sie sich hinab, legte eine Wange auf das glatte Leinen und atmete den Duft ein. Sonne – Wind – Meer – ein Flüstern, das von männlicher Leidenschaft und Kraft erzählte. Und ihr eigener Geist – kühn und stark und weiblich – gab eine instinktive Antwort.

Verwirrt wandte sie sich vom Bett ab und schlüpfte in ihre Männerkleider – eine willkommene Tarnung.

Der Stolz verbot ihr, in der Hütte zu bleiben. Entschlossen öffnete sie die Tür und trat in den Sonnenschein hinaus.

Dragon kauerte am Boden und schürte das Feuer. Bei ihrem Anblick stand er langsam auf. Wie gut sie aussieht, dachte er. Viel besser, als man das nach der nächtlichen Störung vermuten sollte. Beklommen wich sie seinem Blick aus, und er spürte ihre Verlegenheit. Keine der zahlreichen Frauen, die er kannte, waren peinlich berührt gewesen, wenn sie einfach nur sein Bett geteilt hatten. Es sei denn, sie hätten sich ihrer Keuschheit geschämt ... Aber die Wangen dieser jungen Frau glühten, und sie schaute überallhin, nur nicht in seine Richtung.

Belustigt verbarg er ein Lächeln und wandte sich wieder zum Feuer. »Wenn Ihr hungrig seid – hier ist Haferbrei.«

Nur zögernd kam sie näher. Aber sie wollte sein Angebot offenbar annehmen. Er füllte eine Holzschüssel mit Haferbrei, träufelte Honig darauf und fügte die Walderdbeeren hinzu, die er am Morgen gesammelt hatte.

Als er ihr die Schüssel und einen Löffel reichte, blinzelte sie erstaunt. »Noch ein Rezept von Eurem Freund?«

»Für Haferbrei braucht man kein Rezept.«

Wie ihre Miene verriet, dachte sie anders darüber. Aber sie schwieg und begann zu essen. Nach der ersten Kostprobe verschwand der Brei so schnell, dass sich Dragon unwillkürlich geschmeichelt fühlte.

»Da gibt’s noch mehr«, bemerkte er. Doch sie schüttelte den Kopf, und die Verlegenheit kehrte zurück.

»Letzte Nacht ...«

»Ihr hattet nur einen bösen Traum«, unterbrach er sie, um sie zu beruhigen. »Als ich Euch in die Arme genommen habe, Seid Ihr wieder eingeschlafen – sonst ist nichts geschehen.«

»Danke – das war sehr freundlich von Euch.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu.

»Seid Ihr nicht an freundliche Menschen gewöhnt? Irgendwie habe ich diesen Eindruck gewonnen.«

Sie trug die Schüssel zu einem Wassereimer, der in der Nähe des Feuers stand, und spülte sie aus. Dann kehrte sie zu Dragon zurück. Vielleicht hatte sie sich seine Bemerkung, sie würde ihm hoffentlich bei den häuslichen Pflichten helfen, zu Herzen genommen.

Oder sie wollte Zeit gewinnen, bevor sie seine Frage beantwortete. Fürchtete sie etwas zu verraten, das ihre Identität enthüllen könnte?

»Ich bin so, wie ich bin«, erwiderte sie schließlich und wiederholte unbewusst seine Gedanken, die letzte Nacht seinem eigenen Charakter gegolten hatten.

Sind wir uns ähnlich, fragte er sich verwundert. Ja, allem Anschein nach – abgesehen von den offensichtlichen Unterschieden zwischen Mann und Frau. Er spürte ihren Stolz und ihre Kraft, ihre Tapferkeit, lauter Tugenden, die er auch sich selber zuschrieb.

Plötzlich lächelte er, und sie hob die Brauen. »Was findet Ihr denn so komisch?«

»Gerade dachte ich, Ihr würdet einer Kriegerin gleichen. Der Legende nach gibt es solche Geschöpfe.«

»Nicht nur der Legende nach. Boudicca hat tatsächlich gelebt.«

Boudicca? Nachdenklich runzelte er die Stirn, dann entsann er sich – Boudicca, die keltische Königin, die gegen die Römer gekämpft hatte. Früher hatte er sie für eine Sagengestalt gehalten, bis er nach Byzanz gesegelt und eines Besseren belehrt worden war. Wenn er ein Angelsachse wäre, würde er über jene Königin ebenso gut Bescheid wissen wie die junge Frau. »Und die Amazonen?«

»Wer sind sie?«

»Vielleicht werde ich Euch von diesen Kriegerinnen erzählen. Was wollt Ihr heute unternehmen?«

Mit seiner Frage überrumpelte er Rycca, und sie gab ihm die erstbeste Antwort, die ihr einfiel: »Meine Reise fortsetzen ...«

Dragons Lächeln gefror zu einer Grimasse. »Wenigstens seid Ihr ehrlich.«

O ja, sie war ehrlich – gerade sie, die mit der Wahrheit so selbstverständlich umging wie andere Menschen mit ihrem Atem. Was das betraf, hatte sie keine Wahl. Aber dass auch er ihre angeborene Ehrlichkeit erkannte, überraschte sie. Plötzlich fühlte sie sich ihm noch enger verbunden als in der gemeinsamen Nacht.

Ohne Umschweife betonte sie: »Vor einigen Stunden hättet Ihr mit mir schlafen können, und ich wäre unfähig gewesen, Euch daran zu hindern. Das wissen wir beide. Trotzdem habt Ihr mich verschont, und deshalb frage ich – warum haltet Ihr mich hier fest?«

»Weil Ihr Euch durch meine Schuld verletzt habt. Das will ich wieder gutmachen. Erlaubt mir, Euch zu beschützen.«

»Ich werfe Euch nichts vor. Lasst mich gehen.«

Selbst wenn sie ihm den Unfall nicht anlastete – er fühlte sich für sie verantwortlich, und seine Sorge um ihre Sicherheit war echt. Wenn eine Frau ohne Begleitung durch die Welt wanderte, noch dazu eine bezaubernde Schönheit, würde sie ein zu gefährliches Wagnis auf sich nehmen. Aber nicht nur dieser Gedanke hinderte ihn daran, ihren Wunsch zu erfüllen. Obwohl sie ihm einige Schwierigkeiten bereitete, fühlte er sich unwiderstehlich zu ihr hingezogen.

Solche Emotionen durften einen vernünftigen Mann natürlich nicht beeinflussen. Ein Glück, dass ihm vor allem ihre Sicherheit wichtig war ... »Wohin wollt Ihr denn gehen?«, fragte er herausfordernd. »Zu Eurem Bruder, wo immer er auch sein mag? Wie werdet Ihr Euch denn ernähren, bis Ihr ihn findet? Ihr tragt keine Waffen bei Euch, also könnt Ihr nicht jagen. Und falls Ihr genug Geld besitzt, um Lebensmittel zu kaufen, habt Ihr’s gut versteckt.« Da sie nicht antwortete und ihn nur anstarrte, fuhr er eindringlich fort: »Gestern wärt Ihr fast gestorben. Bedeutet Euch Euer Leben so wenig, dass Ihr es leichtfertig aufs Spiel setzt – obwohl es nicht erforderlich ist?«

»Doch, es ist nötig. Hier kann ich nicht bleiben.«

»Sagt mir, wer Ihr seid, und ich bringe Euch zu Eurem Ziel.«

Rastlos trat sie von einem Fuß auf den anderen. »Versteht Ihr das denn nicht? Würde es meine Situation gestatten, meinen Namen zu nennen, hätte ich’s schon gestern getan.«

Dragon nickte. Gewiss, einem fremden Krieger traute sie nicht. Aber das war nicht der einzige Grund ihres Argwohns. Vermutlich hütete sie ein Geheimnis, das sie bewog, ihre Identität niemandem zu verraten. »Also gut, ich schlage Euch ein Abkommen vor. Bleibt ein paar Tage in dieser Hütte. Hier wird Euch nichts zustoßen. Wenn Ihr mir dann noch immer nicht mitteilen wollt, wer Ihr seid, bringe ich Euch, wohin Ihr wollt, ohne weitere Fragen zu stellen.«

Die Wahrheit.

Allmählich ließ die innere Anspannung nach, die Rycca seit dem Erwachen quälte. Was er sagte, meinte er ernst. Aus irgendwelchen Gründen wollte er ihr tatsächlich helfen. Und darauf war sie angewiesen. Sie befand sich in einer schrecklichen Lage, die Zukunft sah düster aus.

Ohne Hilfe würde sie die Küste vermutlich nicht erreichen – ganz zu schweigen von einem Schiff, das die Normandie ansteuerte. Trotzdem zögerte sie, denn der Krieger beeindruckte sie viel zu sehr. Gerade sie, die den Männern stets aus dem Weg gegangen war, konnte ihren Blick kaum von ihm losreißen. Sie hatte geglaubt, sie wäre nur eines einzigen Gefühls fähig – kalter Angst. Und jetzt entdeckte sie die Macht der Sehnsucht.

Ja, dieser sanfte, aufrichtige Mann führte sie in Versuchung, weckte Emotionen, die sie noch nie verspürt hatte, und eröffnete ihr eine völlig neue Welt. Wäre er einfach nur attraktiv, käme sie besser mit diesen ungewohnten Empfindungen zurecht. Aber seine innere Schönheit verwirrte sie vollends – oder bedrohte sie sogar.

Aber blieb ihr etwas anderes übrig, als sein Angebot anzunehmen? Nur ein paar Tage in seiner betörenden Gesellschaft, beschützt und umsorgt, ihr Geheimnis unangetastet — und er würde ihr helfen, an ihr Ziel zu gelangen, was sie allein sicher nicht schaffen würde. »Einverstanden, treffen wir diese Vereinbarung.« Sie streckte ihre schmale, sommerlich gebräunte etwas schwielige Hand aus, und er griff danach. Eine Zeit lang starrten sie sich selbstvergessen an, bevor sie die Finger voneinander lösten und zurücktraten.

»Nun frage ich Euch noch einmal ...« Dragon räusperte sich. »Was möchtet Ihr heute unternehmen?«

Etwas, das sie von den neuartigen Gefühlen ablenken würde, damit sie ihn nicht dauernd anschauen müsste ... Plötzlich durchzuckte sie ein beglückender Gedanke. »Da drüben im Stall stehen zwei prachtvolle Pferde.«

»In Eurem Zustand solltet Ihr nicht reiten«, erwiderte er so hastig und runzelte so unbehaglich die Stirn, dass sie sich fragte, ob er wirklich nur um ihr Wohl besorgt war.

»Sind das Eure Pferde?«

Widerstrebend nickte er.

»Nie zuvor habe ich schönere Hengste gesehen. Zweifellos seid Ihr sehr stolz auf die beiden.«

»Ja, sie sind recht tüchtig. Aber ein geruhsamer Spaziergang würde Euch besser bekommen.«

»Keineswegs! Inzwischen habe ich mich zur Genüge erholt. Falls Ihr befürchtet, ich würde einem der Füchse Schaden zufügen, lasst Euch versichern – ich bin eine ausgezeichnete Reiterin. Bitte, haltet mich nicht für unbescheiden, weil ich so etwas betone. Ich liebe Pferde. Und das scheinen sie zu spüren.«

Skeptisch musterte er ihr Gesicht. »Könnt Ihr tatsächlich gut mit ihnen umgehen?«

»O ja. Wenn Ihr mir vertrauen würdet, will ich’s Euch beweisen.«

Über seinen Topasaugen hoben sich dunkle Brauen. »Vertrauen? Ich dachte, daran mangelt es in unserer Bekanntschaft.«

Natürlich, dachte sie bedrückt. Nun wird er mir meine Heimlichtuerei vorwerfen ... Jetzt musste sie die Hoffnung aufgeben, schnell wie der Wind auf einem dieser herrlichen Geschöpfe dahinzureiten, die sie fast ebenso faszinierten wie er.

»Also gut.«

Was hatte er gesagt? Ihre Augen leuchteten auf. »Erfüllt Ihr meinen Wunsch?«

Er nickte, wenn er auch nicht allzu glücklich wirkte. »Irgendwo muss das Vertrauen beginnen. Deshalb vertraue ich Euch eines meiner Pferde an. Das andere werde ich selbst reiten – und an Eurer Seite bleiben. Lasst Euch bloß nicht einfallen, davonzugaloppieren ...«

»Niemals!« Dieser Gedanke war ihr zwar durch den Sinn gegangen, aber mittlerweile hatte sie ihn als albern verworfen. Das würde sie natürlich nicht zugeben.

Oh, wie wundervoll ... Er erlaubte ihr wirklich und wahrhaftig, eines dieser hinreißenden Pferde zu reiten. Von Schwindel erregender Freude erfasst, seufzte sie tief auf. Beinahe hätte sie sich vor lauter Dankbarkeit an seine Brust geworfen. Zum Glück beherrschte sie sich gerade noch rechtzeitig. Die Erkenntnis, wie knapp sie dieser Gefahr entronnen war, beschleunigte ihren Puls. Sicher nicht seine Nähe, die hing nicht damit zusammen.

Ehe er sich anders besinnen konnte, eilte sie zum Stall und rief über die Schulter: »Ich werde auch Euer Pferd satteln, Ihr müsst gar nichts tun!«

Welch eine überschwängliche Begeisterung ... Diese zauberhafte Frau hatte ihm ihr Knie zwischen die Beine gerammt, weigerte sich ihren Namen zu kennen, liebte diese geifernden vierbeinigen Dummköpfe, die dauernd nach Äpfeln gierten und ständig gestriegelt werden wollten. Was führten die Götter im Schilde? Spielte Loki ihm einen Streich, um ihn mit seinem Schicksal zu versöhnen – vielleicht sogar, um ihm klar zu machen, er müsste froh darüber sein? Das traute Dragon diesem boshaften Gott durchaus zu – und noch schlimmere Dinge. Wäre es ratsam, Loki eine wohlgenährte Ziege zu opfern? Zumindest würde es nicht schaden.

Resignierend folgte er der jungen Frau und half ihr, die schweren Sättel auf die Rücken der beiden Hengste zu legen. Da schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln, das ihm den Atem raubte. Während er sich davon erholte, führte sie die Füchse aus dem Stall.

»Wie heißen die beiden?«, fragte sie.

Dragon überlegte blitzschnell. Die norwegischen Namen der Hengste würde er nicht verraten. Weil er ebenso gut Englisch sprach wie sie selbst, hielt sie ihn für einen Angelsachsen. Dabei wollte er es bewenden lassen – wenigstens eine Gemeinsamkeit, die sie verband. »Romulus und Remus«, erklärte er.

»Was für seltsame Namen ... Wie seid Ihr darauf gekommen?«

»Ebenso wie die zwei Männer, die Rom angeblich gegründet haben, sind sie Brüder.«

Sie reichte ihm die Zügel eines Pferdes, und ehe er wusste, wie ihm geschah, hatte sie sich auf den Rücken des anderen geschwungen, das sie um einiges überragte. Trotzdem war sie ohne Hilfe aufgestiegen. Ein eindeutiger Beweis für ihre Reitkunst. Offenbar bemerkte sie seine Überraschung, denn sie lächelte wieder. »Wie heißt dieser Fuchs?«

»Romulus.« Fest entschlossen, sich nicht von einem Mädchen übertrumpfen zu lassen, sprang Dragon geschmeidig in den Sattel. Der umgetaufte Remus scheute ein wenig, das verflixte Biest, beruhigte sich aber sofort.

»Vom alten Rom habe ich gehört, aber ich weiß nicht viel darüber«, gestand sie. »Sicher seid Ihr besser im Bilde.«

»Nun, vielleicht. Was würde Euch denn interessieren?«

»Alles, was Ihr mir erzählen wollt.«

Ein geborener Skalde, konnte er nicht widerstehen, und er wünschte, er hätte öfter ein so unkritisches, enthusiastisches Publikum.

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