Читать книгу Insel meines Herzens - Josie Litton - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеGestern Abend warst du so still beim Dinner.« Joanna musterte Brianna über den Frühstückstisch hinweg. Auch Kassandra schaute die junge Frau, die gerade ein Croissant mit Butter bestrich, prüfend an. Vor dem hohen Fenster des gemütlichen Zimmers in dem Haus, das Alex als seine Londoner Residenz benutzte, erhellte sich der Dezembertag.
»Ich bin nur ein bisschen müde«, erwiderte Brianna, ohne von ihrem Teller aufzublicken. Sosehr sie die Fürsorge ihrer Freundinnen auch schätzte – an diesem Morgen hätte sie lieber darauf verzichtet.
»Das Schiff hat dir Briefe aus deiner Heimat gebracht«, sagte Joanna. »Hoffentlich gute Neuigkeiten?«
Da hob Brianna den Kopf und lächelte ihre Freundin an. Wie mütterlich Joanna war, so interessiert am Wohlergehen aller Menschen in ihrer Nähe... Wann immer sie spürte, dass Brianna irgendetwas bedrückte, versuchte sie, ihr die Ursache des Kummers zu entlocken. »Sehr gute. Mein Vater schreibt mir, fünf Fohlen seien zur Welt gekommen.«
»Darüber wird sich Marcus freuen«, meinte Kassandra. »Deine Familie züchtet die besten Pferde von ganz Akora.«
»Wenn ich ihm antworte, werde ich dein Lob erwähnen. Meine Mutter behauptet in ihrem Brief, Vater würde zu hart arbeiten. Aber sie scheint sich nicht übermäßig zu sorgen. Allen geht es gut, Polonus eingeschlossen, der mir ebenfalls schrieb.«
»Ist er dein jüngerer Bruder?«, fragte Joanna.
Brianna nickte. »Zwei Jahre jünger. Noch nicht in sich gefestigt und ziemlich rastlos...« Das hatte sie nicht verraten wollen. Am letzten Abend hatte sie Polonus’ Brief aufmerksam studiert und zwischen den Zeilen gelesen. Obwohl er ihr nichts Bedeutsames mitteilte, gewann sie den Eindruck, irgendetwas würde ihn belasten. Sie fühlte mit ihm, weil sie viele Ansichten und Hoffnungen teilten. Doch sie glaubte, seinen Zukunftsträumen würde es an der nötigen Geduld mangeln. Er war ein ungestümer junger Mann, und er neigte zu unbedachten Entschlüssen, die ihm schaden könnten.
»Hast du Angst vor heute Abend?«, erkundigte sich Kassandra vorsichtig. »Wenn ja, regst du dich grundlos auf. Du bist bestens auf dein gesellschaftliches Debüt vorbereitet. Schon vor Monaten hätte es stattfinden müssen.«
»Ja, ich weiß«, gab Brianna zu. Nur zu gern dachte sie an andere Dinge. »Und ich bin euch beiden von ganzem Herzen dankbar, weil ihr mir so freundlich geholfen habt, meinen Platz im Land meiner Geburt zu finden. Aber ich frage mich, ob dieser Abend der richtige Zeitpunkt ist. Auf keinen Fall möchte ich die allgemeine Aufmerksamkeit von Atreus’ Gegenwart ablenken.«
»Oh, das musst du nicht befürchten«, entgegnete Joanna unverblümt. »Kein einziges Mitglied der Londoner Oberschicht wird sich für jemand anderen interessieren. Wahrscheinlich werden die Leute sogar Prinny übersehen.«
»Was eine völlig neue Erfahrung für den Prinzregenten wäre«, murmelte Kassandra. »Übrigens, wo treiben sich die Männer herum?«
»Die sind zeitig aufgestanden«, berichtete Joanna lächelnd. »Zumindest gilt das für Alex.« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Aber er brach nicht ganz so früh auf wie geplant... Ich nehme an, sie hatten irgendetwas vor.«
Stöhnend verdrehte Kassandra die Augen. »Wenn sie blutbefleckt und verdreckt zurückkommen, ist es unser gutes Recht, energisch Einspruch zu erheben.«
»Warum sollten sie sich so albern benehmen?«, wandte Brianna ein. Beinahe hätte Atreus sein Leben verloren. Sicher würde er kein überflüssiges Wagnis eingehen.
Doch, genau das würde er tun. Lange genug hatte sie inmitten akoranischer Krieger gelebt, um diesen Verdacht zu hegen. Was sie für unnötige Gefahren hielt, betrachtete er als vergnüglichen Zeitvertreib.
»Sie sind nun einmal Männer«, seufzte Joanna.
Dann leuchteten ihre Augen auf, denn ein Dienstmädchen trug Amelia ins Zimmer. »Verzeihen Sie, Mylady, die Kleine lässt sich einfach nicht beruhigen.«
»Wenn Sie mir meinen Liebling bringen, müssen Sie sich nicht entschuldigen.« Joanna streckte die Arme aus. »Was fehlt dir denn, Schätzchen?«
Nichts, entschied Brianna, denn die Tränen des Babys versiegten, sobald es die Berührung der Mutter spürte. Statt zu quengeln, schaute sich Amelia neugierig um.
»Was für ein faszinierendes Geschöpf...«, bemerkte Kassandra.
»Deine Patentochter?« Joanna lachte. »Natürlich bewunderst du sie.«
»Nicht nur deshalb. Ich habe das unheimliche Gefühl, sie sieht...«
»Ja, selbstverständlich kann sie sehen.«
»So meine ich’s nicht. Ihr Blick dringt – in die Tiefe, und sie nimmt irgendetwas – vollständiger wahr als normale Sterbliche.«
»Was sagst du da?«, flüsterte Joanna und drückte ihr Kind noch fester an sich.
»Nichts Schreckliches«, beteuerte Kassandra sanft. »Das weißt du sehr gut. In dieser Familie wurden schon oft Frauen mit ungewöhnlichen Fähigkeiten geboren.«
»Sie ist doch noch ein Baby«, protestierte Joanna und starrte ihre Tochter bestürzt an. »Sicher ist es viel zu früh, um so etwas festzustellen.«
In diesem Moment gab Amelia einen leisen Laut von sich, der wie ein Kichern klang.
»Nur Blähungen!«, rief Joanna erleichtert. »Sie versteht kein Wort von diesem Unsinn.«
Entschlossen schüttelte Kassandra den Kopf. »Für ein Baby mit Blähungen kommt sie mir etwas zu fröhlich vor.« Zu Brianna gewandt, fuhr sie fort: »Spreche ich in Rätseln? Oder verstehst du, wovon ich rede?«
»Soviel ich weiß«, begann Brianna langsam, »besitzt ihr beide bemerkenswerte Gaben. Joanna stöbert auf, was verloren gegangen ist. Und du...« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Eigentlich dachte ich, dein besonderes Talent muss dir manchmal wie ein Fluch vorkommen. In die Zukunft zu schauen...«
»In eine mögliche Zukunft«, betonte Kassandra. »Meine Visionen erfüllten einen vorteilhaften Zweck, solange Akora bedroht wurde. Jetzt erscheint mir die Zukunft glücklicherweise genauso mysteriös wie den meisten Menschen. Trotzdem wissen wir Bescheid über diese erblichen Fähigkeiten. Sie entstammen längst vergangenen Zeiten, der frühen Geschichte von Joannas Familie, und gelangten nach Akora, als einer ihrer Ahnherren vor vielen Jahrhunderten unsere Küste erreichte.«
»Aber die Vererbung solcher Gaben ist unvorhersehbar, nicht wahr?« Brianna betrachtete die kleine Amelia, die den Blick ernsthaft erwiderte. »Und in vielen Generationen traten sie gar nicht auf.«
»Da hast du Recht«, bestätigte Joanna. »Meines Wissens zeigen sie sich nur, wenn sie gebraucht werden. Jedenfalls wird sich Amelia so entwickeln, wie sie’s will.«
Brianna lächelte das Baby an. »Offensichtlich will sie jetzt schlafen.«
Als würde Amelia zustimmen, gähnte sie herzhaft. Ein paar Sekunden später sank ihr Köpfchen an die Schulter ihrer Mutter. Joanna erhob sich, um sie ins Kinderzimmer zurückzubringen.
Mit Brianna allein gelassen, fragte Kassandra: »Du bist doch nicht wirklich nervös wegen des Empfangs im Carlton House?«
»Ein bisschen schon«, gestand Brianna. Allerdings nicht aus den Gründen, die meine Freundin vermutet, ergänzte sie in Gedanken. Das Debüt in der Londoner Gesellschaft bereitete ihr kein nennenswertes Unbehagen. Einen Abend in der Bibliothek würde sie zwar vorziehen, doch sie erwartete schlimmstenfalls, sich zu langweilen.
Und so viele Stunden in Aureus’ Nähe? Das war etwas anderes. Nur mühsam hatte sie das Dinner am Vorabend ertragen. Was mochte von dem Mann ausgehen, das ihren Puls immer wieder beschleunigte?
Gewiss, er war unglaublich attraktiv... Doch sie hatte den Großteil ihres Lebens in der Mitte akoranischer Krieger verbracht, die alle gut und sehr männlich aussahen. Außerdem hatte Atreus ein bezwingendes, gebieterisches Wesen. Kein Wunder, denn er regierte das befestigte Königreich mit absoluter Macht. Würde er sich weniger autoritär verhalten, wäre es ziemlich seltsam. Wie auch immer, sie mochte keine herrischen Männer – oder?
Vor ein paar Monaten wäre er beinahe gestorben. Um ihn zu retten, hatte ihre Tante, die beste Heilerin von Akora, den schwierigsten Kampf ihres Lebens ausgefochten. Dabei hatte Brianna ihr geholfen, wenn sie ihre eigene Leistung auch geringfügig fand. Aber um jeden anderen Patienten hätte sie sich genauso bemüht. Nicht wahr?
Die Art, wie er sie anschaute... Ein Schauer rann über ihren Rücken und wies sie auf die Wahrheit hin – dieser Blick des Vanax von Akora weckte eine eigenartige Beklemmung in ihrem Innern. Als würde er sie auf eine Weise kennen, die einfach nicht nötig war...
Von solchen Gedanken musste sie sich ablenken – und zwar sofort. »Möchtest du ausreiten, Kassandra?« Dann erinnerte sie sich an den Zustand ihrer Freundin. »Natürlich ganz langsam und gemütlich.«
»Nicht allzu gemütlich«, widersprach Kassandra. »Ich bin kerngesund. Wenn Royce das bloß einsehen würde...«
»Dass er sich Sorgen macht, ist doch verständlich«, bemerkte Joanna, aus dem Kinderzimmer zurückgekehrt. »Habe ich soeben etwas von einem Ausritt gehört?«
Brianna nickte. »Dieses schöne Wetter sollten wir nutzen. Es ist nicht zu kalt. Und es weht kein Wind. Und bevor wir uns den ganzen Abend im Carlton House einsperren lassen, sollten wir uns an der frischen Luft amüsieren.«
»Ganz meine Meinung!«, bekräftigte Kassandra lächelnd. »Gebt mir nur dreißig Minuten Zeit, damit ich nach Hause fahren und mich umziehen kann.«
Joanna zog am Glockenstrang, und ein Dienstmädchen trat ein. »Sei so nett, Sarah, und sag Bolkum, wir brauchen drei gesattelte Pferde.«
Höflich knickste die junge Frau. »Sehr wohl, Mylady.«
Eine Stunde später ritten die drei Freundinnen zum Hyde Park, von einem halben Dutzend Wachtposten begleitet. Um die Privatsphäre der Damen nicht zu stören, wahrten die Männer diskreten Abstand, würden aber beim geringsten Anzeichen einer Gefahr unverzüglich eingreifen.
»Oft genug habe ich Alex erklärt, diese Eskorte sei überflüssig«, seufzte Joanna. »Aber er lässt sich nicht davon abbringen.«
»Ebenso wenig wie Royce«, sagte Kassandra. »Wenn der eine nicht darauf besteht, tut’s der andere, und letzten Endes läuft’s auf dasselbe raus.«
»Für ihre Sorge gibt es stichhaltige Gründe«, betonte Brianna. »Mit jedem Tag nehmen die Unruhen in England zu.«
»Würde sich der Prinzregent etwas mehr für das Wohl seiner Untertanen interessieren, könnten wir in friedlicheren Zeiten leben«, erwiderte Joanna.
Mit dieser unverblümten Äußerung überraschte sie Brianna nicht, die sich längst daran gewöhnt hatte, dass Joanna kein Blatt vor den Mund nahm. Und darin stand ihr Kassandra nicht nach.
»Interessiert er sich überhaupt dafür?«, fragte sie trocken. »Das wusste ich gar nicht.«
Joanna nickte. »Damit triffst du den Nagel auf den Kopf. Die Selbstsucht der englischen Oberschicht ist unfassbar. Aber es gibt einige Leute, die sich um Reformen bemühen.«
»Möge das Glück ihnen beistehen! Auf Akora genießen wir die Vorzüge einer weisen Regierung. Darüber bin ich wirklich froh.«
Brianna zögerte. Da sie die Freundschaft beider Frauen schätzte, wollte sie ihnen keine Sorgen bereiten. Außerdem gehörte Diskretion zu ihren hervorstechendsten Wesenszügen. Aber diesmal war der Impuls, die Gedanken auszusprechen, unwiderstehlich. »Zwischen Akora und England besteht eine gewisse Ähnlichkeit.«
Eben war es noch windstill gewesen, und plötzlich wehte eine Böe in Briannas Gesicht. Unwillkürlich umklammerte sie ihre Zügel etwas fester – sie mochte den Wind nicht.
Mittlerweile hatten sie den Hyde Park erreicht und sahen den lang gestreckten, gewundenen See namens Serpentine in der Wintersonne glänzen. In der Nähe säumten alte knorrige Bäume die Rotten Row – die route de roi oder den »Weg des Königs«. Doch der Name hatte seine ursprüngliche Geltung längst verloren. An diesem Vormittag war die breite Sandstraße, auf der sich die vornehme Gesellschaft tummelte, um zu sehen und gesehen zu werden, noch dichter bevölkert denn je.
Während Brianna darüber staunte, fragte Joanna: »Welche Ähnlichkeit?«
»Wie, bitte? Oh – nun, die Akoraner und die Engländer leben in erblichen Monarchien.«
»Nicht wirklich.« Kassandra lenkte ihr Pferd um einen Reitertrupp in der Straßenmitte herum. »Nur wer den Ritus der Wahl über sich ergehen lässt, kann Vanax werden – ganz egal, aus welcher Familie er stammt.«
»Eigentlich dachte ich, nur die Mitglieder der Atreiden-Familie überleben diese Prozedur«, wandte Joanna ein. »Haben es auch andere versucht und Fehlschläge erlitten?«
»Mindestens zehn, das las ich in unseren Geschichtsbüchern. Natürlich umfassen sie einen Zeitraum von Jahrtausenden, also waren es wahrscheinlich noch mehr, die das Wagnis auf sich nahmen.«
Diesmal schwieg Brianna, und sie fragte sich, wie diese zehn Männer – oder noch andere – gestorben sein mochten. Nur eins stand fest, die Macht war stets in den Händen der Atreiden-Familien geblieben. Und jetzt saß Atreus auf dem Thron.
»Für diese Tageszeit ist hier ungewöhnlich viel los, nicht wahr?«, fragte Kassandra.
Erleichtert über das neutralere Gesprächsthema, nickte Brianna. »Das dachte ich mir auch gerade. Woran könnte es liegen?«
»Großer Gott, da ist Lady Melbourne«, murmelte Joanna und nickte einer korpulenten, aber trotzdem eleganten Gestalt auf einem schönen Grauschimmel zu. Die Lady erwiderte den Gruß und ritt zu den drei Freundinnen.
»Jetzt hast du es geschafft«, stöhnte Kassandra leise, »ich fürchte, sie will was von uns.«
»Tut mir Leid, ich war so verwirrt, als ich sie sah. Normalerweise kriecht sie erst gegen Mittag aus den Federn. Und nun hat sie sich mit einem Großteil der Londoner Hautevolee im Hyde Park eingefunden.«
»Meine liebe Lady Joanna!«, rief Londons berühmteste – und gefährlichste – Gastgeberin, während sie näher kam. »Und die liebe Prinzessin Kassandra! Welch eine Freude, Sie beide zu sehen!« Nur sekundenlang streifte ihr Blick die Begleiterin der beiden Damen.
Ohne Adelstitel, mittellos und unbekannt, erregte Brianna nicht das mindeste Interesse. Das wusste sie, und sie war dankbar dafür.
»Wir alle freuen uns ganz wahnsinnig auf das große Ereignis morgen«, fuhr Lady Melbourne fort. »Soviel ich weiß, ist jeder eingeladen. Wie großzügig! Sagen Sie doch – sind Sie gerade auf dem Weg zu den Gentlemen?«
Weil Joanna die Schuld an der Begegnung trug, fühlte sie sich zu einer Antwort verpflichtet. »Zu den Gentlemen?«, wiederholte sie.
»Natürlich meine ich Ihre Ehemänner und Ihren Gast, Seine Hoheit von Akora. Was für ein eindrucksvoller Titel! Und nach allem, was man so hört, muss der Gentleman genauso imposant aussehen. Jedenfalls waren die Leute, die ihn gestern im Hafen willkommen hießen, völlig fasziniert.«
»Wie nett«, erwiderte Kassandra. »Aber wir wollen einfach nur ausreiten. Was meinen Mann und meine Brüder betrifft...«
»Ach, behaupten Sie bloß nicht, Sie hätten keine Ahnung, wo die drei stecken! Schon vor Stunden hat sich herumgesprochen, sie seien im Hyde Park zu finden.« Etwas verunsichert gestand Lady Melbourne: »Natürlich hat sie noch niemand gesehen. Obwohl alle eifrig Ausschau halten.«
Brianna versuchte ein Lächeln zu unterdrücken, ohne Erfolg. Diskret wandte sie den Kopf ab. Und dann wäre sie beinahe in Gelächter ausgebrochen, denn Joanna fragte: »Hat noch niemand im Parkwächterhäuschen nachgesehen?«
Entgeistert runzelte Lady Melbourne die Stirn. »Was hätten die Gentleman denn dort verloren?«
»Nun, das ist eine akoranische Tradition«, erklärte Joanna ernsthaft. »Nicht wahr, Kassandra?«
»Was? Oh – ja – es gehört zu unseren Sitten und Gebräuchen...«
»... Besuche abzustatten«, vollendete Brianna den Satz, und Kassandra schaute sie dankbar an.
»Ja. Man besucht die Person, die verantwortlich ist – für den Ort, wo man sich gerade befindet...«
»Heißt das, der Vanax von Akora sucht einen Parkwächter auf, bevor er dem Prinzregenten begegnet ist?« Obwohl Lady Melbourne so etwas undenkbar fand, registrierte sie die Information geradezu begierig.
»Oh ja«, bestätigte Kassandra, ohne eine Miene zu verziehen. »Selbstverständlich hält Atreus unsere Traditionen in Ehren.« Beifallheischend wandte sie sich zu ihren Begleiterinnen. »Das stimmt doch?«
Eifrig nickten die beiden.
»Ganz sicher«, murmelte Joanna.
»Zweifellos«, ergänzte Brianna.
»Herzlichen Dank, meine Lieben.« Jetzt legte Lady Melbourne keinen Wert mehr auf die Gesellschaft der drei Freundinnen und spornte ihren Grauschimmel an. In flottem Trab, der die Kräfte der meisten Frauen in ihrem Alter übersteigen würde, entfernte sie sich. Bisher hatte sie noch jedes Hindernis gemeistert, das ihr einen gesellschaftlichen Triumph verwehren würde.
Nachdem andere Reitergruppen den hastigen Rückzug ihrer Ladyschaft bemerkt hatten, zogen sie die ersehnten Schlüsse und folgten ihr. Bald war diese Teilstrecke der Rotten Row menschenleer, bis auf Brianna und ihre Begleiterinnen.
»Wie boshaft wir waren«, meinte Kassandra belustigt.
»Reiner Selbsterhaltungstrieb«, verkündete Joanna.
»Glaubt ihr, die Männer sind tatsächlich in der Nähe?«, fragte Brianna.
»Um Himmels willen, nein!«, versicherte Kassandra. »Wenn Atreus auch überaus höflich ist und den Parkwächter sicher viel lieber besuchen würde als gewisse andere Leute, sind sie bestimmt nicht zu dritt hierher gekommen. Nur zu gut wissen Royce und Alex, welches Aufsehen das erregen würde. Nein, die sind ganz woanders.«
»Und sie haben die Meute auf eine falsche Fährte gelockt.« Joanna bemerkte Briannas Verwirrung und erklärte: »Nach meiner Ansicht ist das Gerücht nicht von allein entstanden. Die drei haben irgendetwas geplant. Das sollte niemand bemerken, also schickten sie die Leute in die falsche Richtung.«
»Und warum?«, fragte Brianna.
»Genau das werden wir herausfinden«, versprach Kassandra, und Joanna stimmte ihr lebhaft zu.
Ins Haus zurückgekehrt, wurden sie vom Duft eines ausgezeichneten Tabaks und männlichem Gelächter empfangen. Während sie in der Halle ihre Umhänge ablegten, erkundigte sich Joanna: »Sind die Gentlemen schon lange hier, Mrs. Mulridge?«
Die strenge, schwarz gekleidete Haushälterin, die in der Halle erschienen war und die Damen begrüßt hatte, schüttelte den Kopf. »Etwa seit einer halben Stunde, Mylady.« Zu Kassandra gewandt, fuhr sie fort: »Lord Royce war nicht allzu erfreut über Ihren Entschluss, in den Park zu reiten, Madam.«
»Im Gegensatz zur Meinung meines lieben Gemahls bin ich nicht aus Zucker.« In Alex’ Büro ertönte eine neue Lachsalve, und Kassandra lächelte. »Außerdem macht er keinen besonders unglücklichen Eindruck.«
»Irgendwas führen sie im Schilde«, seufzte Joanna. »Und sie glauben, damit kommen sie davon.«
»Was wir nicht gestatten.« Kassandra eilte an der geschwungenen Marmortreppe vorbei zur reich geschnitzten Tür, die ins Büro ihres Bruders führte.
Noch bevor sie die Klinke ergreifen konnte, öffnete ihr Ehemann die Tür. »Ich dachte mir, ich hätte deine Stimme gehört.« Aufmerksam musterte er sie von oben bis unten. Was er sah, schien ihn zufrieden zu stellen, denn er zog zärtlich ihre Hand an die Lippen. »War der Ausflug in den Hyde Park angenehm?«
»Ja, abgesehen von dem ungewöhnlichen Gedränge. Seltsam – heute Vormittag beschloss die halbe Londoner Hautevolee, in den Hyde Park zu reiten. Kannst du dir vorstellen, warum?«
Lachend trat Royce beiseite und bedeutete den Damen, ins Büro zu gehen. Alex und der Vanax sprangen auf und drückten die Zigarren aus, die sie genossen hatten.
Obwohl Brianna woanders hinschauen wollte, gelang es ihr nicht, den Blick von Atreus abzuwenden. Hoch aufgerichtet und breitschultrig stand er da, in einem weit geschnittenen, am Kragen geöffneten weißen Seidenhemd, das in einer braunen Reithose steckte. Sein Haar, schwarz wie ein mondloser Himmel, war vom Wind zerzaust. Über hohen Wangenknochen spannte sich bronzebraune Haut, und die gerade Nase wirkte ebenso prägnant wie das energische Kinn.
In seiner gebieterischen Männlichkeit erschien er gnadenlos, eine Herausforderung für jede Frau, die seinen Weg kreuzte. Doch er besaß noch andere Wesenszüge. Wie Brianna wusste, verehrten und respektierten ihn zahlreiche Menschen, auch solche, die sie gut kannte und liebte. Sie bewunderten seine einzigartige Weisheit, seinen Gerechtigkeitssinn. Diese Ansichten teilte sie nicht. Nur eins gestand sie ihm zu – ungewöhnlichen Mut. Niemals hatte sie ihn vor einem Feind oder einer Provokation zurückschrecken sehen. Und während sie ihn jetzt betrachtete, konnte sie sich auch nicht vorstellen, er würde jemals einem Kampf ausweichen.
»Guten Tag, Brianna«, begrüßte er sie leise. Trotzdem klang seine Stimme so machtvoll, dass sie in ihrer Seele widerhallte. Ohne sie aus den Augen zu lassen, überquerte er den Perserteppich und kam auf sie zu. »Hat Ihnen der Ausritt Freude bereitet?«
Atmen... Sie musste atmen... Aber sobald sie es tat, füllte sich die Luft mit den verlockenden Gerüchen von Leder, Tabak und einer puren maskulinen Aura.
Sei nicht albern, ermahnte sie sich. »Ja, danke«, antwortete sie und hoffte, er würde ihre Verwirrung nicht bemerken.
»Gut.« Seine Mundwinkel zogen sich ein wenig nach oben, als würde ihn irgendetwas amüsieren. Was für faszinierende Lippen – hart und doch sinnlich... Wie mochten sie sich anfühlen?
»Waren viele Leute im Hyde Park?«
»Wie, bitte? Oh... Ja, sehr viele. Fast die ganze Stadt... Zumindest sah es so aus.«
»Und ich frage mich, warum«, warf Kassandra ein. »Was holt die Londoner Gesellschaft vor der Mittagsstunde aus dem Bett?«
»Vielleicht das Gerücht, der Vanax von Akora würde in eine gewisse Gegend reiten«, meinte Royce in beiläufigem Ton. »Ein Wort da und dort – von einem übereifrigen Laufburschen erwähnt, der sich gern ein paar Shillings dazu verdient...«
»So was Ähnliches haben wir uns schon gedacht!«, rief Joanna. »Und wo wart ihr wirklich, während die Leute nach euch Ausschau hielten?«
»Auf dem Moors Field«, antwortete Atreus. »Hoffentlich verzeiht ihr uns. Hätten wir auch nur geahnt, dass ihr heute Vormittag in den Hyde Park reiten würdet, hätten wir die Leute in eine andere Richtung geschickt.«
»Macht euch deshalb keine Sorgen«, entgegnete Kassandra. »Erzählt uns lieber, was ihr auf dem Moors Field zu suchen hattet. Ist das nicht dieses trostlose Gelände, drüben bei Bishopsgate?«
»Vermutlich ist jeder Ort trostlos, der sich für Waffenübungen eignet.« Alex wandte sich zu einem kleinen Tisch, auf dem silbernes Geschirr stand. »Soll ich frischen Tee bestellen?«
»Oh ja, tu das«, bat Joanna. »Wir trinken Tee, wärmen unsere Füße am Kamin, und ihr drei erzählt uns, was ihr gesehen habt.«
»Nichts, was wir nicht schon unser eigen nennen«, erklärte Atreus. »Und genau darauf kommt es an, denn England hat Akora nichts voraus.«
Brianna sank auf das nächstbeste Sofa und sehnte den Tee herbei. Wenn ihr das Glück gewogen war, würde er sie von gewissen mutwilligen Gedanken ablenken. »Inzwischen ist die Drohung einer britischen Invasion auf Akora gebannt, nicht wahr?«
Sichtlich verblüfft, setzte sich der Vanax zu ihr. »Wieso wissen Sie davon?«
Bevor Brianna antworten konnte, mischte sich Kassandra ein: »Offenbar vergisst du, dass sie uns in jenen schrecklichen Wochen beistand, als wir nicht wussten, ob du leben oder sterben würdest. Ohne sie wären wir nur halb so gut zurechtgekommen. Natürlich wurde Brianna beinahe ein Familienmitglied.«
Langsam nickte Atreus. »Beinahe...«
Welch ein beunruhigendes Lächeln, dachte Brianna. Und diese Augen... Wenn sie nicht aufpasste, würde sie darin ertrinken.
»Dann darf ich mich auf Ihre Diskretion verlassen«, fügte er an.
Sie räusperte sich. »Also möchten Sie die Akoraner nicht alarmieren.«
»Nun, ich will sie nicht mit einer Gefahr beunruhigen, die bereits abgewendet wurde«, verbesserte er sie sanft. »Wir sind zum Moors Field geritten, weil die Briten ausgezeichnete Waffen herstellen. Und sie sind so großzügig, ihre Artillerie vor den Augen aller Leute auszuprobieren, die sich dafür interessieren.«
»Wie töricht...«
»Vielleicht. Aber wenn man an die Anzahl französischer Spione in England denkt, ergibt es einen gewissen Sinn. Die Informationen, die diese Gentlemen an Napoleon schicken, müssen demoralisierend wirken.«
»Sagten Sie nicht, unsere Heimat würde England in nichts nachstehen? Sind die Akoraner genauso tüchtige Waffenmeister?«
Obwohl er über diese Frage lächelte, tat er sie nicht ab. »Wir sind die Meister unseres Schicksals. So wie eh und je. Was uns nützt, stellen wir her, oder wir erwerben es. Schon immer haben wir erkannt, was den Frieden am ehesten garantiert – die Fähigkeit, einen Angriff abzuwehren.«
»Ja, auf Akora hat stets Frieden geherrscht.«
»Und Sie glauben, es wird immer so bleiben?«
»Das weiß ich nicht«, gab Brianna zu. »Darüber habe ich wirklich noch nicht nachgedacht...« Diese Erkenntnis überraschte sie. Gründlich genug hatte sie die Notwendigkeit einer Veränderung erwogen. Aber die Vorzüge der Stabilität – das war etwas ganz anderes. »Akora liegt so abgeschieden vom Rest der Welt...«
»Aber die Welt verändert sich. Sicher waren Sie lange genug hier, um das zu bemerken?«
»Akora ist nicht England.«
»Trotzdem gehört es zu derselben Welt«, konterte der Vanax. »Und wir würden einen verhängnisvollen Fehler begehen, wenn wir uns einbilden, wir wären gegen den Aufruhr außerhalb unserer Grenzen immun.«
»Und warum vermeiden Sie dann...« Abrupt verstummte Brianna – zutiefst erschrocken, weil sie beinahe zu viel verraten hätte.
»Was vermeide ich?«
»Ach, gar nichts, Sire... Ihre Worte haben mich nur – überrascht...«
»... und hoffentlich nicht in Angst und Schrecken versetzt? Akora wird blühen und gedeihen wie eh und je. Das verstehen Sie doch, Brianna?«
Da sie nichts dergleichen verstand und nicht lügen wollte, antwortete sie: »Das wünsche ich mir von ganzem Herzen.«
Viel zu aufmerksam hörten die anderen zu, und sie begrüßte die Ablenkung, als Joanna den Tee einschenkte.
Und dann war sie stolz, weil ihre Hand nicht zitterte, als sie die zierliche Tasse entgegennahm. Stolz – und ein bisschen verwundert.
Etwas später entschuldigten sich die Damen, um ihre Vorbereitungen für die große Festivität im Carlton House zu treffen.
»Wie ungerecht das ist!«, klagte Kassandra. »Stundenlang müssen wir uns herausputzen, während ihr Männer euch in allerletzter Minute umzieht.«
Royce prostete ihr mit seiner Teetasse zu. »Und dann werden wir den ganzen Abend eure Schönheit bewundern.«
»Also wird sich die Mühe lohnen«, spottete Joanna. »Kommt, meine Damen.« Sobald sie die Treppe erreichten, lobte sie: »Bravo, Brianna!«
»Gut gemacht«, bekräftigte Kassandra.
»Was meint ihr?«, fragte Brianna verwirrt.
»Nun, du hast dich gegen Atreus behauptet«, erklärte Kassandra. »Und ihm nicht sofort zugestimmt. Viel zu oft reden ihm die Leute nach dem Mund. Nur ganz wenige fordern ihn heraus – oder holen auch nur Luft, um ihm zu widersprechen.«
»Ich wollte nicht unhöflich sein...«, begann Brianna.
»Natürlich nicht«, fiel Joanna ihr ins Wort. »Diesen Eindruck würde niemand gewinnen. Atreus mag Menschen, die ihre eigene Meinung vertreten.«
»Aber letzten Endes zählt nur seine«, sagte Brianna leise.
»Gewiss, das ist wahr«, bestätigte Kassandra. »Sowie er eine Entscheidung getroffen hat, verstummen alle Diskussionen. Aber bevor er einen Entschluss fasst, denkt er gründlich und sorgfältig nach. Und er ist stets offen für intelligente, von Fakten gestützte Argumente. Schon mehrmals hat er seine ursprünglichen Ansichten geändert, von einleuchtenden Theorien überzeugt.«
Am Treppenabsatz blieb Brianna stehen. Nun hätte sie schweigend weitergehen können. Aber diese Frauen, ihre guten Freundinnen, standen ihr so nahe wie ihre Verwandten. »Dass er nicht starrsinnig auf seinem Standpunkt beharrt, finde ich erfreulich. Daheim glauben einige Leute, die gesamte akoranische Gesellschaft müsste sich neuen Ideen öffnen.«
»Meinst du die Helios-Mitglieder?«, fragte Joanna. »Diese Sonnenschein-Anhänger?«
»Ja, der Name bedeutet Sonnenschein«, stimmte Brianna zu. »Und sie wünschen, das Licht der Sonne würde politische Überlegungen erhellen, die geheim gehalten werden.«
»Wenn ihr mich fragt – da wird viel Lärm um nichts gemacht«, wandte Kassandra ein. »Nicht alles kann man an die Öffentlichkeit zerren und endlos lange erörtern. Und es wird immer heikle Dinge geben, die am besten von ein paar diskreten Leuten besprochen werden.«
»Die Helios-Anhänger scheinen harmlos genug«, bemerkte Joanna.
Kassandra zuckte die Achseln. »Vielleicht, aber lasst uns nicht vergessen – einige Mitglieder sitzen immer noch im Gefängnis, weil sie möglicherweise in den Mordanschlag auf Atreus vor einigen Monaten verwickelt waren.«
»Gegen diese Männer gibt es keine Beweise«, betonte Brianna, und Joanna schüttelte den Kopf.
»Die existieren sehr wohl. Doch sie wurden noch nicht bekannt gegeben.«
»Oh, ich verstehe... Wisst ihr, wann es so weit sein wird?« In den Falten des Reitrocks verborgen, ballten sich Briannas Hände. Das durften die Freundinnen nicht sehen.
»Schon bald, nehme ich an«, erwiderte Kassandra. »Atreus wollte Zeit gewinnen, damit sich die Wogen der öffentlichen Empörung glätten, die den Helios-Leuten gelten. Außerdem musste er hierher reisen. Vermutlich wird er nach seiner Heimkehr die Initiative ergreifen.«
Ein paar Minuten später trennten sie sich. Jede der drei jungen Frauen wurde von ihrer Zofe erwartet, und die langwierige Prozedur der Abendtoilette begann. Nur widerstrebend erduldete Brianna, dass sie gebadet, parfümiert und angekleidet wurde. Während sie ihr Haar bürsten ließ, dachte sie an die Gespräche dieses Tages – und an alles, was dahinter stecken mochte.
Vor allem erinnerte sie an die Begegnung mit einem Mann, den sie zu kennen geglaubt hatte. Offensichtlich war das ein Irrtum gewesen.