Читать книгу Insel meines Herzens - Josie Litton - Страница 7
Kapitel 4
ОглавлениеKeine Ahnung...« Bei diesem Geständnis runzelte Joanna zerknirscht die Stirn. »Tut mir Leid, mir ist gestern Abend im Carlton House kein rothaariger Mann aufgefallen. Kannst du dich an so jemanden erinnern, Kassandra?«
»Nur vage...« Kassandra streckte ihre bestrumpften Füße aus, um sie am Kaminfeuer zu wärmen. »Im Hintergrund meines Bewusstseins lauert irgendetwas... Aber ich kriege es nicht zu fassen. Wann, hast du gesagt, war er heute hier, Brianna?«
»Kurz nach sieben Uhr morgens sah ich ihn weggehen.«
»Wer würde so früh zu Besuch kommen?«, fragte Joanna und schaute ihre Schwägerin an.
Seufzend zuckte Kassandra die Achseln. »Niemand, von dem ich gehört hätte. War Alex schon wach?«
»Ja, und bereits auf den Beinen.«
Da Kassandra die Gewohnheiten ihrer Brüder von Akora her kannte, meinte sie: »Vermutlich hat er mit Atreus zusammen gefrühstückt. Die beiden treffen sich oft im Morgengrauen, um Geschäfte zu besprechen.«
»Ja, so wird’s gewesen sein.« Zu Brianna gewandt, fügte Joanna hinzu: »Ich werde mich mal umhören.«
»Möglichst diskret, wenn es dir nichts ausmacht«, bat Brianna.
Beide Frauen lachten, und Kassandra nickte der besorgten Freundin zu. »Nur keine Bange.«
Nachdem Joanna geläutet hatte, erschien Mrs. Mulridge. Die schwarz gekleidete Haushälterin wirkte nicht überrascht, weil sie gerufen wurde. Ganz im Gegenteil, damit hatte sie offensichtlich gerechnet.
»Kurz vor sieben Uhr traf der rothaarige Gentleman ein«, beantwortete sie die Frage ihrer Herrin. »Er gab einem der akoranischen Wachtposten seine Visitenkarte, und der Mann trug sie ins Frühstückszimmer, wo Ihre beiden Lordschaften am Tisch saßen. Ein paar Minuten später wurde er hineingeführt, dann blieb er etwa eine Viertelstunde drinnen.«
»Was Sie alles in Erfahrung bringen, bewundere ich immer wieder, Mrs. Mulridge«, beteuerte Kassandra. »Nicht nur über diesen Haushalt, sondern auch über meinen eigenen.«
»Danke, Ma’am.«
»Haben Sie festgestellt, wie der Gentleman heißt?«, erkundigte sich Joanna.
Die Haushälterin zauderte. »Danach sollten Sie Ihre Lordschaften fragen.«
»Gewiss, das könnten wir...«, bestätigte Joanna. »Aber es ist viel interessanter, etwas zu wissen, von dem sie nicht wissen, dass wir’s wissen.«
Eine Zeit lang starrte Mrs. Mulridge, die – falls Joannas Informationen stimmten – nie verheiratet gewesen war, nachdenklich vor sich hin. »Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen ...«, entgegnete sie schließlich. »Also gut, wenn ich mir auch nicht ganz sicher bin, ich glaube, er gehört zu den Hollisters.«
»Vermutlich meinen Sie die Familie Hollister, die ein Landgut in Holyhood besitzt. Das liegt nicht weit von Hawkforte entfernt. Wie bemerkenswert... Geht es dir nicht gut, Brianna?« Besorgt musterte Joanna das bleiche Gesicht ihrer Freundin.
Als die mögliche Identität des rothaarigen Gentleman erwähnt worden war, hatte Brianna nichts empfunden. Doch der Name Holyhood...
Vor einigen Monaten hatte sie in der Bibliothek gesessen, die Zeichnung eines Hauses namens Holyhood betrachtet und das Erwachen nebelhafter Erinnerungen verspürt. Auf so wenig konnte sie sich besinnen, was die ersten acht Jahre ihres Lebens betraf. Umso kostbarer erschien ihr jedes auch noch so winzige Fragment.
Dieses Haus kannte sie. Denn sie hatte darin gewohnt.
Und jetzt versuchte jemand aus Holyhood, Verbindung mit ihr aufzunehmen.
Sechzehn Jahre lang hatte sie auf Akora gelebt. Dort war sie zur Frau herangewachsen. Sie verstand das heikle Gleichgewicht, das zwischen den traditionellen Denkweisen der Krieger und den Anschauungen der Akoranerinnen herrschte. Und sie hatte die Kunst erlernt, die besten Wesenszüge der Männer zu fördern.
Sowohl diese Ausbildung als auch ihre Instinkte rieten ihr zu Sanftmut, Geduld und Nachsicht.
Zum Teufel mit der Ausbildung und allen Instinkten...
»Wo ist der Vanax?«, fragte sie.
»Heute Vormittag hält er Besprechungen mit Regierungsmitgliedern ab«, antwortete Joanna, »nachmittags trifft er sich mit Geschäftsleuten. Und am Abend findet unser Ball statt.«
Ach ja, der Ball – das grandiose Ereignis, auf das sich der ganze Haushalt seit zwei Wochen vorbereitete...
»So gern ich auch hier sitzen bleiben würde«, sagte Kassandra, »ich glaube, allmählich sollten wir an die Arbeit gehen.«
Seufzend stand Joanna auf. »Kommst du, Brianna?«
»Was...? Oh – ja, natürlich.« Sie würde ihren Freundinnen sehr gern helfen. Aber der Gedanke, der im Hintergrund ihres Bewusstseins gelauert hatte, nahm klare Gestalt an. Der Ball würde nicht ewig dauern. Und danach wollte sie Atreus zur Rede stellen.
Am späteren Nachmittag entstand der Eindruck, die Vorbereitungen für den Ball würden niemals ein Ende nehmen. Ein letztes Mal wurden die Böden gewachst, die Fensterscheiben spiegelblank geputzt. Jedes einzelne Möbelstück staubten die Dienstboten ab und polierten es, jeden Teppich klopften sie. Scheinbar waren alle Blumen aus sämtlichen Treibhäusern im Fünfzig-Meilen-Umkreis von London in Vasen oder Schüsseln arrangiert, zu Girlanden geflochten und zu kleinen Buketts für die Damen zusammengebunden worden. Aus dem Küchentrakt wehten Aromen heran, die einem den Mund wässerig machten. Aber niemand fand genug Zeit, um auch nur einen Bissen zu kosten. Lakaien und Dienstmädchen eilten hin und her, im Lauf des Tages mit immer schnelleren Schritten. In jedem Raum loderte ein helles Kaminfeuer, das die winterliche Kälte verscheuchte, den Blumenschmuck schützte und feuchte Abendluft fern hielt.
Inmitten der regen Geschäftigkeit rauschte Madame Duprès ins Haus und kümmerte sich um die letzten Finessen an den Ballkleidern der Damen. Sogar die extravagante Schneiderin erkannte die enorme Bedeutung dieses gesellschaftlichen Höhepunkts. Glücklicherweise begnügte sie sich mit einem kurzen Besuch.
Nachdem sie gegangen war, passierten mehrere Missgeschicke.
»So etwas lässt sich nun mal nicht vermeiden«, murmelte Joanna und besänftigte ein hysterisches Hausmädchen, das versehentlich ein leinenes Tischtuch versengt hatte. »Milch!«, rief sie. »Du musst einfach ein bisschen Milch darauf schütten. Außerdem haben wir noch andere Tischtücher.«
»In der Küche ist ein Abfluss verstopft«, berichtete Kassandra, während sie vorbeirannte, um festzustellen, was man dagegen unternehmen konnte.
»Jetzt sind die Musiker angekommen«, wandte sich Mrs. Mulridge zu Brianna, die einzige der drei Damen, die sich in der Eingangshalle aufhielt. »Und wenn mich nicht alles täuscht, ist der Geiger betrunken.«
»Servieren Sie ihm eine Tasse Tee«, wies Brianna die Haushälterin an. »Wenn das nichts nützt, sollen ihn die Lakaien in den Stall bringen und in einem Pferdetrog untertauchen.«
Anerkennend nickte Mrs. Mulridge. »Was für ein ausgezeichneter Ratschlag, Miss!«
»Die Köchin behauptet, die Zitronen seien verdorben«, meldete Kassandra, als sie aus der Küche zurückkehrte, nur ein kleines bisschen ermattet. »Und sie hat zu wenig Petersilie.«
»Um Himmels willen, erzähl das bloß nicht Joanna!«, mahnte Brianna. Soeben hatte sie eine verzweifelte Floristin beruhigt, die herausgefunden hatte, dass die Rosen – ein paar Hundert – nicht von den Dornen befreit worden waren. »Sie hat schon genug Sorgen. Vorhin ist sie nach oben gegangen, um Amelia zu stillen.«
»Aber sie wollte die gedeckten Tische ein letztes Mal inspizieren – und sich entsinnen, welche Streitigkeiten, Fehden und Rivalitäten während der vergangenen vierundzwanzig Stunden entbrannt sind. Ich möchte ihr nur rasch den Plan von der Tischordnung bringen.«
»Glaubst du wirklich, es war eine gute Idee?« Brianna stieg mit Kassandra die Treppe hinauf.
Langsam verebbten die hektischen Aktivitäten im Erdgeschoss. Das Tafelsilber und das Kristallgeschirr waren noch einmal poliert worden, die Tische vollständig gedeckt. Nun stimmten die Musiker – auch der Geiger – ihre Instrumente. Den qualmenden Kamin hatte ein Lakai repariert. Alles, wobei Brianna möglicherweise noch helfen könnte, war erledigt oder befand sich in kompetenten Händen. Jetzt würde sie endlich Atem holen und sich selber auf das Fest vorbereiten, so gut sie es vermochte.
»Was meinst du?«, fragte Kassandra. »Dass Whigs und Torys eingeladen wurden? Ob’s eine gute Idee war oder nicht – jedenfalls ist’s höchste Zeit dafür. Wahrscheinlich sind Alex und Joanna die einzigen Gastgeber von ganz London, die es wagen durften.«
»Wie auch immer, die Gästemischung verspricht einen hochinteressanten Abend.«
Kassandras perlendes Gelächter wies darauf hin – falls das überhaupt nötig war –, dass sie als Prinzessin in der Kunst höfischer Intrige bestens geschult war. »Um nichts auf der Welt möchte ich das Fest versäumen.«
»Ah, sehr gut...« Joanna hatte den Kopf zu ihrer Tür herausgestreckt und die Papiere in der Hand der Schwägerin gesehen. Erleichtert seufzte sie. »Also hast du die Tischordnung mitgebracht. Vorhin erhielt ich die Nachricht, Lord Bromley und Lord Duchamps seien heute Morgen mit einer bestürzenden Information überrascht worden. Letztes Jahr haben sie dieselbe Geliebte geteilt. Darüber freut sich weder der eine noch der andere.«
»Wenigstens haben Lady Bromley und Lady Duchamps ein faszinierendes Gesprächsthema«, höhnte Kassandra.
»Diese Nachricht bekam ich von Lady Melbourne«, erklärte Joanna und drückte Amelia an ihre Schulter. »Kaum zu glauben, diese Frau tut mir einen Gefallen.«
»Weil sie dich akzeptiert hat«, erwiderte Kassandra. »Sie bewundert dich.«
»Mit gutem Grund«, ergänzte Brianna. »Übrigens, im Erdgeschoss ist alles in bester Ordnung.«
Dankbar lächelte Joanna die Freundin an. »Gott sei Dank! Große Bälle und Partys zu arrangieren, das zählte niemals zu meinen herausragenden Fähigkeiten. Eigentlich habe ich so etwas immer gehasst. Aber nach der Hochzeit musste ich’s lernen. Trotzdem fällt es mir ziemlich schwer, Prinny und die Whigs und die Torys ins Haus zu bitten. Nur Atreus zuliebe nehme ich diese Tortur auf mich. Für keinen anderen würde ich’s tun.«
Oh ja, Atreus... Den ganzen Tag hatte Brianna den Gedanken an den Vanax in ihr Unterbewusstsein verdrängt. Jetzt erschien er an der Oberfläche und im Mittelpunkt weiterer Überlegungen. Atreus und Hollister. Hollister und Atreus. Und Holyhood, das mysteriöse Holyhood, in einen fragmentarischen Traum gehüllt...
Vor der Ankunft der Zofe, die ihr bei der Abendtoilette helfen sollte, fand sie gerade noch Zeit für ein heißes Bad. Danach saß sie vor dem Toilettentisch und ließ ihr Haar bürsten, bis es seidig schimmerte, dann wurde es zu einer Krone hochgesteckt, aus der ein paar Locken herabfielen und ihre Schultern streiften. Nackte Schultern... Unbehaglich dachte sie an die außergewöhnliche Kreation, die Madame Duprès für sie entworfen hatte.
»Da der Ball zu Ehren des Vanax von Akora stattfindet«, hatte die Schneiderin entschieden, »brauchen Sie ein Kleid im griechischen Stil, n’est-ce pas?«
»Würde sich der akoranische Stil nicht besser eignen?«, wandte Brianna ein.
»Gibt es da einen Unterschied?«
Der griechische Stil – oder was man dafür hielt – war der letzte Schrei, dank der Franzosen. Obwohl sie mit den Briten verfeindet waren, blieben sie die unangefochtenen Experten in allen modischen Belangen.
»Auf Akora kleiden wir uns viel schlichter«, betonte Brianna.
»Mais non«, hatte die Schneiderin entsetzt protestiert. »Einfache Kleidung sollte man den Dienstmädchen vorbehalten.«
Und so stand Brianna in einem Kleid vor dem Spiegel, das man mit einiger Fantasie griechisch nennen konnte. Ganz egal, wovon es inspiriert worden war, es wirkte hinreißend – und leider auch ziemlich gewagt. Bei den ersten Anproben hatte sie das gar nicht bemerkt. Vielleicht hätte sie etwas besser darauf achten müssen.
Hatten die bogenförmigen Schulterpartien schon immer so viel Haut entblößt – oder zeigte der tiefe, gerade Ausschnitt viel mehr von ihren Brüsten, als es schicklich erschien? War Seide – in der Farbe von türkisblauem Meeresschaum – tatsächlich so hauchdünn, wie sie aussah? Vielleicht sogar durchsichtig? Nein, wenigstens diese Befürchtung war zum Glück unbegründet. Das stellte sie erleichtert fest, indem sie hastig vor das Licht einer Lampe trat. Trotzdem...
»Oh Miss, Sie sind schön wie eine Märchenprinzessin«, schwärmte die Zofe Sarah.
»Eigentlich fühle ich mich etwas zu leicht bekleidet.« Nach einem letzten Blick in den Spiegel entschied Brianna, nun wäre es zu spät, um irgendetwas dagegen zu unternehmen. Die Uhr schlug neunmal, jeden Moment würden die ersten Gäste eintreffen.
Sie bedankte sich bei Sarah und verließ ihr Zimmer. Etwas weiter unten am Korridor öffnete sich eine Tür, und Atreus trat heraus. Als er sie entdeckte, blieb er stehen. »Brianna...« Seine Augen schienen sie zu liebkosen. »Gestern Abend dachte ich, Sie könnten gar nicht zauberhafter aussehen. Offenbar habe ich mich geirrt.«
Wie aus weiter Ferne hörte sie seine Worte, und alle ihre Sinne konzentrierten sich auf ihn. Obwohl er in einem breiten Korridor mit hoher Decke stand, dominierte er ihn vollkommen. Er war im britischen Stil gekleidet, so wie im Carlton House, aber diesmal fügte eine blutrote Weste dem Gesamtbild eine gewisse barbarische Nuance hinzu. Ansonsten hätte es einfach nur elegant gewirkt. Diesen zwiespältigen Effekt erzielt er mit Absicht, vermutete Brianna, so wie alles, was er tut. Eine subtile Erinnerung an die exotische Welt, der er entstammte – und in die er möglichst schnell zurückkehren wollte...
Den ganzen Tag hatte sie auf ein Gespräch mit dem Vanax gewartet. Noch länger mochte sie sich nicht gedulden. Aber bevor sie erklären konnte, was ihr auf der Seele brannte, ergriff er ihre Hand und zog sie an die Lippen. »Sie machen Akora alle Ehre, Brianna.«
»Ebenso wie Sie.« Ihre Stimme erklang erstaunlich ruhig. Darauf war sie stolz.
Nur ein paar Sekunden lang glaubte sie, eine gewisse Verlegenheit in seinem Lächeln zu erkennen. »Ich dachte, die Weste wäre etwas übertrieben.«
»Oh nein, sie steht Ihnen sehr gut.«
Ohne ihre Hand loszulassen, führte er sie zur Treppe. Obwohl sie vorgab, es gar nicht zu bemerken, nahm sie kaum etwas anderes wahr.
»Die Briten machen so ein Getue um die Mode«, meinte er. »Vermutlich wäre der Prinzregent tief gekränkt, wenn ich ihm in schmuckloser Kleidung gegenübertreten würde.«
»Ja, er legt großen Wert auf den äußeren Schein«, brachte sie mühsam hervor. Wie selbstverständlich er sie berührte... Das verblüffte sie, und ihre Unfähigkeit, Widerstand zu leisten, sogar noch mehr.
»Könnte das der Grund sein, warum die Anwesenheit der Whigs und der Torys heute Abend so ungemein wichtig ist?«, fragte er.
»Das nehme ich an. Aber offen gestanden, ich finde die Fehde zwischen den beiden Fraktionen etwas kindisch.«
»In all den Jahren waren die Whigs die besten Freunde des Prinzregenten. Sie ermutigten seine Exzesse, unterstützten seine großspurigen Ambitionen und taten ihr Bestes, um sich bei ihm einzuschmeicheln. Alles unter der Voraussetzung, er würde ihnen nach dem Tod des wahnsinnigen Königs die Macht überantworten und die Torys ausschalten... Die hat sein Vater stets bevorzugt. Aber wenn es um die Macht geht, entpuppen sich Vermutungen als Illusionen, sobald man mit der Realität konfrontiert wird.«
»Fürchtet der Prince of Wales, die von den Whigs angestrengten Friedensverhandlungen mit Napoleon würden den britischen Thron schwächen – seinen Thron?«
»Es scheint so. Wie mir Royce und Alex erzählt haben, wird er unentwegt von der Angst verfolgt, in Großbritannien könnte eine Revolution ausbrechen. Angeblich leidet er unter Alpträumen von einem Mob, der nach seinem Kopf schreit.«
»Etwas weniger Brandy und mehr körperliche Bewegung würden ihm sicher zu ungestörter Nachtruhe verhelfen«, sagte Brianna bissig.
»Ja, zweifellos, aber die Mäßigung ist seiner Natur nun einmal fremd. Vor einigen Monaten bat er Royce, eine Annäherung zwischen den Whigs und den Torys zu erwirken. Auf sinnvolle Weise kann das gar nicht geschehen, denn in ihren politischen Ansichten sind sie viel zu sehr voneinander entfernt, zudem von übermäßigem Ehrgeiz getrieben. Wie auch immer, wenn sie heute Abend unter demselben Dach dinieren, wird der Eindruck von einer Einigung entstehen. Und genau das wünscht sich Prinny.«
Während sie die Stufen hinabstiegen, schaute Brianna den Vanax nachdenklich an. »Ohne Ihre Ankunft wäre das völlig unmöglich, Sire. Niemand anderer würde beide Parteien veranlassen, einander zu ertragen, wenn auch nur für ein paar Stunden.«
»Dann sollte ich mich geehrt fühlen.«
»Keineswegs.« Inzwischen hatten sie den Fuß der Treppe erreicht. Die anderen – Joanna und Alex – Kassandra und Royce – standen bereits in der Eingangshalle und musterten die beiden mit unverhohlener Neugier. »Die Briten müssen sich geehrt fühlen.« Sanft, aber energisch entzog Brianna dem Vanax ihre Hand.
Mochten die Briten die Ehre, die ihnen zuteil wurde, registrieren oder auch nicht – sie befanden sich in hochgradiger Aufregung. Das wurde offensichtlich, sobald die Gäste eintrafen. Während Atreus und Alex britische Kleidung trugen, hatten sie akoranische Krieger in Tuniken an den Wänden der großen Eingangshalle und im Ballsaal postiert. Unerschütterlich wie eh und je umfassten die hoch gewachsenen, kräftig gebauten Männer die Griffe ihrer Schwerter. Allerdings musste der eine oder der andere ein Lächeln unterdrücken, als er ganz unverblümt angestarrt wurde.
Mit gemurmelten Kommentaren wie »Achilles, zum Leben erwacht« und ähnlichen Bemerkungen wanderten die Gäste umher und erwarteten ungeduldig die Ankunft des Prinzregenten.
Bei solchen gesellschaftlichen Ereignissen pflegte Prinny zu einem Zeitpunkt zu erscheinen, den er für fashionable spät hielt und manche Gastgeber zu Nervenzusammenbrüchen veranlasste. Aber an diesem Abend fuhr die Kutsche mit dem königlichen Wappen schon eine Viertelstunde nach der vereinbarten Zeit vor. Unverzüglich machten ihm die anderen Wagen Platz, was Fahrern und Vorreitern erhebliche Mühe bereitete, denn sie mussten die eigenen Pferde gewaltsam beiseite zerren.
Wie ein kleines Kind, das wundervolle Überraschungen erhoffte, betrat Prinny die Eingangshalle, ging direkt auf Atreus zu und begrüßte ihn warmherzig. »Ein schöner Abend, nicht wahr?«
»Gewiss«, stimmte der Vanax zu. »Auf Akora genießen wir solche Nächte nur in den Bergen, und ich finde die kühle Luft erquicklich.«
»Auch ich fühle mich erfrischt. Ich hoffe, ich werde mich prächtig amüsieren. Stimmt es, was ich höre, Lady Joanna? Heute Abend soll getanzt werden?«
»Wenn es Eurer Hoheit gefällt«, erwiderte Joanna liebenswürdig. Noch nie hatte Brianna erlebt, dass sie den Prinzregenten anders behandelte. Und das schien er zu schätzen.
»Oh ja, das würde mich erfreuen«, versicherte er. »Bei den üblichen Festen fehlt einfach der Platz zum Tanzen.«
»Ah, deshalb haben wir nur ein paar ausgewählte Gäste eingeladen«, verkündete Alex, der an Joannas Seite stand und nach Briannas Meinung großartig aussah, ebenso wie Royce, obwohl keiner der beiden auch nur annähernd die Ausstrahlung des Vanax besaß.
»Oh ja, auf der ganzen Fahrt hierher hörte ich lautstarkes Zähneknirschen«, berichtete der Prinzregent voller Genugtuung.
In diesem Moment entstand ein Getümmel am Eingang, als mehrere Gäste in die Halle drängten, die erwartet hatten, vor der königlichen Hoheit einzutreffen. Aufgeregt schoben sie einander beiseite. Prinny pflegte jedem, der sich verspätete, äußerst unfreundlich zu begegnen, also allen Leuten, die nach ihm ankamen.
Auch Lord Liverpool zählte zu dieser Schar, ebenso ein kleiner, schlanker Mann, in dem man unschwer Charles, den Second Earl of Grey erkannte. Und so wurden der Führer der Torys und der Führer der Whigs zusammengedrückt wie Sardinen im selben Fass, was ihnen sichtliches Unbehagen bereitete.
Sobald sich eine Gelegenheit ergab, fuhren sie auseinander. Beide Gentlemen glätteten ihre Kleidung und vermieden es geflissentlich, einen Blick zu wechseln.
Kichernd hatte der Prinzregent die Szene beobachtet. »Allein schon dafür lohnt sich der Besuch dieses Balls, Royce. Ich hege den Verdacht, dieser besondere Beitrag zur Gästeliste war Ihre Idee.«
»Nun, Sire, Sie haben mich beauftragt, mein Bestes zu tun, um beide Seiten zu vereinen«, erwiderte Royce grinsend.
Da lachte Prinny wieder und forderte die leicht verwirrten Gäste in seiner Nähe heraus, diesem Beispiel zu folgen.
Und das führte zu wahrhaft königlichen Lachsalven, die nicht verstummten, bis man zur Tafel schritt.
Mit voller Absicht hatte Joanna eine viel simplere Speisenfolge gewählt, als es im Carlton House oder unter jedem anderen Dach der Hautevolee serviert wurde. Doch sie hatte auf allerbeste und frischeste Qualität aller Zutaten geachtet und die Köchin angewiesen, auf jene dickflüssigen Saucen zu verzichten, die bei vielen vornehmen Londoner Mahlzeiten abgestandene Gerichte übertünchten.
Zunächst war der Prinzregent verblüfft, dann fasziniert. »Beim Jupiter!«, rief er, nachdem er einen köstlichen, auf Eichenholz geräucherten Lachs mit frischem Treibhausgemüse gekostet hatte. »Ich weiß gar nicht, wann mir zum letzten Mal irgendwas so gut geschmeckt hat. Stammt dieses Rezept aus der akoranischen Küche?«
In Wirklichkeit war das relativ schlichte Menü viel komplizierter als alles, was man im befestigten Königreich auftischen würde. Aber Atreus enthielt sich dieses Kommentars. Stattdessen neigte er nur den Kopf. »Majestät, wir sind ein einfaches Volk.«
»Oh nein«, protestierte Prinny und musterte den nächsten Gang, einen Rinderbraten in einer leichten Rotweinsauce. »Den Fehler, das zu glauben, werde ich nie wieder begehen. Natürlich sind Sie sehr kultiviert. Und Sie hatten ja auch lange genug Zeit, eine so hochstehende Zivilisation zu entwickeln – in allen Belangen, die Sie und Ihresgleichen wichtig finden.«
Etwas weiter unten an der Tafel musste sich Brianna beherrschen, um nicht erstaunt die Brauen zu heben. Im Allgemeinen war der Prinzregent mit seinen eigenen Sorgen und Ängsten vollauf beschäftigt und unfähig, irgendetwas anderes zu beachten. Aber gelegentlich kam sein immer noch erstaunlich scharfer Verstand zum Vorschein, wenn auch nur kurzfristig.
Soeben hatte er die Akoraner völlig richtig beurteilt, falls er zu dieser Kultur auch noch die ausgezeichneten Waffen zählte. Nur gut, dass Akora und England Freundschaft schließen wollen, dachte sie.
Im Lauf des Abends herrschte eine immer fröhlichere, unbeschwertere Atmosphäre. Lord Liverpool ging sogar so weit, freundlich in die ungefähre Richtung des Earl of Grey zu nicken, der ihm zulächelte. Wenn die beiden Gentlemen auch nicht miteinander sprachen, so gingen sie aber auch nicht aufeinander los. Allein schon das musste man einen Erfolg nennen.
Zu dieser Ansicht gelangte auch Lady Melbourne, die hilfreiche Lady, auch unter dem Namen »die Spinne« bekannt, weil sie unentwegt ihre Intrigennetze spann.
In bester Laune betrat die Gästeschar den Ballsaal. Die Musiker – offenbar alle nüchtern – spielten auf einer Galerie oberhalb des großen Raums. Einer Quadrille folgte ein Kotillon. Zuerst führte der Prinzregent Joanna auf die Tanzfläche, wie es ihrem Status als Gastgeberin gebührte, danach tanzte er mit Kassandra.
Widerstrebend und nur auf Alex’ ausdrückliche Anordnung hatte Atreus die britischen Tänze erlernt. Jetzt verbeugte er sich vor Lady Liverpool. Lady Grey war nicht anwesend. Angeblich musste sie sich daheim um ihre zahlreichen Kinder kümmern.
Und so kam Lady Melbourne in den Genuss, den nächsten Tanz mit dem Vanax von Akora zu absolvieren. Während sie beglückt mit ihm schwatzte, glaubte Brianna die einstige verführerische Schönheit der Dame zu erkennen, wann immer die beiden an ihr vorbeischwebten.
Nun entstand eine kurze Pause, und dann erklang aufgeregtes Gemurmel, denn die nächste Melodie, die das Orchester intonierte, war ein schockierender Walzer. Ohne Zögern ergriffen Alex und Royce die Initiative und entmutigten alle Gentlemen, die gehofft hatten, sie könnten Joanna oder Kassandra aufs Parkett geleiten.
Brianna wünschte, auch sie hätte einen Partner, denn der Dreivierteltakt gefiel ihr ganz besonders. Plötzlich stand Atreus vor ihr.
»Allzu gut beherrsche ich diesen Tanz nicht«, erklärte er. »Würden Sie mir helfen?«
Diese Bitte konnte sie ihm wohl kaum abschlagen, oder? Unmöglich, wenn sein Blick so betörend wirkte und ihre Hand – irgendwie – bereits in seiner lag, vor den Augen aller Anwesenden... Ehe sie sich zu drehen begannen, galt ihr letzter klarer Gedanke Lady Melbourne und den anderen Gästen, die sie jetzt vielleicht neu einschätzen und auf eine höhere Stufe stellen würden. Und das missfiel ihr gründlich.
Aber der Tanz mit Atreus – der Walzer mit Atreus – stand auf einem ganz anderen Blatt. Warm und fest lag seine Hand auf ihrer Taille, und er sorgte präzise für den schicklichen Abstand. Und wie er sich bewegte – heiliger Himmel, mit einer Anmut, die kein Mann besitzen dürfte...
Ringsum glitten der Ballsaal und die Galerie im Kreis herum – unbeachtet, unwichtig, nur der Rahmen für den Augenblick und für Atreus. Natürlich war das Glück nicht von Dauer, nichts hatte jemals Bestand. Doch in diesem Augenblick wünschte sie, die Zeit möge stillstehen, der neue Morgen würde niemals anbrechen, und sie könnte für immer in den Armen des Mannes liegen, der die Welt in Schach hielt.