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Kapitel 3

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Einige Tausend vergoldete Kristalle spiegelten das Licht fast ebenso vieler Kerzen wider. Teils glitzerten sie an riesigen Lüstern, die von der Decke herabhingen, teils an den Wandleuchten zwischen den hohen Fenstern des Ballsaals. Der strahlend helle Glanz schien die Nacht in den Tag zu verwandeln. Als wollte sich die Atmosphäre der Natur auch auf andere Weise widersetzen, wuchsen Orangenbäume in gigantischen Silbertöpfen am Rand der Tanzfläche. Eine Woche vor Weihnachten prahlten mehrere Bäume mit duftenden Blüten. Doch die meisten hatte man bereits gezwungen, Früchte zu tragen.

»Erstaunlich«, murmelte Brianna, die noch zahlreiche andere Wörter gefunden hätte, um eine so hemmungslose Extravaganz zu beschreiben. Die Bereitschaft des Prinzregenten, solche Unsummen auszugeben, um seine persönlichen Launen zu befriedigen, während ein Großteil seiner Untertanen gegen qualvollen Hunger kämpfte, überstieg ihr Fassungsvermögen.

»Ja, nicht wahr?«, stimmte Joanna leise zu. »Letztes Jahr war ich mit Alex hier im Carlton House und durfte die Enthüllung dieses neuesten Wunders miterleben, auf das Prinny unheimlich stolz ist. Davon solltest du dich mit eigenen Augen überzeugen.«

Brianna spähte zum Ende der langen Menschenschlange. Dort stand der rundliche Hausherr, der die Gäste empfing und einem zügellosen Cherub glich. In Wirklichkeit regierte er England anstelle seines wahnsinnigen Vaters. Der Kontrast zwischen dem Prince of Wales und dem Mann an seiner Seite hätte nicht krasser ausfallen können. Erstens war Atreus mindestens einen Kopf größer und in ausgezeichneter körperlicher Verfassung. Und zweitens strahlte er Intelligenz, ein charmantes Wesen und echtes Interesse an den Menschen aus, die ihm vorgestellt wurden.

Wie er es fertig brachte, diese Freundlichkeit zu bekunden, verstand Brianna nicht. Nun wartete sie mit ihrer Begleitung schon über eine Stunde, um sich dem Prinzregenten zu präsentieren, und zahlreiche Angehörige der britischen Crème de la Crème trafen immer noch ein. Hoch elegant und kostbar gekleidet, atemlos vor Aufregung, fieberten sie den kostbaren Sekunden in der unmittelbaren Nähe des exotischen Herrschers entgegen, der sie alle entzückte. Die Gentlemen verhehlten nicht, wie rückhaltlos sie den königlichen Fremden respektierten. Aber manche Damen benahmen sich geradezu schockierend. Noch offenherziger hätten sie ihren Wunsch, dem Vanax von Akora ein etwas privateres Amüsement anzubieten, gar nicht zeigen können.

Nicht, dass es Brianna stören würde. Kein bisschen... Ganz im Gegenteil, je öfter er von seinen Bewunderern bedrängt wurde, desto seltener würde er sie mit diesem wissenden Blick beunruhigen.

»Und Sie sind...« Noch eine neugierige Dame starrte sie ungeniert an, und Brianna seufzte.

Vorhin hatte sie erklärt, sie würde sich lieber in eine stille Ecke setzen, statt in der scheinbar endlosen Empfangsreihe auszuharren. Davon wollten die beiden Ehepaare nichts hören. Sosehr sie deren Bemühungen auch würdigte – sie wusste sehr wohl, dass hier niemand bestrebt war, sie kennen zu lernen.

»Unsere liebe Freundin Brianna«, sagte Joanna mit einem frostigen Lächeln.

Die Erkenntnis, dass Joanna solche gesellschaftlichen Ereignisse ebenso hasste, wie sie Brianna jetzt verabscheuen lernte, spendete ihr einen gewissen Trost. Eine geborene Prinzessin, war Kassandra an diese Tortur gewöhnt. Aber auch sie verlor allmählich die Geduld.

»Wie nett«, murmelte die Lady unaufrichtig, eilte davon und starrte den Vanax an, die Augen von geradezu erschreckender Begierde erfüllt.

Und dann war es so weit – endlich wurden Brianna und ihre Gefährten von Prinny empfangen. Glücklicherweise verkündete er nur wenige Minuten später: »Genug! Bei Gott, ich schwöre, einige Gäste haben sich hier zweimal angestellt. Verdammte Unverschämtheit!« Mit einer herrischen Geste verscheuchte er den Rest der immer noch langen Warteschlange, die bis außerhalb seines Blickfelds reichte. Dann entdeckte er den verängstigten Majordomus, der in seiner Nähe wartete. »Musik! Möglichst lebhaft! Wie immer gibt’s keinen Platz zum Tanzen. Dagegen kann man nichts machen.« Zu Atreus gewandt, fügte er hinzu: »Eins muss ich Ihnen lassen, Sie haben einige meiner Lords hinter dem Ofen hervorgeholt, die ich seit einer Ewigkeit nicht mehr sah. Ich dachte schon, ein oder zwei wären gestorben.«

»Zweifellos suchen die Leute vor allem Ihre Gesellschaft, Hoheit«, erwiderte Atreus diplomatisch.

»Wohl kaum. Kommt es auf Akora auch zu solchen Menschenaufläufen?«

»In gewisser Weise. Bei uns gibt es ein Sprichwort, und das lautet: Wenn man jemanden treffen will, sollte man im Palasthof von Ilius nach ihm suchen, weil dort jeder irgendwann einmal aufkreuzen wird.«

Prinny warf dem Vanax einen Blick zu, der erkennen ließ, dass sein Verstand – in der Jugend hellwach – noch nicht vollends eingeschlafen war. »Ein Palasthof? Eigentlich dachte ich, die Akoraner wären eher unkultiviert, ein bisschen primitiv, falls Sie mir die Bemerkung verzeihen. Offenbar habe ich mich geirrt.«

Atreus lächelte schwach. »Um solche Missverständnisse zu beseitigen, fuhr ich hierher, Hoheit.«

»Sehr klug – so was muss man klarstellen. Letzten Endes erspart man sich damit einige Schwierigkeiten.« Ein Gong erklang. »Ah, das Dinner!«, kündigte der Prinzregent an. Zum ersten Mal an diesem Abend zeigte er eine gewisse Begeisterung. »Wird auch Zeit. Wir werden Sie bestens verköstigen, Sire. Zumindest das kann ich Ihnen versprechen.«

»Man hat mir bereits von Ihrer erlesenen Tafel erzählt, Hoheit.« An der Spitze der dicht gedrängten Gästeschar folgte Atreus dem Hausherrn die geschwungene Treppe zu den Räumen auf der Ebene des Gartens hinab, wo das Dinner serviert wurde.

Nur wenige Schritte hinter den beiden Herrschern – nahe genug, um das Gespräch zu belauschen – biss Brianna auf ihre Lippen. Offenbar war dem Vanax zu Ohren gekommen, was die Freundinnen auch ihr erzählt hatten: Die Menüs im Carlton House waren so extravagant, dass man sie als grotesk bezeichnen musste. Außerdem stellten sie das Durchhaltevermögen der Gäste auf harte Proben, da sie aus ein paar Dutzend Gängen bestanden, wobei einer den anderen an Üppigkeit und Raffinesse übertraf. Manche Platten blieben auf den Tischen stehen, damit sich die Leute selbst bedienen und ihre Lieblingsspeisen bevorzugen konnten; andere Gerichte wurden nur einmal angeboten und dann entfernt.

Von den exquisiten Leckerbissen kostete Brianna nur ganz wenige, begnügte sich mit einem kleinen, in Teig gebackenen Seezungenfilet, einem Stückchen Lamm in Gelee und ein bisschen gebuttertem Hummer. Etwas mehr nahm sie sich von den Petersilienkartoffeln, die ihr sehr gut schmeckten. Auf die Pastete mit den Innereien, den Schinkenpudding, das Hasencurry, die Rehkeule und diverse andere Köstlichkeiten verzichtete sie.

Trotz einiger Vorbehalte fand sie die Mahlzeit interessant und wurde nicht enttäuscht – nur überrascht. Während der Tisch für das Dessert frisch gedeckt wurde, bemerkte sie einen Gentleman, der ihr gegenübersaß und sie zu beobachten schien. Da ihr kein Grund einfiel, warum er das tun sollte, glaubte sie zunächst, sie würde sich irren. Aber einige Minuten danach schaute sie – rein zufällig – wieder in seine Richtung und gewann den gleichen Eindruck.

Zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, das schüttere rötliche Haar von der hohen Stirn straff nach hinten gekämmt, wirkte er nicht unsympathisch. Sein Blick wirkte eindringlich, aber nicht dreist. Als sie ihn musterte, verwirrte sie ihn so sehr, dass er die Speisen auf seinem Teller ignorierte und es sogar versäumte, eine Bemerkung des Gastes zu seiner Linken zu beantworten.

Wie sie sich in dieser Situation verhalten oder ob sie überhaupt etwas unternehmen sollte, wusste sie nicht. Von einer Konversation am Kopfende der Tafel abgelenkt, schaute sie erst nach einer Weile wieder zu dem Mann hinüber, der sie immer noch beobachtete.

Bald erforderte etwas anderes ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie war sicher, der Vanax würde ihre Anwesenheit kaum registrieren. Doch da täuschte sie sich. Während der Prinzregent gelierte Orangenspalten in seinen Mund stopfte, hörte sie Atreus sagen: »Nicht nur ich besuche das Carlton House zum ersten Mal, Sire. Ich glaube, auch Brianna war nie zuvor hier.«

Nachdem Prinny die Orangen hinuntergeschluckt hatte, runzelte er die Stirn. Sie war ihm vorgestellt worden. Also wusste er, wer sie war, hatte aber erwartungsgemäß keine Notiz von ihr genommen. Bis jetzt. »Tatsächlich? Und was halten Sie von meiner Residenz, junge Dame?«

Verblüfft, weil der Vanax von Akora das Interesse des Prinzregenten mit Absicht auf ihre Person gelenkt hatte, antwortete sie: »Ein ungewöhnliches Gebäude, Hoheit. Offen gestanden, so etwas konnte ich mir gar nicht vorstellen.«

In der felsenfesten Überzeugung, dieser Kommentar wäre ein Kompliment, schenkte ihr der Prinzregent ein strahlendes Lächeln. »Hart genug musste ich arbeiten, um ein so traumhaftes Ergebnis zu erzielen, das dürfen Sie mir wahrlich glauben. Diese Architekten sind zu nichts nutze. Alles verschlampen sie, wenn man ihnen nicht ständig auf die Finger schaut. Aber ich ließ ihnen nichts durchgehen. ›Bloß nicht knausern‹, schärfte ich ihnen ein. ›Dies und das soll noch größer und noch schöner werden.‹ Letzten Endes hörten sie auf mich. Aber ich sage Ihnen, ein anderer an meiner Stelle hätte es aufgegeben.«

»Aber nicht Sie, Sire«, murmelte Brianna.

»Genau – ich nicht! Von Sparmaßnahmen wollte ich nichts wissen. Wirklich geschmacklos, so was...« Schmollend schnitt er eine Grimasse, wie ein Kind, dem man eine Süßigkeit verweigerte. Zu Atreus gewandt, fuhr er fort: »Solche Probleme haben Sie vermutlich nicht, oder? Wie mir Hawkforte erzählt hat, müssen Sie sich mit keinem Parlament herumschlagen. In alten Zeiten war’s hier ebenso, und ich hätte damals viel lieber gelebt.«

»Ganz so einfach ist es nicht auf Akora«, entgegnete Atreus leichthin, fing den Blick seines Schwagers ein und hob die Brauen.

»Ich habe die Frage Seiner Hoheit nach den Besonderheiten der akoranischen Regierung beantwortet«, erklärte Royce und nickte Prinny zu. »Wie Sie sich vielleicht entsinnen, Sire, erwähnte ich, auf Akora würde kein formelles Parlament existieren. Stattdessen gibt es ein althergebrachtes System, das aus Beratungen und Kompromissen besteht. Daran hält man sich mehr oder weniger.«

»Muss ziemlich ermüdend sein«, meinte der Prince of Wales, nachdem er einige Sekunden lang darüber nachgedacht hatte.

»Mit der Zeit entwickelt sich dieses System zur zweiten Natur«, versicherte sein königlicher Gast.

Nun drehte sich das Gespräch um andere Themen. Trotzdem spürte Brianna immer wieder Atreus Blick, dem sie jedes Mal auswich. Das bereitete ihr einige Mühe. Darauf konzentriert, erschrak sie, als sie merkte, dass sie immer noch von dem rothaarigen Gentleman gemustert wurde. Bis zum Ende des opulenten Dinners ließ er sie kaum aus den Augen. Dann erhoben sich die Gäste von der Tafel. Erstaunlich schnell verschmolz er mit der Menge, und während des restlichen Aufenthalts im Carlton House sah sie ihn nicht wieder.

Kassandra und Royce suchten ihr eigenes Haus auf, Brianna kehrte mit Atreus, Alex und Joanna zur Mayfair-Residenz zurück. Dort erlebte sie eine weitere Überraschung. Der Vanax stieg aus der Kutsche und reichte ihr seine Hand. Instinktiv griff sie danach, er half ihr aus dem Wagen, und sie spürte die warme Kraft seiner Finger, die ihre umschlossen. Heiße Freude erfüllte ihr Herz – gefolgt von beklemmendem Unbehagen.

»Haben Sie den Abend genossen, Brianna?«

Sie hörte die Frage. Doch es fiel ihr schwer, über eine Antwort nachzudenken. Denn statt sie loszulassen, legte er ihre Hand in seine Armbeuge und führte sie die breiten steinernen Stufen zur Doppeltür hinauf. »Es – war sehr interessant«, brachte sie schließlich mühsam hervor.

Da lachte Atreus, und der tiefe, volle Klang seiner Stimme besänftigte ihre Nerven nicht im Mindesten. »Oh, Sie sind eine Diplomatin.«

»Keineswegs, Sire, ich versuche nur, die Gefühle meiner Mitmenschen zu berücksichtigen.«

»Darin liegt das Wesen der Diplomatie – man sollte die Person abschätzen, mit der man zu tun hat, genau ergründen, worauf sie positiv oder negativ reagieren wird, und sich entsprechend verhalten.«

»Sicher steckt noch viel mehr dahinter.«

»Alles Weitere ist einfach nur ausgefeiltes Beiwerk. Übrigens, ich finde Ihr Kleid sehr hübsch, Brianna. Die englische Mode ist zweifellos eine willkommene Abwechslung nach all dem Weiß.«

Auf Akora war Weiß die Farbe der Jungfrauen, und sie hatte angenommen, sie würde bis zu ihrer Hochzeit keine andere tragen. Aber nach der Ankunft in London hatte sie sich dem hiesigen Lebensstil angepasst. Und ihr gefiel das dunkelblaue Abendkleid. In aller Bescheidenheit hatte sie festgestellt, wie wundervoll es mit ihrem leuchtend roten Haar harmonierte.

Oder sie hatte sich darüber gefreut, bevor ihr bewusst geworden war, dass Atreus’ Kommentar viel zu vertraulich wirkte. »Danke...«, murmelte sie.

Einer der akoranischen Krieger, die in der Eingangshalle Wache hielten, öffnete die Tür. Beim Anblick des Vanax verbeugten sich alle. Freundlich nickte er ihnen zu. Dann schaute er Brianna abwartend an. »Ihr Umhang.«

Warum musste er sie immer wieder verwirren? Verlegen kämpfte sie mit der Verschnürung am Hals und streifte das Cape von den Schultern, das er lächelnd ergriff und einem Lakaien reichte.

»Ein Schlummertrunk?«, schlug Alex vor.

»Für mich nicht«, erwiderte Joanna lächelnd. »Viel zu früh wird der morgige Tag erwachen – und mit ihm unsere süße kleine Amelia. Aber ihr drei solltet euch nicht stören lassen.«

»Auch ich möchte mich entschuldigen«, sagte Brianna leise. »Beinahe schlafe ich schon im Stehen ein.«

»Heute Abend haben Sie Ihre Sache sehr gut gemacht«, meinte Atreus, »und ich kann Ihnen nachfühlen, dass Sie erschöpft sind.«

Sie blickte auf – und noch etwas höher nach oben. Also wirklich, dieser Mann war viel zu groß. Außerdem schien sie ihn dauernd zu amüsieren, und das ärgerte sie allmählich. »Ich habe gar nichts getan.«

Offenbar hätte er die Konversation fortgesetzt, wäre Joanna ihm nicht zuvorgekommen. »Das reicht jetzt«, entschied sie energisch. »Gehen wir hinauf, Brianna, höchste Zeit fürs Bett. Alex, Liebster, ich erwarte dich oben.«

»Unsinn, meine Süße, du musst nicht auf mich warten«, entgegnete ihr Ehemann.

»Doch.« Brianna im Schlepptau, wandte sie sich zur Treppe und rief über die Schulter: »Ich muss mit dir reden, teurer Gemahl! Gute Nacht, Atreus, ich freue mich so, dass du bei uns bist.«

Neugierig überlegte Brianna, was ihre Freundin mit Alex besprechen wollte. Zu ihrem Bedauern fand sie nicht die richtigen Worte, um taktvoll danach zu fragen – obwohl ihr Verstand hellwach war, mochte sie auch körperlich ermattet sein.

Erst viel später, nachdem sie sich von Joanna verabschiedet, ihre Zofe entlassen hatte und in ihr breites Bett gesunken war, kehrten ihre Gedanken zu Atreus zurück. Er zog sie in einen magischen Bann und verwirrte sie, erregte eine seltsame Sehnsucht und machte ihr ein bisschen Angst.

Das nahm sie ihm übel, denn es gab ohnehin schon genug Probleme.

Bevorzugte er tatsächlich Menschen, die eine eigene Meinung vertraten? Mittlerweile begann sie daran zu glauben.

Ihr Kleid hatte ihm gefallen – und vor allem sie in der dunkelblauen Seide. Da war sie sich ganz sicher.

Was für eine bemerkenswerte Geduld und Disziplin er besaß... Den schwierigen Prinzregenten hatte er geradezu meisterhaft behandelt.

Und sie? Auch sie hatte er unzweifelhaft behandelt, wenn sie auch nicht wusste, auf welche Weise.

Irgendetwas wollte Atreus von ihr, der Vanax von Akora und erhabene Spross der Atreiden. Was das sein mochte, konnte sie sich nicht vorstellen. Aber bevor sie ins Reich der Träume hinüberglitt, ahnte sie, dass sie es bald erfahren würde.

Noch ehe das erste graue Licht der winterlichen Morgendämmerung die Sterne herausforderte, stieg Atreus aus dem Bett. Schon vor langer Zeit hatte er gelernt, wie wichtig es war, Zeit für sich selbst zu finden, bevor ihn die Geschäfte des Tages beanspruchten. Und so erwachte er stets sehr früh. Wie gewohnt verbrachte er die nächsten Minuten mit Meditationen und Gebeten.

Dabei dachte er wieder einmal an Brianna. Seit seiner Ankunft in England schweiften seine Gedanken immer öfter zu ihr, was ihn nur teilweise erfreute. Sie war eine Vollwaise, das ließ sich nicht ändern. Diese Tatsache musste er akzeptierten, damit zurechtkommen – und vor allem entscheiden, was er tun oder nicht tun würde.

Aber an diesem Morgen kam er einem solchen Entschluss nicht näher. Gebadet und angekleidet, immer noch unzufrieden, konzentrierte er sich auf das Programm des bevorstehenden Tages.

Die Brüder trafen sich am Frühstückstisch. Während sie über den vergangenen Abend und insbesondere den Prinzregenten diskutierten, wurden sie von einem Wachtposten unterbrochen.

»Verzeihen Sie die Störung, Vanax. Prinz Alexandros, draußen wartet ein Engländer, der Sie sprechen möchte.«

»Um diese frühe Stunde?« Alex nahm die Visitenkarte entgegen, die der Akoraner ihm reichte, und studierte sie.

»William, Earl of Hollister. Den Namen habe ich schon einmal gehört, aber ich kenne den Gentleman nicht.«

»Sind Besuche um diese Zeit unüblich?«, erkundigte sich Atreus.

»Allerdings. Entweder kümmert sich Hollister nicht um die Gebote der Höflichkeit, oder er hält sein Anliegen für äußerst dringlich.«

»Wollen wir herausfinden, was ihn hierher führt?«, schlug Atreus vor.

Wenige Minuten später wurde der Earl of Hollister in den Frühstücksraum geleitet. Wenn er auch gefasst wirkte, schien er unter einer starken inneren Anspannung zu stehen. Beim Anblick des Vanax, der sich ebenso wie Alex erhob, um ihn zu begrüßen, runzelte der schlanke, rothaarige Mann verblüfft die Stirn. »Hoheit... Ich hatte keine Ahnung, dass ich Sie inkommodieren würde. Bitte, entschuldigen Sie...«

»Keine Ursache«, erwiderte Atreus.

Einladend wies Alex auf einen Stuhl. Dann betonte er: »Um diese Tageszeit achten wir nicht so sehr auf Förmlichkeiten.«

»Gewiss, es ist noch sehr früh«, gab Hollister zu und setzte sich an den Tisch. Auch die beiden anderen Männer nahmen wieder Platz. »Tut mir ehrlich Leid«, beteuerte der Earl. »Offen gestanden, die ganze Nacht habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, was ich tun soll. Und wie ich gestehen muss, ich konnte es kaum erwarten, Sie aufzusuchen. Und da ich dachte, Sie wären schon am Morgen sehr beschäftigt, fürchtete ich, Sie nicht anzutreffen.«

»Also geht es um eine sehr wichtige Angelegenheit?«

Hollister lächelte müde. »Ja und nein. Sechzehn Jahre musste es warten. Trotzdem glaube ich, es darf keinen Tag länger hinausgezögert werden.«

Die Brüder wechselten einen kurzen Blick.

»Sechzehn Jahre?«, wiederholte Atreus, und Hollister nickte.

»Vor sechzehn Jahren verschwand meine Kusine, Delphine Wilcox, geborene Hollister, zusammen mit ihrem Ehemann, einem gewissen Mr. Edward Wilcox, und ihrer Tochter, die damals etwa acht Jahre alt gewesen sein muss. Wir nahmen an, sie wären bei einem Schiffsuntergang ums Leben gekommen.«

»Und daran glauben Sie jetzt nicht mehr, Sir?«, fragte Alex.

»Nein, das ist mir unmöglich – weil ich gestern Abend einen gewaltigen Schock erlitt. Ich saß an der Tafel des Prinzregenten einer jungen Dame gegenüber, die meiner verstorbenen Kusine verblüffend ähnlich sieht. Zunächst gewann ich sogar den Eindruck, ich würde einen Geist erblicken.«

»Brianna«, sagte Atreus leise – seine künftige Gemahlin, der Geist seiner bedeutsamen Erinnerung und seiner Schuldgefühle.

»So lautet ihr Name, wie man mir erklärt hat. Und damit steht es fest. Das Kind meiner Kusine wurde auf diesen Namen getauft. Ohne jeden Zweifel ist die vermeintliche junge Akoranerin, eine Freundin Ihrer Familie, Lady Brianna Wilcox. Den Titel hat sie von der Familie ihrer Mutter geerbt. Und vielleicht darf ich hinzufügen – ihre englischen Verwandten werden sie mit offenen Armen willkommen heißen.«

Unfähig, seine Erregung noch länger zu verhehlen, schaute Hollister von einem Gastgeber zum anderen.

»Wie das alles geschehen konnte, begreife ich nicht«, fügte er hinzu. »Natürlich sind wir alle froh, dass Brianna noch lebt und wohlauf ist – insbesondere, weil die Akoraner im Ruf stehen, allen Außenseitern feindselig zu begegnen. Aber warum haben Sie ihr niemals die Heimkehr zu ihrer Familie ermöglicht?«

Alex schwieg, und Atreus antwortete: »Darum haben wir uns bemüht. Vor sechzehn Jahren wurde Brianna schwer verletzt an die Küste Akoras gespült. Sie erholte sich, aber ihre Erinnerungslücken schlossen sich nicht. Nur ihren Namen kannte sie – Brianna Wilcox. Und dank ihrer Sprache wussten wir, dass sie aus England stammen musste. Ansonsten gab es keine Anhaltspunkte. Selbstverständlich zogen wir in England Erkundigungen ein. Dabei stellte sich nichts heraus. Offenbar suchte niemand nach einem vermissten Ehepaar namens Wilcox oder dem Kind der beiden.«

Auf seinem Stuhl zurückgelehnt, schaute er Hollister eindringlich an.

»Vielleicht würden Sie jetzt eine Erklärung abgeben. Wie konnte Ihre Familie eine Tochter und eine Enkelin verlieren und diese Tatsache so wirkungsvoll geheim halten, dass unsere Agenten nichts herausfanden?«

»Hoheit...«

»Rechtfertigen Sie sich!«, fiel Atreus dem Earl ins Wort. »Oder die Angelegenheit ist hiermit abgeschlossen. Als Vanax bin ich für das Wohl aller Akoraner verantwortlich, und das gilt auch für Brianna. Niemals werde ich sie über die Existenz einer Familie informieren, die mir nicht die ganze Wahrheit über gewisse Hintergründe anvertraut.«

Obwohl Hollister erblasste, nahm sein Gesicht einen energischen Ausdruck an. »Nun, das alles ist sehr bedauerlich. Mein Onkel, von dem ich den Titel geerbt habe, missbilligte die Heirat meiner Kusine. Deshalb kam es zu einer Entfremdung. Der verstorbene Earl, ein sehr willensstarker Mann, ertrug es nicht, wenn sich irgendjemand seinen Wünschen widersetzte. Und weil er dem jungen Ehepaar das Leben in England zur Hölle machte, flüchteten die beiden auf den Kontinent. Nie wieder wurde Delphine erwähnt. Viele Jahre später, nach dem Tod meines Onkels, fand ich interessante Unterlagen in seinen Papieren. Daraus ging hervor, dass er vom Verschwinden seiner Tochter wusste und Nachforschungen anstellen ließ, um herauszufinden, was geschehen war. Doch das hatte er uns verschwiegen. Nachdem er uns befohlen hatte, Delphine einfach zu vergessen, war in unserer Familie nie mehr über sie gesprochen worden. Das muss der Grund gewesen sein, warum Ihre Agenten nichts in Erfahrung brachten, Hoheit.«

»Welch eine schreckliche Zeitverschwendung«, murmelte Alex.

»In der Tat«, stimmte Hollister zu. »Und jetzt möchte ich einiges wiedergutmachen.« Er wandte sich erneut an Atreus. »Seien Sie versichert, Hoheit, meine Familie wird Brianna freudig und liebevoll aufnehmen – und stets für ihr Wohl sorgen. England ist ihre Heimat. Und wie ich betonen möchte – hier hat sie die allerbesten Zukunftsaussichten.«

»Sie erfreut sich bereits einer Heimat und einer Familie«, erwiderte Atreus in ruhigem Ton. »Und was ihre Aussichten betrifft...« Abrupt verstummte er. Dieser Engländer warf ein Problem auf. Wenn Brianna nicht erfuhr, woher sie stammte, würde sie niemals wahren inneren Frieden finden. Und das musste ihre Seele zutiefst verletzen. Auf Akora, wo angeblich die Krieger herrschten und die Frauen dienten, wuchs jeder Junge mit dem strengen Gebot auf, niemals einer Frau zu schaden. Dies hatte Atreus ebenso akzeptiert wie eine andere Verantwortung, die ihn möglicherweise in ernsthafte Konflikte mit seinem Gewissen stürzen würde.

Wenn er Brianna von ihrer englischen Verwandtschaft erzählte, würde sie sich vielleicht ein Leben wünschen, das er ihr nicht gestatten durfte. Sonst würde er seine vorrangigen Pflichten gegenüber Akora vernachlässigen.

»Darüber muss ich nachdenken«, entschied er und stand auf. »Bevor ich eine Entscheidung treffe, werden Sie nicht an Brianna herantreten. Ist das klar?«

Auch Hollister erhob sich. »Gewiss, Hoheit«, willigte er ein und verbeugte sich steif. »Aber ich hoffe inständig, Sie werden den richtigen Entschluss fassen. Niemandem wäre gedient, sollten Sie das Unrecht, das mein Onkel beging, auf sich beruhen lassen.«

Nachdem Hollister die Tür hinter sich geschlossen hatte, seufzte Alex tief auf. »Was für eine verdammte Situation!«

»Ja, äußerst problematisch... Könntest du möglichst viele Informationen über die Familie Hollister sammeln? Ich möchte alles wissen – die Geschichte, den Ruf, das Vermögen.«

»Wirst du Brianna einweihen?«

Atreus zögerte. »Das weiß ich noch nicht. Wäre es denkbar, dass Hollister meine Anweisung missachtet und ein Gespräch mit Brianna sucht?«

»Wohl kaum... Zumindest nicht während der nächsten Tage«, schränkte Alex nach einer kurzen Pause ein. »Doch er wird sich nicht allzu lange gedulden. Offensichtlich ist er von seiner Mission überzeugt, jenes alte Unrecht aus der Welt zu schaffen.«

»Und vielleicht wird er ein neues Unrecht gegen mein Land begehen, über das er nichts weiß. Er hat auch gar keinen Grund, Rücksicht auf Akora zu nehmen.«

»Ziemlich delikat, dieses Dilemma. Nun möchte ich dir zweierlei vorschlagen: Informieren wir Royce sogleich, und bitten wir ihn um Hilfe. Wahrscheinlich kann er uns einiges über die Hollisters mitteilen. Außerdem solltest du deine Heiratsabsichten mit Brianna besprechen. Wenn mich nicht alles täuscht, spüren Joanna und Kassandra bereits, dass irgendetwas in der Luft liegt. Letzte Nacht hat Joanna mich ohne Umschweife gefragt, ob Brianna dein privates Interesse erregt hat.«

»War das so offensichtlich?« Stöhnend schnitt Atreus eine Grimasse.

»Keineswegs, aber die Damen... In gewissen Situationen sind ihre Instinkte den unseren weit überlegen.«

»Mit deiner ersten Empfehlung bin ich einverstanden...« Atreus unterbrach sich, und ein paar Sekunden später setzte er dezidiert hinzu: »Mit der zweiten nicht. Wenn ich Brianna ankündige, dass wir heiraten werden, möchte ich mich nicht von anderen Dingen ablenken lassen. Sobald meine Geschäfte in England erledigt sind...«

»... wirst du dich hinreichend befreit fühlen, um deine bemerkenswerten Überredungskünste anzuwenden«, vollendete Alex grinsend den Satz seines Bruders.

»So ungefähr. Nächste Woche fahren wir nach Hawkforte. Dort müsste sich eine Gelegenheit ergeben, die Sache zu regeln.«

»Noch dazu in einer geeigneten Umgebung. Diese romantische Atmosphäre...«

»Ach ja, ich entsinne mich – die hast du damals genutzt und Joanna gebeten, deine Frau zu werden.«

»Genau. Außerdem haben Royce und Kassandra auf meinem Landsitz ihre Differenzen bereinigt und zu heiraten beschlossen.«

»Nun, dann kann ich mir kein besseres Ambiente wünschen.«

Nachdem Atreus seine privaten Pläne geschmiedet hatte, lenkte er seine Aufmerksamkeit in andere Bahnen. Am späteren Vormittag stand eine Besprechung mit Lord Liverpool und einigen anderen Regierungsmitgliedern auf dem Programm. Und am Nachmittag würde er ein halbes Dutzend reiche, mächtige Geschäftsmänner treffen. Begierig strebten sie Handelsbeziehungen mit Akora an. Abends würde er den Ball besuchen, den Alex und Joanna ihm zu Ehren veranstalteten. Und so lag ein ereignisreicher Tag vor ihm.

Das alles nahm er klaglos hin. Pflicht war sein Leben, sein Leben die Pflicht. Nicht einmal in seiner Kindheit hatte er diesen Grundsatz infrage gestellt. Und der Ritus seiner Wahl zum Vanax hatte nur bestätigt, was ihm von Anfang an bestimmt gewesen war. Aber trotz diverser Geschäfte kehrten seine Gedanken immer wieder zu Brianna zurück. Deutlich genug erinnerte er sich an die zögernde Vorsicht in ihren Augen, die natürliche Anmut in ihren Bewegungen, die Art, wie sich ihr Körper in seiner Nähe ein wenig versteifte, an ihre innere Abwehr.

Während er am Fenster stand und den winterlichen Garten betrachtete, dachte er weder an Liverpool noch an den Prinzregenten, nicht einmal an Akora – sondern an leuchtende waldgrüne Augen, den feurigen Glanz seidiger Haare und Briannas Lächeln, die fragende Neigung ihres Kopfs – die Melodie ihrer Stimme...

Warum wichen seine normalerweise so disziplinierten Gedanken vom vorgegebenen Weg ab? Verwirrt kehrte er dem Fenster den Rücken.

Den kleinen braunen Sperling, der draußen umherhüpfte und Brotkrumen aufpickte, sah er nicht.

Am Fenster ihres Schlafzimmers, das zum Garten hinausging, brach Brianna noch ein kleines Stück von dem Brötchen ab, das sie von ihrem Frühstückstablett genommen hatte, und warf es dem Vogel zu. Zwischen den geöffneten Läden drang kalte Luft herein, und sie erschauerte ein wenig. Doch sie war viel zu sehr mit ihren Schwierigkeiten beschäftigt, um diese kleine Unannehmlichkeit wahrzunehmen.

Von einem anderen Fenster aus hatte sie den rothaarigen Gentleman davongehen sehen, mit ernster, sichtlich entschlossener Miene.

Wer mochte er sein? Warum war er zu so früher Stunde hierher gekommen? Seine Ankunft hatte sie nicht beobachtet. Deshalb wusste sie nicht, ob er empfangen oder abgewiesen worden war. Wie auch immer, er hatte sich hier eingefunden. Dahinter musste eine ganz bestimmte Absicht stecken. Hing sie mit dem auffälligen Interesse zusammen, das er im Carlton House an ihr gezeigt hatte?

In ihrem Herzen regte sich eine schwache, unbestimmte Hoffnung. So viel hatte sie verloren – ihre Heimat, ihre englische Familie und einen Großteil ihrer Identität. Und doch war ihr so viel gegeben worden – eine andere Heimat, eine andere Familie, ein neues Leben. Und während sie die lückenlose Wahrheit über sich selbst erfahren wollte, empfand sie gleichzeitig den Wunsch, dem Menschen treu zu bleiben, zu dem sie sich entwickelt hatte.

Sie warf die letzten Krumen in den Garten hinaus, dann schloss sie das Fenster. Noch eine ganze Weile hüpfte der Vogel umher. Aber Brianna achtete nicht mehr auf ihn, andere Dinge erforderten ihre Konzentration.

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