Читать книгу Insel meines Herzens - Josie Litton - Страница 4

Kapitel 1

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Allzu willig gab sie sich nicht hin. In langen Nächten und gestohlenen Tagen erforschte er ganz allmählich ihre Gestalt, die kleinsten exquisiten Einzelheiten, die ihn bezauberten – auch später noch, als er sie genauer kannte: die zarte Halsgrube, die Wölbungen der vollen, hoch angesetzten Brüste, der Schatten einer Vertiefung, die sich zwischen den Rippen zum Nabel hinabzog – und so viel mehr.

Ihre Hände und Füße faszinierten ihn ebenso wie die intimeren Körperteile. Schmal und anmutig eigneten sich ihre Hände für schwierige Aufgaben, die äußerste Präzision verlangten. Und ihre Füße wirkten täuschend zerbrechlich. Manchmal drehte er sie herum und bewunderte den kraftvollen, schlanken Rücken, der sich zur Taille hin verengte, bevor er in schön geschwungenen Linien die Hüften markierte. Ihre Hinterbacken, rund und fest und muskulös, wiesen zwei Grübchen auf, die ihm immer wieder ein Lächeln entlockten. Ob sie die beiden jemals bemerkt hatte, wusste er nicht.

Niemals würde er den Fehler begehen, sich einzubilden, er hätte sie seiner Macht unterworfen. Ihr Gesicht forderte ihn heraus. Nicht einmal jetzt kannte er es gut genug. Der Mund erschien ihm zu mutwillig, um einen bestimmten Ausdruck anzunehmen, die Augen hüteten Geheimnisse.

Und als würde dies alles noch nicht genügen – die Frau, die Atreus in Händen hielt, die er so sorgfältig aus rosig schimmerndem Marmor gemeißelt hatte, war viel zu lange namenlos gewesen.

Jetzt gibt es einen Namen, dachte er und legte die Statue behutsam in eine längliche, mit Samt ausgekleidete, eigens für die Beförderung hergestellte Kassette. Sie sollte in der letzten der Truhen liegen, die man aus seiner Kabine tragen würde. Nach zwei Wochen auf dem Meer – ein Sturm hatte sich vor der Küste Großbritanniens zusammengebraut und die Reise verlängert – änderte sich der Rhythmus des Schiffs, als es die Themse erreichte. Die Flut schwoll an, hob den breiten Fluss und die Seefahrer empor. Mit jedem Tag, den sie weiter nach Norden gesegelt waren, hatte die feuchte Kälte des frühen Winters zugenommen. Und nun milderte sie sich ein wenig, während Atreus und sein Gefolge von dicht bewaldeten Ufern umarmt wurden. Trotzdem hatte er nie zuvor eine so frostige Luft gespürt. Zudem wehte sie fremdartige Gerüche heran – keine unangenehmen Aromen. Aber sie weckten Gedanken an die über tausend Meilen, die ihn von seiner Heimat trennten.

Welch eine große Entfernung... Doch er hatte bereits eine weitere Reise hinter sich, nicht in dieser Welt, sondern auf dem Weg zur nächsten. Vor sechs Monaten war er dem Tod sehr nahe gewesen, in einem Chaos aus Verrat und Gewalt. Die Erinnerung blieb bestehen – nicht in seinem vollends genesenen Körper, nur in seinem Geist, wo sie einen längst gefassten Entschluss stählte und seine Ungeduld schürte. Erst wenn der Zweck dieser Fahrt erfüllt war, konnte er sich in die Richtung wenden, die er einschlagen musste.

»Das letzte Gepäckstück, Castor«, erklärte er und überreichte seinem Kammerdiener, der neben den gepackten Truhen wartete, die kleine hölzerne Kassette.

»Sehr wohl, Vanax. Vermutlich wird unser Schiff bald anlegen.«

»Dann ist es gut, dass ich angekleidet bin.« Atreus schaute an sich hinab und unterdrückte ein Lächeln. »Das bin ich doch, nicht wahr?«

Aufmerksam musterte Castor seinen Herrn. »Ja, ich denke schon, Vanax. Zumindest wurden Prinz Alexandros Anordnungen befolgt, und alles scheint sich da zu befinden, wo es sein muss.«

Atreus nickte. Von seinem Halbbruder, einem halben Engländer, hatte er diese Kleidungsstücke erhalten und erfahren, wie man sie tragen musste. Was Alex’ Fachkenntnisse in solchen Dingen betraf, hegte der Vanax keine Zweifel, wenn er auch überlegte, warum man so viel umständliche Arbeit darauf verwandte, sich anzuziehen.

Entgegen seiner Gewohnheit trug er eine Unterhose aus Leinen, die von der Taille bis zu den Knien reichte; Leinenstrümpfe; glänzende, kurze schwarze Lederstiefel; eine eng sitzende Hose aus fein gewobener Wolle, dunkelbraun gefärbt; ein weißes Leinenhemd mit gestärkten Manschetten an den Handgelenken und einem ebenfalls gestärkten spitzen Kragen, von der Krawatte umwunden, die er mühsam zu knoten gelernt hatte; eine hellbraune Weste mit gleichfalls hohen Kragen und dezenter Stickerei aus dunklen Goldfäden; ein dunkelbraunes Jackett mit abgerundeten Vorderschößen vervollständigte den Aufzug.

Allein schon die Menge und die Vielfalt der Kleidungsstücke verblüfften ihn. Sicher konnte man sich auf einfachere Weise vor der winterlichen Kälte schützen. Aber jetzt wurde er von wesentlich mehr Stoff umhüllt als je zuvor in seinem Leben. Absurderweise kam er sich wie eines der mehrfach eingewickelten Pakete vor, die freudestrahlende Kinder an ihren Namenstagen bekamen.

»So schlimm ist es nicht, Vanax«, meinte Castor, sichtlich dankbar, weil ihm ähnliche Qualen erspart wurden. Um seinen Herrn zu trösten, fügte er hinzu: »Im Lauf unserer kriegerischen Ausbildung lernen wir, unsere äußere Erscheinung der jeweiligen Landschaft anzupassen, um uns zu tarnen. Vielleicht fühlen Sie sich besser, wenn Sie Ihre derzeitige Kleidung aus diesem Blickwinkel betrachten.«

»Gewiss, das wäre möglich. Danke, Castor. In ein paar Minuten gehe ich an Deck.«

Nachdem sich der Kammerdiener entfernt hatte, trat Atreus in die Mitte der Kabine und verharrte unbewegt. Hoch gewachsen und breitschultrig, von der geschmeidigen Kraft eines Kriegers erfüllt, pflegte er körperliche Aktivitäten dem Müßiggang vorzuziehen. Und doch – es gab Momente...

Gleichmäßig atmete er ein und aus, die dunkelbraunen Augen mit den goldenen Glanzlichtern geschlossen. Die Fähigkeit, sich von den Ablenkungen der Welt zu lösen, verdankte er jahrelanger Übung. In der Kindheit war er einem Weg gefolgt, den er nur undeutlich gesehen hatte, später etwas klarer, während der von Castor erwähnten Ausbildung. Und schließlich hatte er, zum Mann herangereift, die Geschenke der Erneuerung und des vertieften Verständnisses erkannt, die in der Stille lagen.

»Komm zurück...« Leise und angstvoll klang die Stimme, von Tränen fast erstickt. Er wollte antworten. Aber er konnte es nicht. Sein Körper gehorchte seinem Willen nicht mehr, der sich davon getrennt hatte. Nun trieb sein Geist mit einer Strömung dahin, immer weiter weg.

»Verlassen Sie uns nicht.« In Gedanken runzelte er die Stirn. Verlass du mich nicht, wollte er die Frau bitten. Warum sollte sie auch? Er wusste es nicht.

»Verdammt, Deilos!« Irgendwann tauchte er wieder empor in den Schmerz, der ihm verriet, er würde noch leben. Seine Qual – und die Wut der Frau über den Mann, der ihm dies angetan hatte. Deilos. Nicht mehr der Freund aus Kindertagen, sondern ein Gefährte, aus dem ein mörderischer Verräter geworden war.

Deilos, der seine gerechte Strafe erhalten musste.

Sie roch nach Geißblatt, dieser Duft und der Gedanke an ihre seidenweiche Haut entzückten ihn. Wieder einmal holte er tief Atem, und da fühlte er...

... wie das Schiff sanft gegen das Dock stieß. Die Vergangenheit glitt davon. Doch die Erinnerungen umhüllten Atreus – unentrinnbar.

Ein letztes Mal schaute er sich in der Kabine um, dann ging er hinaus und stieg die schmale Treppe zum Deck hinauf, wo sich seine Männer versammelt hatten – ebenfalls fremdländisch gekleidet, aber in einer schlichteren, eher praktischen Version. Die Augen hellwach, die Hände an den Griffen ihrer Schwerter, die keineswegs einem zeremoniellen Zweck dienten, machten sie ihm Platz. Vom steinernen Kai drang ohrenbetäubender Lärm heran, der dröhnende Tumult gewaltiger Menschenmassen, die sich am Hafen und in den schmalen Straßen tummelten. Aufgeregt stemmten sie sich gegen eine Barriere aus karmesinrot uniformierten Soldaten. Eine Musikkapelle spielte eine lebhafte Melodie, mit Trommelgetöse und klirrenden Beckenschlägen, wurde jedoch von schrillem Jubelgeschrei übertönt, sobald der Vanax an der Reling erschien.

Verwundert hielt er inne und beobachtete das Getümmel, die sichtliche Begeisterung dieser Leute über die Ankunft eines Mannes, den sie nicht kannten, der ihnen unmöglich etwas bedeuten konnte – außer einer amüsanten Sensation. Obwohl er diese Neugier und den Überschwang irgendwie verstand, fand er beides erstaunlich. In der Heimat seines Herzens pflegte man Emotionen nicht so offen zu zeigen.

Plötzlich entdeckte er inmitten der anonymen Menge vertraute Gesichter, und heiße Freude erfasste ihn. So eigenartig ihm dieses Land auch vorkam, das er aufgesucht hatte – es bot ihm eine Wiedervereinigung mit geliebten Menschen.

»Atreus, Atreus, hier sind wir!«, rief Prinzessin Kassandra. Trotz seiner Absicht, einen möglichst würdevollen Eindruck zu erwecken, musste er beim Anblick seiner Halbschwester lächeln. Erst seit einigen Monaten verheiratet, liebte sie den großen, blonden Mann an ihrer Seite innig und leidenschaftlich. Diese Gefühle erwiderte er mit gleicher Glut. Vor lauter Glück strahlte sie übers ganze Gesicht.

Nachdem Atreus’ Männer am Fuß der Laufplanke eine Ehrenwache gebildet hatten, ging er an ihnen vorbei, wurde von seinem Halbbruder umarmt und beinahe zerquetscht. Grinsend schlug ihm Alex auf die Schulter, so kraftvoll, dass ein schwächerer Mann vermutlich zusammengebrochen wäre.

»Großartig!«, scherzte der Prinz. »Kaum kreuzt du auf, und schon bist du der populärste Mann von London. Damit hätte ich rechnen müssen.«

»Und du hättest mich warnen können«, ergänzte Atreus trocken. »Eigentlich war ich auf eine eher familiäre Begegnung eingestimmt.«

»Wenn der Vanax von Akora zu seinem ersten offiziellen Besuch in England eintrifft? Das durftest du wohl kaum erhoffen. Willkommen, mein Bruder, ich freue mich, dich wiederzusehen.«

»Oh, das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite.« Die Arme ausgebreitet, wandte sich Atreus zu der jungen Frau, die vor Begeisterung beinahe auf und ab hüpfte. »Kassandra, liebste Schwester!«

Ungestüm fiel sie ihm um den Hals. »Joanna ist so traurig, weil sie sich nicht zum Empfangskomitee gesellen konnte. Aber Amelia hat gehustet. Deshalb musste ihre Mutter bei ihr bleiben. Keine Bange, inzwischen geht es deiner kleinen Nichte schon viel besser.«

»Wir haben den strengen Befehl erhalten, dich unverzüglich nach Hause zu bringen, Atreus«, erklärte Alex mit der gutmütigen Toleranz eines zufriedenen Ehemanns. »Natürlich kann es Joanna kaum erwarten, dich zu begrüßen.«

»Auch ich möchte deine Gemahlin möglichst bald in die Arme schließen.« Nun richtete Atreus seinen Blick auf den Mann, der etwas abseits stand. Kassandras offenkundiges Glück gebot dem Vanax, seinem englischen Schwager, Lord Hawkforte, voller Wohlwollen gegenüberzutreten. Doch er hatte den Mann auch auf dem Exerzierplatz und bei einigen Karaffen Wein unter die Lupe genommen, und Royce hatte ihm keine einzige Enttäuschung bereitet. »Wie schön, dich wiederzusehen.«

»Ganz meinerseits, Sire.«

Kaum merklich zuckte der Vanax von Akora, der hochverehrte Herrscher seines Volkes, zusammen. »Sire? Müssen wir uns den Formalitäten schon so kurz nach meiner Ankunft beugen? Ehrlich gesagt, ich hatte gehofft, dies ließe sich noch für eine kleine Weile vermeiden.«

»Leider nicht.« Royce lenkte Atreus’ Aufmerksamkeit auf einen großen, kräftig gebauten Mann, der das Wiedersehen interessiert beobachtet hatte. »Da der Prinzregent indisponiert ist, lässt er sich zu seinem tiefsten Bedauern entschuldigen. An seiner Stelle hat uns Lord Liverpool begleitet, der Premierminister.«

Forschend betrachtete Atreus den Mann, der diese hohe Position übernommen hatte, nachdem sein Vorgänger im Frühling dieses Jahres ermordet worden war. Liverpool schien seinem Leumund zu entsprechen – ein solider, fantasieloser, schwerfälliger, aber verlässlicher Brite.

Weil der Vanax solchen Männern begegnen wollte, war er hierher gereist. Um sie zu beeindrucken, zu überzeugen, zu verstehen? Gewiss, dies alles traf zu. Aber es steckte noch viel mehr dahinter. Dank der neuen Maschinen und Fabriken, die sich im ganzen Land ausbreiteten und die Wirtschaft ankurbelten, erlangte Großbritannien ungeheure Macht und Reichtum, beispiellos in seiner Geschichte. Im Krieg mit Napoleon und den einstigen amerikanischen Kolonien wurde die englische Monarchie auch noch innenpolitischen Herausforderungen ausgesetzt, die anderen Nationen blutige Revolutionen aufgebürdet hatten. Und so folgte England zielstrebig seinem Weg in die Zukunft, gleichgültig gegenüber allen Interessen außer den eigenen.

Einer solchen Entschlossenheit musste man bewundernd, aber auch mit äußerster Vorsicht begegnen. Höflich neigte Atreus den Kopf. »Lord Liverpool, ich habe mich darauf gefreut, Sie kennen zu lernen.«

Auch der Premierminister nickte ehrerbietig. »Sire, Sie sind uns höchst willkommen. Nicht nur Seine Hoheit, der Prinzregent, sondern sein gesamtes Kabinett hat Ihrer Ankunft entgegengefiebert.«

»Ebenso wie ich, Lord Liverpool. Abgesehen von anderen Beweggründen, möchte ich herausfinden, was einige Mitglieder meiner Familie veranlasst, teilweise hier zu leben. Hoffentlich verzeihen Sie mir, wenn ich mir die Bemerkung erlaube, dass Englands Anziehungskraft nicht mit dem Klima zusammenhängen kann.«

Der Premierminister lachte etwas unsicher, was Atreus zufrieden registrierte. Meistens lohnte es sich, seine Feinde – potenzielle und tatsächliche – aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wäre er nicht von Kassandra abgelenkt worden, hätte er noch einmal in dieselbe Kerbe geschlagen.

»Sicher erinnerst du dich an Brianna, nicht wahr, Atreus?« Seine Schwester zog ein großes, schlankes Mädchen von Anfang zwanzig an ihre Seite.

Im seidigen Haar der jungen Frau erkannte er jene rötliche Schattierung wieder, die der Maler Tizian geliebt hatte – die tiefe Leidenschaft und zugleich mädchenhafte Scheu ausdrückte. Die Wangen schimmerten milchweiß, in den hellgrünen Augen leuchteten goldene Pünktchen.

Und die beiden Grübchen, die sich unter der schlichten, eleganten Kleidung verbargen...?

»Schön wie eh und je, Brianna.« Weil der Vanax von Akora keinen Grund sah, seine Gedanken zu verschweigen, fügte er hinzu: »Viel zu lange sind Sie uns ferngeblieben.«

Errötend senkte sie die Wimpern. Aber dann erwiderte sie seinen Blick. »Es beglückt mich, Sie so gesund und munter zu sehen, Sire.«

Genauso hatte die Stimme geklungen, an die er sich erinnerte. Leise und sanft – und zugleich von innerer Kraft erfüllt. Jetzt sprachen sie Englisch. Wie er sich entsann, schwang in ihrem Akoranisch ein ganz leichter, sehr charmanter Akzent mit. Und sie duftete immer noch nach Geißblatt.

»Da drüben stehen die Kutschen.« Alex hob ein wenig die Brauen, was Atreus lächelnd bemerkte. Sein Verhalten musste dem Bruder seltsam erscheinen. Bald würde er die Hintergründe begreifen.

Aus einem Impuls heraus winkte Atreus in die Menge. Damit entfachte er neuen Jubel, der nur geringfügig nachließ, als er in einen Wagen stieg.

Wie es das Protokoll erforderte, fuhr er mit Lord Liverpool durch die Straßen der Stadt. Während Alex die beiden begleitete, saß Royce mit den Damen in der anderen Kutsche. Zum Glück fühlte sich der Premierminister nicht zu belangloser Konversation bemüßigt, oder er hatte einfach nichts zu sagen. So konnte sich Atreus auf London konzentrieren, das ihn einerseits erschreckte und andererseits erstaunte.

Hier wimmelte es von menschlichem und tierischem Leben, in enge Gassen gezwängt oder auf schönen breiten Avenuen verstreut. Trotz der eher kurzen Fahrt gewann er einen umfassenden Eindruck. Neben bedrückender Armut, die sein bisheriges Vorstellungsvermögen überstieg, sah er unermesslichen Reichtum und grandiosen Glanz, der mit den Göttern zu wetteifern schien. Eine Stadt voller Gegensätze, dachte er, ein Spiegelbild der Menschen, die sie erbaut haben... Darauf musste er sich besinnen, wenn er mit den Briten verhandelte.

Natürlich würde er das tun, denn er erfüllte stets seine Pflichten. Doch das würde ihn nicht daran hindern, seine Gedanken in angenehmere, privatere Bahnen zu lenken.

Würden ihre Hände nicht so heftig zittern, wäre alles in Ordnung. Nur die Hände, sonst nichts. Diese Schwierigkeit müsste sie eigentlich meistern.

Während Brianna gegenüber von Royce und Kassandra im Wagen saß, zwang sie sich, ruhig und gelassen zu wirken. Ihre wahren Gefühle konnte sie nicht bekämpfen. Also musste der äußere Schein genügen.

Er war hier. Seit Monaten wusste sie, wann Atreus in London eintreffen würde, und sie hatte die Vorbereitungen auf seine Ankunft beobachtet. Der Vanax von Akora, der erwählte Herrscher seines Volkes, würde dem königlichen Hof des Prinzregenten einen Staatsbesuch abstatten. Dabei sollten Besprechungen zwischen führenden Persönlichkeiten einem besseren gegenseitigen Verständnis und freundschaftlichen Kontakten dienen. Im vergangenen Jahr hatte der Versuch einiger Engländer, eine Invasion Akoras zu provozieren, beträchtliche Probleme heraufbeschworen. Die wollte man nun lösen. Oh ja, alles war so, wie es sein sollte.

Aber nun war Atreus hier. Und Briannas Hände bebten. Die Finger fest ineinander geschlungen, bemühte sie sich, die Gefühle zu bewältigen, die sie seit der Begegnung im Hafen durchströmten. Als sie ihn zuletzt gesehen hatte, war er immer noch von jenem fast tödlichen Angriff gezeichnet gewesen. Schon damals, fern vom Gipfel seiner Macht, hatte er ihre Seele bis ins Innere aufgewühlt. Selbstverständlich wusste er das nicht. Oder doch? Allein schon der Gedanke an diese Möglichkeit stieg ihr schwindelerregend zu Kopf. Und das beunruhigte sie, weil sie normalerweise nicht zu zimperlichem Schmachten neigte.

»Alles in Ordnung, Brianna?« Besorgt beugte sich Kassandra zu ihr vor. »Du bist ziemlich blass.«

»Oh, mir fehlt gar nichts. Was sollte mich auch bekümmern?«

Der Blick, den das Ehepaar wechselte, entging ihr nicht. Zweifellos hatte sie zu leise und unüberlegt gesprochen. Am liebsten hätte sie die hastigen Worte zurückgenommen. Gleichzeitig bewunderte sie wieder einmal den stillschweigenden Einklang zwischen den beiden Menschen, die ihre Freunde geworden waren. Wie sie sich eingestand, empfand sie auch einen gewissen Neid.

»Erfreulich, dass Atreus so gut aussieht...«, bemerkte Royce leichthin.

»Sehr gut«, pflichtete Kassandra ihm bei, »zu meiner maßlosen Erleichterung. Wenn ich mir vorstelle, wie nahe er...«

»Denk nicht daran«, wurde sie von ihrem Ehemann unterbrochen. Zärtlich berührte er ihre Hand. »Das alles gehört der Vergangenheit an, und du darfst dich nicht damit belasten. Sonst schadest du unserem Baby.«

Kassandra erwiderte sein Lächeln. In den ersten Monaten ihrer Schwangerschaft genoss sie ihr ungetrübtes Glück, vor allem, seit sie aufgehört hatte, jeden Tag mit dünnem Tee und getrocknetem Zwieback zu beginnen. »Ich weiß, Atreus Besuch soll einen ernsthaften Zweck erfüllen. Trotzdem hoffe ich, er wird angenehme Zeiten bei uns verbringen. So selten findet er eine Gelegenheit, etwas anderes zu tun als zu arbeiten. Als liebevolle Schwester fügte sie hinzu: »Manchmal glaube ich, er würde ein anderes Leben vorziehen.«

»Damals wurde er nicht gezwungen, den Thron des Vanax zu besteigen«, wandte Brianna in sachlichem Ton ein und wünschte, ihr Herz würde ebenso ruhig pochen und ihrem Gehirn den Sieg gewähren. Wenigstens ihr Verstand würde sie niemals im Stich lassen. »Er hat sich dem Ritus der Wahl freiwillig unterzogen.«

»Ja, das ist wahr«, bestätigte Kassandra, »wenn man es oberflächlich betrachtet. Doch ich glaube, in Wirklichkeit hatte er keine Wahl. Er kannte seine Berufung.«

Tatsächlich? Da war sich Brianna nicht sicher. Vielleicht hatte Atreus etwas geahnt oder empfunden. Doch sie betrachtete die mysteriöse Prozedur, nach dem die akoranischen Herrscher gewählt wurden, eher skeptisch. Dies alles verbarg sich in Legenden und Mythen, umhüllt von Geheimnissen und gewisperten Andeutungen. Jener unergründlichen Tiefe entströmte eine ungeheure Macht, die das Leben oder Schicksal jedes einzelnen Akoraners zu kontrollieren schien. Und doch wusste fast niemand darüber Bescheid.

»Wir müssen ihm helfen, ein bisschen Muße zu finden«, entschied Kassandra, »obwohl es uns schwer fallen wird. Mittlerweile haben es Joanna und ich aufgegeben, die Einladungen zu zählen. Tag für Tag treffen sie stapelweise ein.«

»Ja, die Londoner Gesellschaft ist ganz aus dem Häuschen«, meinte Royce trocken. »Wahrscheinlich hat Atreus nicht die leiseste Ahnung, was ihn erwartet...«

»Bald wird er’s merken«, entgegnete Kassandra und runzelte die Stirn. »Morgen Abend muss er den Empfang im Carlton House besuchen. Und danach werden sich alle um ihn reißen.« Als ihr ein neuer Gedanke durch den Sinn ging, erhellte sich ihre Miene. »Übrigens, Brianna, dein Kleid für morgen ist zauberhaft, Madame Duprès hat sich selbst übertroffen.«

Unwillkürlich erschauerte Brianna ein wenig. Sie war den beiden Ehepaaren, die ihr den Aufenthalt in England ermöglichten, von ganzem Herzen dankbar. Hier hatte sie das Licht der Welt erblickt, aber bis zu ihrer Ankunft in London, am Anfang dieses Jahres, wie eine Akoranerin gedacht und gefühlt. Und dann hatten sich neue Fragen gestellt, eine unerwartete Sehnsucht war erwacht und drängte sie, eine Antwort zu suchen, den inneren Zwiespalt zu beenden. Doch sie passte sich nur mühsam der englischen Gesellschaft an. Für deren eigenartige Forderungen fehlte ihr die Geduld. Trotzdem wollte sie weder sich selbst noch ihre Gastgeber enttäuschen.

»Madame Duprès ist eine Tyrannin«, behauptete sie, »aber ein Genie, sobald es um Seide und Satin, Samt und Spitze geht. Deshalb müssen wir ihr wohl oder übel einiges zubilligen.«

»Stimmt es, dass du sie mit ihrer eigenen Nadel gestochen hast?«, fragte Kassandra.

In gespielter Unschuld zog Brianna die Brauen hoch. »Da musst du die Nadel fragen.«

Obwohl Royce lachte, fiel ihr sein prüfender Blick auf. Diesem Engländer entging fast nichts. Ebenso wie Alex war er groß und kräftig, in bester körperlicher Verfassung, beide erreichten ihre Ziele, ohne viel zu diskutieren oder irgendjemanden unter Druck zu setzen.

Und Atreus...

Der Vanax, der ihr Volk beherrschte und – so widerstrebend sie das auch zugab – sie selbst... Aus einem anderen Blickwinkel durfte sie ihn nicht betrachten, trotz der verräterischen Regungen in ihrem Herzen. Stünde er neben den zwei anderen Männern, würden sie alle wie Brüder erscheinen, so sehr glichen sie einander in ihrer Größe und Stärke. Genau genommen waren Atreus und Alex Halbbrüder. In ihren Adern floss das Blut einer akoranischen Prinzessin. Nur Atreus stammte auch von einem akoranischen Vater ab, der Spross einer Familie, die ihr Erbe durch mindestens dreitausend Jahre stolzer akoranischer Geschichte zurückverfolgen konnte. Falls Brianna den Legenden glaubte – was nicht zutraf –, vereinte ihn zudem ein unsichtbares Band mit dem Land, dem Meer, der akoranischen Luft auf eine Art und Weise, die das Verständnis gewöhnlicher Sterblicher überstieg.

Kein Wunder, dass sein Wort als Gesetz galt, dass man seine geringfügigsten Launen ehrfürchtig berücksichtigte... Das, was Brianna für ihre gesunde britische Vernunft hielt, begann dies alles zu verachten.

Nun fuhren die Kutschen durch das Tor der Mayfair-Residenz, die sie zusammen mit Alex und seiner Gemahlin Joanna bewohnte. Kassandra und Royce stand stets ein Gästezimmer zur Verfügung, das sie derzeit nutzten. Für die Dauer seines Aufenthalts in London würde auch der Vanax hier einziehen. Um das zu bekunden, flatterte das königliche Banner Akoras über den breiten Marmorstufen.

Brianna stieg aus dem Wagen und schaute zu der feurig roten Stoffbahn mit dem vergoldeten Symbol der Stierhörner hinauf, dem Emblem des königlichen Hauses der Atreiden. Fast ihr ganzes Leben lang, Tag für Tag, hatte sie diese Flagge gesehen. Seit das verwaiste Kind von einem gewaltigen Sturm aus einem Schiffswrack zu den mythischen Küsten Akoras getrieben worden war... Angeblich regierten Krieger das verborgene Königreich jenseits der Herkulessäulen, und die Frauen dienten ihnen. In all den Jahren hatte Brianna das Inselreich für ihre Heimat gehalten. Jetzt hegte sie wachsende Zweifel. War sie eine Akoranerin? Oder eine Engländerin? Weder noch?

In den nächsten Tagen und Wochen würde sie eine Antwort auf diese Fragen finden. Das spürte sie in der Tiefe ihrer Seele.

»Ein guter Anfang«, meinte Alex, nachdem sich die Salontür hinter Lord Liverpool geschlossen hatte. Etwa zwanzig Minuten lang war der Premierminister im Haus geblieben. Außer den Höflichkeitsfloskeln nahm er eine eindeutige Absichtserklärung des Vanax mit. Als souveräne, unabhängige Nation würde Akora ernsthafte diplomatische Beziehungen mit Großbritannien begrüßen, aber seine Gewässer, sein Land, sein Volk und seine Schiffe weiterhin gegen unwillkommene Eindringlinge verteidigen. Weder von Großbritannien noch von anderer Seite würden die Akoraner eine unrechtmäßige Einmischung dulden. Falls das irgendjemand bezweifelte, würden ihn die legendären akoranischen Krieger eines Besseren belehren. Immerhin genossen sie den Ruf unbesiegbarer Kampfkraft.

»Gut genug«, stimmte Atreus zu. »Ist Liverpool so fantasielos, wie ich ihn einschätze?«

»Allerdings. Was du ihm mitgeteilt hast, wird er in dem Gespräch mit dem Prinzregenten wortgetreu wiederholen. Aber erwarte keine Interpretation diverser Andeutungen. Darum musst du dich selber kümmern.«

»Das werde ich tun. Habe ich heute Abend frei?«

»Ja – für lange Zeit deine letzte Gelegenheit, ein bisschen Freiheit zu genießen... Nach dem Empfang im Carlton House findet dir zu Ehren ein Ball in unserem Haus statt. Und dann wird die gesamte Londoner Oberschicht deine Gesellschaft beanspruchen.«

»Nimm nur die Einladungen an, die dir unabdingbar erscheinen. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, ich wäre stets verfügbar. Wenigstens teilweise soll das Geheimnis Akoras gewahrt bleiben.«

»Ich dachte mir bereits, dass du dies vorziehen würdest.«

»Einerseits lässt sich der englische Adel zu gewissen Zwecken nutzen, andererseits geht er einem ganz gewaltig auf die Nerven.«

Nachdem Royce den Premierminister hinausbegleitet hatte, kehrte er rechtzeitig zurück, um die letzten Worte zu hören. »In einer Woche feiern wir Weihnachten. Dieses Fest würden wir gern auf Hawkforte verbringen. Falls du damit einverstanden bist, Atreus.«

»Dort ist es wohl kaum etwas wärmer?«, fragte der Vanax grinsend.

»Leider nicht«, erwiderte Royce belustigt. »Wahrscheinlich wird es sogar schneien.«

»Oh, das interessiert mich. Natürlich habe ich schon viel über das alte Schloss Hawkforte gehört, und ich begleite euch sehr gern auf den Landsitz.«

Royce nickte. »Wunderbar...«

»Fährt Brianna auch hin?«

Ohne eine Miene zu verziehen, wechselte Alex einen kurzen Blick mit Royce und wiederholte: »Brianna?«

Darauf ging Atreus nicht ein. Stattdessen rückte er seinen Sessel etwas näher zum Kaminfeuer. Während der harten Ausbildung zum akoranischen Krieger hatte er sich an körperliches Unbehagen gewöhnt. Aber diese feuchte Kälte war ihm neu. »Sicher wird mir eine Woche genügen, um meine Geschäfte in London abzuschließen. Diese Zeit muss ganz einfach reichen, denn ich habe nicht vor, danach noch länger hier zu bleiben. Auf Akora gibt es so viele ungelöste Probleme.«

Was er damit meinte, wussten beide Männer. Seinem Entschluss, das befestigte Königreich zu modernisieren, widersetzten sich zwei Fraktionen – die Mitglieder von Helios, die sich zügigere Reformen wünschten, und die konservativen Getreuen des Verräters Deilos, eines entschiedenen Gegners aller Neuerungen. Um die Traditionen zu retten, hatte er den Vanax sogar zu töten versucht.

Nun wiesen beunruhigende Anzeichen auf ein Bündnis zwischen den zwei Gruppen hin. Zumindest hatten sich einige Anhänger beider Parteien vor einem halben Jahr zusammengeschlossen und einen Mordanschlag auf Atreus unternommen. Während seiner Genesung hatte er die Gerichtsprozesse gegen Deilos und die Helios-Mitglieder verschoben, weil die Empörung der Öffentlichkeit erst einmal verebben sollte. Und jetzt durfte er die Konfrontation mit den Meinungsverschiedenheiten innerhalb der akoranischen Gesellschaft nicht länger hinauszögern.

»Nach Weihnachten werden wir direkt von Hawkforte aus nach Akora reisen«, kündigte er an. Als er die Verblüffung seines Bruders und seines Schwagers bemerkte, fuhr er fort: »Soviel ich weiß, liegt Hawkforte am Meer.«

»Gewiss«, bestätigte Royce. »Aber du sagtest – ›wir‹...«

»Brianna wird mich in die Heimat begleiten.«

Diesen Worten folgte ein kurzes Schweigen, das Alex schließlich brach. »Davon hat sie nichts erwähnt.«

Gleichmütig zuckte Atreus die Achseln. »Weil sie’s noch nicht weiß.«

»Gibt es einen besonderen Grund für ihre Rückfahrt?«, fragte Royce. »In mehreren Briefen bekundeten ihre Angehörigen, sie würde ihnen fehlen. Aber sie verstehen, dass sie hier bleiben möchte. Wenn sie dich gebeten haben, das Mädchen nach Akora zu bringen...«

»Nichts dergleichen. Es ist einfach an der Zeit für Briannas Heimkehr.« Im Bewusstsein der Aufregung, die er verursachen würde, ergänzte der Vanax: »Und für unsere Hochzeit.«

Welche Genugtuung man sich doch verschaffte, wenn man zwei Männer überraschte, die normalerweise niemals aus der Fassung gerieten... Beide starrten ihn entgeistert an.

Schließlich erlangte der Engländer zuerst seine Sprache wieder. »Dass du eine Heirat erwägst, wusste ich gar nicht.«

»Ich auch nicht.« Eindringlich schaute Alex seinen Bruder an. »Davon hast du nichts erzählt.«

»Was gab es da zu erzählen?«, entgegnete Atreus. »Eines Tages würde ich heiraten, das stand schon immer fest.«

»Ja, natürlich«, stimmte Alex zu. »Aber wenn ich mir vorstelle, wie viel Mühe die zauberhaftesten Akoranerinnen auf sich nahmen, um dich in den glücklichen Hafen der Ehe zu locken, und was für bittere Fehlschläge sie erlitten... Milde ausgedrückt, deine Neuigkeit verwirrt mich ein bisschen.«

»Mich sogar sehr«, gestand Royce. »Vor allem, weil die junge Dame, soweit ich informiert bin, nichts davon verlauten ließ.«

»Atreus...« Plötzlich schöpfte Alex Verdacht, und seine Augen verengten sich. »Brianna weiß doch, was du planst, nicht wahr?«

»Warum sollte sie? Darüber haben wir nie geredet.«

Die beiden Ehemänner wechselten einen vielsagenden Blick.

»Also hast du ihr noch keinen Antrag gemacht?«, fragte Royce. »Aber während sie dich nach Deilos’ Mordversuch gepflegt hat, muss eine engere Beziehung zwischen euch entstanden sein.«

»Nein«, erwiderte der Vanax. »Wie du dich vielleicht entsinnst, reiste Brianna hierher, kurz nachdem ich aus meiner Ohnmacht erwacht war.«

Wieder einmal entstand ein längeres Schweigen, bis Alex einwandte: »Wenn sie auch eine schöne junge Frau ist – solltet ihr euch nicht besser kennen lernen, bevor du an eine Ehe denkst?«

Lässig hob der Vanax die Schultern. »Ich sehe keinen Grund, irgendetwas zu bedenken, denn ich weiß schon seit einiger Zeit, dass ich Brianna heiraten werde.«

»Was – du weißt es?« Alex musterte seinen Bruder ungläubig. »Wie ist das möglich?«

Bevor Atreus antwortete, zögerte er einige Sekunden lang. Nur selten sprach er über das zentrale Ereignis seines Lebens. Jener Moment hatte den Künstler, der er gern geblieben wäre, in den Regenten seines Volkes verwandelt. Aber Alex und Royce zählten zu den Menschen, die ihm am nächsten standen, und er schuldete ihnen die Wahrheit.

In der geruhsamen Atmosphäre des eleganten Londoner Salons weckte er Erinnerungen an ein uraltes Ritual auf einer fernen Insel. »Während ich mich der Prozedur unterzog, die mir die Position des Vanax einbrachte, wurde mir sehr viel enthüllt. Unter anderem ›erblickte‹ ich die Frau, die ich jetzt als Brianna kenne. In ihr sah ich meine künftige Gemahlin.«

Da jener Ritus fast nie erwähnt wurde, dauerte es eine Weile, bis sich Royce und Alex von ihrer Verblüffung erholten.

»Und du zweifelst nicht an der Bedeutung deiner – Vision?«, fragte Alex stockend.

»Nein. Wenn ich Brianna nicht heirate, missachte ich die Pflichten, die mir mein Amt auferlegt. Und das darf nicht geschehen.«

»Wie du uns soeben verraten hast, kennst du diese Frau jetzt als Brianna«, warf Royce ein. »Wer sie ist, blieb dir damals verborgen?«

»Ja. Ich betrachtete ihr Gesicht und ihre Gestalt«, erklärte Atreus. Wie genau er sie erforscht hatte, mit der Intimität eines Liebhabers, behielt er für sich. »Ihren Namen erfuhr ich nicht. Wer sie ist, ahnte ich nicht einmal, bis ich vor einigen Monaten zu Bewusstsein kam und feststellte, dass sie an meinem Krankenlager saß und mich pflegte.«

Alex holte tief Luft. »Wie erstaunlich muss das gewesen sein...«

»Allerdings. Manchmal hatte ich schon befürchtet, ich würde sie niemals finden.«

Mit der Freimut eines Bruders, der auch ein Freund war, fragte Alex: »Und wenn Brianna deine Überzeugung nicht teilt? Immerhin besteht diese Möglichkeit.«

»Nach meiner Erfahrung wollen die Frauen aus Liebe geheiratet werden«, fügte Royce trocken hinzu, »nicht aus irgendwelchen Pflichtgefühlen heraus.«

»Was nur einen Teil des Problems umreißt, Atreus«, meinte Alex. »Brianna ist keine gebürtige Akoranerin. Über ihre Herkunft wissen wir nichts. Aber ich habe den Eindruck gewonnen, sie möchte dieses Rätsel lösen. Dieser Wunsch muss ihren Entschluss beeinflusst haben, Joanna und mich nach England zu begleiten.«

»Welches Risiko ich einging, als ich ihr die Reise erlaubte, war mir natürlich klar. Leider war ich, während ich mich von dem Mordanschlag erholte, nicht im Stande, die Dinge zwischen uns zu regeln.« Atreus lächelte schwach. »Zum Glück hat sich das mittlerweile geändert.«

»Also möchtest du Brianna veranlassen, deine Absicht – gutzuheißen?«

»Das würde ich vorziehen«, betonte der absolute Herrscher seines Volkes. »Doch ich habe lange genug gewartet. Und daheim erfordern dringende Angelegenheiten meine Aufmerksamkeit. So oder so, Brianna wird mich in mein Königreich begleiten, und wir werden heiraten.« Nach einer kurzen Pause beteuerte er: »Selbstverständlich seid ihr alle zur Hochzeit eingeladen.«

»Und wenn Brianna nicht einverstanden ist?«, fragte Royce leise.

»Das würde ich bedauern.« Jetzt nahm die Stimme des Vanax einen stahlharten Klang an. »Aber wir alle müssen unsere Pflicht tun.«

Er nahm das Glas Brandy entgegen, das ihm sein Bruder anbot, und die drei Männer prosteten einander zu. In diesem Moment fegte der Winterwind durch den Kamin herab und entfachte einen Funkenwirbel. Atreus beobachtete die Flammen, die nicht erloschen. Ganz im Gegenteil, je heftiger der Wind blies, desto heller loderten sie empor, bekämpften ihn mit gleißenden Funken und brannten unerschütterlich.

Insel meines Herzens

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