Читать книгу Die Sage der schwazen Rose - Joulie Summers - Страница 6

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Rückblick 1

Ich kann mich noch gut an den einen Tag erinnern, als es geschah. Es war ein ganz normaler Tag, der mein Leben allerdings grundlegend und für immer verändern sollte …

»Ana?« Seufzend sah ich auf und legte das Buch, in welchem ich gerade las, beiseite. Ich war mir sicher, etwas gehört zu haben. »Ana? Hallo? Bist du daheim?«

Gerade als ich aus dem Bett steigen wollte, wurde die Tür aufgerissen und Sue stand plötzlich direkt vor mir. »Da bist du ja! Sag mal, hast du mich denn gar nicht gehört? Ich hab fast das ganze Haus nach dir durchsucht.«

Sue war vor einigen Jahren hierher nach Boston in die Nachbarschaft gezogen und seitdem meine engste Freundin und Vertraute. Nein, eigentlich war sie schon mehr wie eine Schwester für mich und wir machten einfach alles gemeinsam. Ich hob die Schultern und klappte das Buch zu.

»Sorry, ich war grad irgendwie ein wenig abgelenkt.«

Sie musterte das Buch argwöhnisch und sah dann mich an.

»Du willst mir doch nicht wirklich weismachen, dass du in dieses zerfallene Sachkundebuch vertieft warst, oder?«

Ich sah auf das Schulbuch und musste lachen. Das hörte sich wirklich etwas merkwürdig an.

»Sagen wir es so«, sagte ich, »ich hab zumindest versucht, ein wenig zu lernen.«

Sie setzte sich zu mir.

»Und? Hat es wenigstens etwas gebracht?«

Ich seufzte und schüttelte den Kopf.

»Um ehrlich zu sein, eher nicht. Ich hab mich förmlich gezwungen, mich da überhaupt rein zu versetzen, und als ich es dann endlich geschafft habe, na ja, da bist du hier aufgetaucht.«

Sie grinste.

»Also war jetzt etwa alles umsonst?«

»Ja, so sieht es wohl aus«, erwiderte ich.

»Sorry, ich hab ja nicht gewusst, dass du wirklich anfängst, diese schrecklichen Bücher zu lesen. Hätte ich das geahnt, wäre ich natürlich nicht so hereingeplatzt. Ich glaube aber, du bist nicht besonders verärgert darüber, oder? Zumindest siehst du nicht so aus«, lachte sie weiter und ließ sich auf die Matratze fallen.

Ich nahm das Buch mit dem abblätternden Umschlag und den eher gräulichen als weißen Seiten noch einmal in die Hand und seufzte, dann warf ich es endgültig auf den Boden. Ein paar Seiten fielen beim Aufprall heraus, doch das wunderte mich nicht besonders.

»Ich bin ehrlich gesagt schon fast etwas froh, denn der Stoff ist echt ermüdend und todlangweilig«, gab ich zu.

»Dann hab ich dir ja sogar einen Gefallen getan, oder?«

Ich musste lachen.

»Übertreib es mal nicht!«

Sue setzte sich wieder aufrecht hin und strich sich ein paar blonde Locken aus dem Gesicht, sodass man ihre tiefblauen Augen erkennen konnte. Sie schwang ein Bein über das andere und legte ihren Kopf leicht in den Nacken.

»Du wirkst verträumt? Ist irgendetwas?«, stellte ich fest und setzte mich etwas aufrechter hin.

Sie sah mich an.

»Das hast du gut erkannt.«

»Und gibt es dafür auch einen Grund?« Sie nickte und umschlang grinsend mit beiden Armen ihre dünnen Beine. Langsam wippte sie hin und her. Ich stöhnte leise auf. »Muss man dir denn wirklich jedes Wort aus der Nase ziehen? Warum bist du denn so verträumt?«

Sue rückte noch etwas näher an mich heran.

»Na ja, Tom hat mich endlich um ein Date gebeten.«

Ich sah sie mit offenem Mund an.

»Was? Wann war denn das? Das ist ja großartig!«

»Gerade eben erst. Ich habe ihn vor ein paar Minuten auf der Straße getroffen«, grinste sie breit.

»Und da hat er dich einfach so gefragt?« Sie nickte und das Grinsen auf ihrem Gesicht wurde augenblicklich breiter. Man sah ihr die Freude über diesen Zufall mehr als deutlich an. »Ach so, das ist also der Grund, warum du mich besuchen kommst …«, sagte ich mit ironischem Unterton in der Stimme.

»Ich wollte eh mal vorbeikommen, aber dann kam das eben noch dazu.«

Ich sah sie genauer an und bemerkte erst jetzt, dass sie ziemlich aufgestylt war. Ihre lockigen Haare fielen über ihre freie Schulter, sie trug ein hautenges Top und eine enge Jeans. Selbst Pumps hatte sie angezogen, was mich allerdings stutzig machte, denn normalerweise mochte sie solche Schuhe überhaupt nicht. Genau genommen hasste sie die sogar! Ich runzelte die Stirn.

»Sag mal, wann hast du denn eigentlich das Date mit Tom?«

Sie wurde sofort rot und versuchte, ihr Gesicht zwischen ihren beiden Händen zu verstecken. Sie begann zu nuscheln.

»Heute.«

»Was? Aber wie kannst du dann denn bitte schon fertig umgezogen sein, wenn du ihn eben erst getroffen hast?«

Sie hob ihren Kopf wieder an, um mich anzusehen, und grinste.

»Eigentlich hatte ich vor, mit dir in die Stadt zu gehen.«

»Ich vermute mal, dass daraus dann wohl nichts wird, hab ich recht?«

»Sorry, Süße, aber dieses Date kann ich einfach nicht abschlagen. Aber mach du doch mal wieder etwas mit deinem Freund. Der wird sich bestimmt freuen.«

Danny! An den hatte ich gar nicht mehr gedacht. Es gab da ja auch noch einen Freund, um den ich mich ab und zu, wenn er nicht gerade Fußball schaute und mal Zeit für mich hatte, kümmern musste. Sie sah mich an, so als hätte sie meine Gedanken gelesen.

»Sag bloß, daran hast du gar nicht gedacht?«

Ich seufzte und spürte, wie die Scham mir augenblicklich ins Gesicht stieg.

»Ana! Wie lange seit ihr jetzt zusammen?«

Da musste ich nicht lange überlegen.

»Fast zwei Jahre.«

»Und wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«, fragte sie und hob eine Augenbraue.

»Letzte Woche.«

Ihre Stimme veränderte sich und sie wirkte plötzlich sehr nachdenklich, was mir überhaupt nicht gefiel.

»Sag, ist bei euch denn noch alles in Ordnung?«

Überrascht über diese Frage riss ich die Augen auf.

»Ja, warum sollte es das auch nicht sein?«

Sie hob ihre Schultern an.

»Weiß nicht, mir ist nur aufgefallen, dass du nicht mehr so glücklich über eure Beziehung zu sein scheinst, kann das sein?«

Ich seufzte, schüttelte aber den Kopf. Sue war so glücklich über das Date mit Tom, da wollte ich ihr nicht meine Beziehungsprobleme unter die Nase reiben. Nein, das wollte ich nun wirklich nicht.

Sie schien mir nicht zu glauben, ließ es aber trotzdem sein und fragte nicht weiter nach.

»Und wann hast du dein Date?«, fragte ich, um das Thema endgültig zu beenden.

Sie hob ihren Arm und sah auf ihre glitzernde Armbanduhr.

»So in ungefähr einer Stunde.«

Ich verdrängte die Gedanken an Danny und setzte ein glaubwürdiges Lächeln auf.

»Und wo trefft ihr euch? Oder holt er dich etwa ab?«

Erneut ließ sie sich rücklings aufs Bett fallen. Die Matratze quietschte leise und erinnerte mich wieder daran, wie sehr ich dieses alte Ding hasste.

»Wir treffen uns in einem Café, gleich hier in der Nähe. Im Nachtcafé.«

»Ach so ist das! Jetzt wird mir auch klar, warum du kurz vorher noch zu mir kommst, da sparst du dir den Weg.«

Ich kannte dieses kleine Café. Es war vielleicht fünf Minuten von mir entfernt und an den meisten Abenden voll. Sie sah mich an und verdrehte die Augen.

»Falls du dich erinnerst, ich wohne fast nebenan. Um den Weg ging es mir also ganz sicher nicht.«

Ich nickte.

»Ja, stimmt auch wieder.«

Sue sah mich an und kicherte.

»Ich wollte dich einfach wissen lassen, dass ich mal wieder ausgehe, aber hätte ich gewusst, dass du lieber lernst, dann hätte ich es natürlich nicht getan. Verzeih mir bitte.«

Ich konnte es mir nicht verkneifen, bei der Ironie in ihrer Stimme zu lachen.

»Schon gut, du hast mich immerhin vor einer weiteren Stunde Langeweile gerettet. Es sei dir verziehen.«

»Das heißt also, dass ich dich öfter vom Lernen abhalten darf? War das gerade eine Erlaubnis?«, fragte sie mit großen Augen und einer hochgezogenen Augenbraue. Sie wirkte fast wie ein kleines Kind, das sich fragte, ob es zu Weihnachten auch das bekam, was es wollte.

»Kann ich dich denn davon abhalten?«

»Nein, nicht wirklich«, schüttelte sie den Kopf.

»Das hab ich mir schon beinahe gedacht …«

Noch einmal warf sie lachend ihre blonde Lockenmähne nach hinten, dann stand sie auf und ging ein paar Schritte in Richtung Tür.

»Ich werde dann mal gehen. Wünsch mir Glück, ja?«

»Hast du nicht gesagt, dass ihr euch erst in einer Stunde trefft?«, fragte ich, verwirrt über ihren plötzlichen Aufbruch.

Sie nickte.

»Ja schon, aber ich muss trotzdem etwas eher da sein …«, sagte sie zwinkernd.

»Darf ich auch fragen warum?«

Ihre Hand hatte bereits den Türgriff umschlossen, als sie wieder einen Schritt in meine Richtung kam und mir zuzwinkerte.

»Es ist einfach blöd, wenn er schon da sitzt, finde ich, dafür gibt es keine Erklärung.«

Ich hob die Hand.

»Wenn du meinst. Ich wünsche dir auf jeden Fall ganz viel Spaß.«

»Werde ich sicher haben. Ich ruf dich morgen an und berichte dir, wie es gelaufen ist, ok?«

Ich bewunderte immer wieder, wie selbstbewusst sie zu einem Date ging. Sie hatte weder Scheu noch sonst irgendwelche Bedenken, dass etwas schief gehen könnte.

Wenn ich mich hingegen so an mein erstes Date mit Danny erinnerte, dann war das völlig anders abgelaufen. Ich war sehr schüchtern gewesen und wäre beinahe an meinen eigenen Worten erstickt, als ich mich das erste Mal mit ihm getroffen hatte. Aber dennoch waren wir an diesem Tag zusammengekommen. Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich daran dachte.

Noch gut konnte ich mich daran erinnern, was für ein wunderbares Gefühl es gewesen war, in der Schule neben diesem tollen, blonden Jungen mit den eisblauen Augen zu stehen und ihn küssen zu dürfen. Ich verspürte bei ihm immer ein intensives Kribbeln auf der Haut, wenn er mich umarmte, welches so stark gewesen war, dass ich nicht genug davon haben konnte. Er war immer so zärtlich und liebevoll zu mir gewesen wie niemand anderes zuvor.

Ja, er war in jeder Hinsicht immer mein Traummann gewesen und ich war hin und weg von ihm. Damals waren wir wirklich unzertrennlich gewesen.

Jetzt allerdings hatte sich einiges verändert. Vieles war zum üblichen Beziehungsalltag geworden und das Kribbeln war längst nicht mehr so stark wie noch am Anfang. Manchmal fragte ich mich sogar schon, ob diese Beziehung überhaupt noch einen Sinn machte. Oder ob es vielleicht doch besser wäre, es sein zu lassen? Wäre eine Trennung womöglich besser für uns?

Ich seufzte. Warum musste ich jetzt auch wieder ausgerechnet daran denken? Und warum stellte ich mir schon wieder diese Frage?

Gut, unsere Beziehung durchlebte gerade ein ›kleines Beziehungstief‹, aber das würden wir sicher auch überstehen. Es gab in jeder Beziehung mal ein Tief, aber deswegen durfte man nicht gleich aufgeben und alles an den Nagel hängen, oder?

Nein, das durfte man nicht! Eine Beziehung ist nun einmal nicht immer einfach.

Ich wandte mich zur Seite und fragte mich, was er wohl grad machte. Das war ein dummer Gedanke. Wahrscheinlich saß er gerade mit seinen Kumpels irgendwo in einer Kneipe und sah sich ein Fußballspiel an oder war sonst irgendwo unterwegs. Erneut seufzte ich und sah zu meinem Handy. Sollte ich ihm vielleicht einfach mal schreiben? Fragen, was er gerade machte? Ob er Zeit hatte und vorbeikommen wollte?

Ich überlegte kurz, schlug mir den Gedanken dann aber schnell wieder aus dem Kopf. Nein! Er konnte sich ja immerhin ruhig auch mal melden, und nicht immer nur ich.

Also drehte ich mich wieder um und schloss die Augen.

Am nächsten Morgen weckte mich ein leises Geräusch am Fenster. Noch bevor ich meine Augen öffnete, wusste ich, dass es regnete. Ich wusste es deshalb, weil regnerisches Wetter hier nicht gerade selten war und ich in den vergangenen Jahren genug Zeit gehabt hatte, mir dieses Geräusch einzuprägen.

Ich atmete tief ein und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann setzte ich mich langsam aufrecht hin. Wie lange hatte ich denn überhaupt geschlafen?

Ohne mich umzusehen griff ich nach links und fand den Wecker. Die roten, leuchtenden Zahlen wurden bei längerem Hinsehen etwas schärfer und zeigten 09:53 Uhr an. Ich stellte ihn zurück und ließ mich noch einmal ins weiche Kissen fallen. Es war Samstag und ich hatte noch keine Lust, aufzustehen. An diesem Tag sollte man ausschlafen und das bedeutete - zumindest wenn man Sue glauben wollte - dass man das Bett vor zwölf Uhr eigentlich nicht verließ. Trotz dieser Vorstellung meiner Freundin war mir das selbst allerdings noch nie gelungen. Ich war einfach kein Langschläfer und würde es sicherlich auch nie sein.

Nach einer Weile zwang ich mich jedoch dazu, trotzdem aufzustehen. Ich stieg aus dem Bett und ging hinüber zum Kleiderschrank, doch gerade als ich mir etwas überziehen wollte, überfiel mich plötzlich ein leichtes Schwindelgefühl und ich musste mich an der Schranktür festhalten, um nicht umzukippen.

Was war denn plötzlich los? Gerade eben hatte ich doch noch gar nichts gemerkt, wie konnte das denn so plötzlich kommen? Warum war mir auf einmal so extrem schwindelig?

»Verdammt, was …?«, fluchte ich, doch es gelang mir nicht mehr, alle Worte auszusprechen.

Ich glitt langsam am Schrank hinunter, sodass ich bald auf dem Boden saß. Das Herz in meiner Brust schien sich förmlich zu überschlagen und ein leichter Kopfschmerz ließ mich zusammenzucken. Ich presste mir sofort die Hände fest an den Kopf, doch auch das half nicht wirklich viel. Der Schmerz hielt an, und schien auch nach Minuten einfach nicht schwächer zu werden. Aber was war das nur? Das Bild vor meinen Augen schien langsam zu verschwimmen und ich musste mich richtig anstrengen, um die Gegenstände, welche in meinem Zimmer waren, noch erkennen zu können.

»A… Ana …«

Noch bevor ich aufsehen konnte, hörte ich plötzlich einen lauten Knall und einen verzerrten Schrei, der einem das Blut gefrieren lassen konnte. Eine eisige Gänsehaut lief mir den Rücken hinunter und ließ mich zusammenschrecken.

»Ana, bitte …«

Ich sah mich panisch um und zuckte heftig zusammen, als ich plötzlich wirklich jemanden erkannte.

Direkt neben meinem Bett saß Danny zitternd und hyperventilierend am Boden.

»Danny?«, fragte ich vorsichtig.

Er hob seinen Kopf und ich erkannte die eisblauen Augen. In ihnen lag so viel Schmerz, dass es mir einen erneuten Schlag versetzte und mein Herz noch einmal schneller schlug. So hatte ich ihn noch nie gesehen.

»Danny! Was machst du hier?«

Seine Lippen zitterten stark und ich erkannte erst jetzt, dass seine Haare völlig nass waren und Blut an seinem Ohr entlanglief. Aber nicht nur an seinem Ohr, sondern auch an seinen Händen und im Gesicht war plötzlich überall Blut zu sehen. Er blutete und es schien einfach nicht aufzuhören.

Er sah auf und öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, doch es drang kein einziger Ton zu mir herüber.

»Danny, was ist passiert?«

Trotz der Schmerzen sprang ich auf und wollte zu ihm. Doch gerade, als ich das Bett erreichte und mich hinunterbeugte, um ihn besser anzusehen, war er auf einmal verschwunden.

Was? … Wie konnte das sein? Wo war er so plötzlich hin? Er hatte doch geblutet und war verletzt! Er hatte doch da gesessen, direkt da vorne! Wie konnte es also sein, dass er jetzt plötzlich weg war?

Wieder blickte ich mich panisch im Raum um und fragte mich, ob ich mir das ganze gerade vielleicht nur eingebildet hatte.

Ich sah das Handy auf meinem Bett und konnte einfach nicht anders, ich musste ihn einfach anrufen. Schnell wählte ich seine Nummer und wartete ab.

»Geh hin Danny, bitte!«

Doch es meldete sich nur die Mailbox. Auch bei einem zweiten Versuch gelang es mir nicht, ihn zu erreichen. Genervt warf ich das Handy aufs Bett zurück und schüttelte den Kopf. Meine Hände pressten sich auf meine heiße, fast schon glühende Stirn, und ich schaffte es schließlich doch irgendwie, die Fassung wieder zu erlangen. Ich wusste zwar nicht, was das eben gewesen war, aber eines war glasklar, es war nicht real. Es konnte gar nicht real sein, sonst wäre Danny ja noch hier. Er konnte sich ja immerhin nicht einfach in Luft auflösen.

Ich schämte mich plötzlich sehr dafür, so überreagiert zu haben. Das war reine Einbildung gewesen, mehr auch nicht. Wahrscheinlich hatte ich einfach noch nicht richtig ausgeschlafen oder eben nur schlecht geträumt. Ja, das musste es ein. Aber auch, wenn ich jetzt eine Erklärung hatte, so blieb dennoch ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. Ein Gefühl, dass irgendetwas trotzdem nicht stimmen konnte.

Ich würde ihn später einfach noch einmal anrufen. Und wenn er letztlich an sein Handy ging, hatte ich den endgültigen Beweis dafür, dass ich mir das alles gerade nur eingebildet hatte.

Ich sah mich noch einmal um, dann holte ich mir ein Oberteil aus dem Schrank heraus, an dem ich inzwischen angekommen war, und zog es mir über.

Ich ging aus dem Zimmer und hinüber in die weiß eingerichtete Küche, welche elegant mit dem Wohnzimmer verbunden war. Auch jetzt, nach einigen Monaten, hatte ich mich noch immer nicht daran gewöhnt, alleine zu wohnen.

Meine Mutter war schon seit einiger Zeit tot und mein Vater war die meiste Zeit über auf Geschäftsreisen. Er war ständig unterwegs, um sich mit irgendwelchen Leuten zu Geschäftsessen zu treffen. Wenn er dann doch einmal heimkam, dann höchstens für zwei oder drei Tage, und selbst da arbeitete er bis tief in die Nacht. Ich konnte mich also kaum mit ihm unterhalten, geschweige denn etwas mit ihm unternehmen.

Natürlich war ich oft einsam, weil er nie da war, aber ich wusste ja, dass er das alles nur für mich tat. Und es hatte ja auch einige Vorteile, sozusagen die ›eigene Wohnstätte‹ zu haben, denn man hatte so manche Freiheiten, die andere junge Leute in meinem Alter sicherlich nicht hatten.

Und gegen diese Wohnung konnte man auch überhaupt nichts sagen: Ein Architekt hatte sie genau nach den Vorstellungen meines Vaters entworfen und mit allen möglichen Extras ausgestattet. Es gab einen riesigen LED-Fernseher, eine Ledercouch, einen großen Kühlschrank, ein riesiges Badezimmer, um welches mich viele Mädchen sicher beneideten, und sogar eine Sauna. Vom Wohnzimmer aus konnte man halb Boston überblicken. Kurz gesagt: Sie war einfach unglaublich.

Ich seufzte und öffnete den Kühlschrank. Allerdings fand ich nichts, auf das ich jetzt wirklich Lust hatte. Zwar waren da ein paar Schokoriegel und sogar ein paar Jogurts, aber auf all das hatte ich jetzt überhaupt keinen Appetit. Also schlug ich den Kühlschrank wieder zu, sodass es laut klirrte, als die Tür sich schloss.

Ich seufzte und genau in dem Augenblick, als die Tür die Sicht auf das Fenster wieder freigab, zuckte ich kurz zusammen: Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich mir schon wieder eingebildet, Danny zu sehen. Dieses Mal allerdings war es zu kurz gewesen, um zu sagen, ob er noch immer so schrecklich ausgesehen hatte.

Mein Herz schlug wieder heftig gegen meinen Brustkorb und ich atmete tief ein. Was war heute denn nur los mit mir? Warum sah ich ihn nun schon das zweite Mal, obwohl er doch gar nicht da war? Warum um alles in der Welt bildete ich mir so etwas nur ein?

Das ungute Gefühl in meinem Bauch nahm zu. Mein Blick huschte vorsichtig im Raum umher, doch nirgends war seine Erscheinung zu sehen. Das Bild von ihm, welches ich gesehen hatte, war schon lange weg. Es hatte sich in Luft aufgelöst, genau so wie auch schon zuvor in meinem Zimmer. Da war kein Danny. Dennoch hämmerte mein Herz noch immer lautstark und ich schaffte es einfach nicht, mich wieder zu beruhigen. Das eben hatte mir, auch wenn es längst nicht so erschreckend war wie der erste Vorfall, wirklich große Angst gemacht. Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen.

Ich stand wie versteinert da und starrte noch immer auf das Fenster, als hoffte ich, so eine Erklärung zu finden. Aber egal, wie lange ich auch auf die Stelle sah, es tat sich nichts mehr.

Dennoch tat ich das so lange, bis mich plötzlich ein Geräusch aufschreckte.

›Riiing, Riing …‹

Ich brauchte ein wenig, um mich aus der Starre zu lösen, in der ich mich befand. Ich atmete tief ein und versuchte, ruhig zu wirken. Es musste ja schließlich niemand wissen, dass ich heute drauf und dran war, den Verstand zu verlieren.

Ich zog die Tür langsam auf.

»Sue?«

»Hi«, sagte sie so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte.

Sie senkte ihren Blick, sodass ihr langes, lockiges Haar ihr Gesicht verdeckte.

Ich ließ sie in die Wohnung und merkte sofort, dass etwas nicht stimmen konnte. »Sue? Alles ok bei dir? Was ist denn mit dir los?«

»Ana …«

»Was ist los?«, wollte ich erneut wissen.

Sie sah mich kurz an und versteckte ihr Gesicht erneut hinter ihrem Haar. Doch der kurze Moment hatte mir schon gereicht und ich hatte die vielen Tränen in ihren Augen gesehen. Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich bei ihrem Anblick.

»Sue, was ist denn los? Ist irgendetwas passiert?«

Sie antwortete mir nicht, sondern lies sich leise schluchzend auf die Couch fallen.

Ich setzte mich neben sie und strich vorsichtig durch ihr Haar.

»Sue, was ist denn los? War das Date etwa so schlimm?«

Sie schüttelte den Kopf, antwortete aber noch immer nicht, und ihr Benehmen beunruhigte mich mit jeder Sekunde mehr. Dieses Verhalten kannte ich nun überhaupt nicht von ihr. Sie war nicht der Mensch, der wegen irgendeiner Kleinigkeit weinte. Wenn sie weinte, dann musste etwas Ernstes geschehen sein.

»Bitte, erzähl mir, was passiert ist. Ist irgendetwas mit deiner Familie?«

Wieder schüttelte sie den Kopf, aber dieses Mal sah sie mich an. Ihre Lippen zitterten, und es fiel ihr mehr als schwer, zu reden.

»Ana, ich weiß nicht wie …«

»Psst, ganz ruhig. Erzähl mir, was geschehen ist.«

Sie wischte sich mit einem Ärmel über die Augen und legte ihre Hand auf mein Knie.

»Es geht um Danny …«

Ich musste schlucken.

»Was? Um Danny?«

Mir fiel wieder ein, was ich heute gesehen hatte, und das mulmige Gefühl in mir wurde augenblicklich wieder stärker.

»Um Danny? Was ist mit ihm?«

Die Hysterie in meiner Stimme lies sich nicht verbergen. Ihre Hand suchte meine, und sie strich vorsichtig über meine Haut.

»Er hatte heute Morgen einen schweren Unfall.«

Ich spürte, wie meine Augen sich ungläubig weiteten, bis es schmerzte.

»Was? Wovon redest du da? Einen Unfall?«

Sue wich meinem Blick aus, fast so, als könnte sie es nicht ertragen, mich anzusehen.

»Er liegt im Krankenhaus, auf der Intensivstation.«

Es war, als schnürten sich raue Seile um meine Lunge und drückten mir die Luft ab.

»Das ist ein schlechter Scherz, hab ich recht?«

Sie schüttelte nur den Kopf und sah noch immer weg. Das konnte doch nicht wirklich ernst gemeint sein, oder? Danny hatte einen Unfall gehabt? Wann sollte das geschehen sein?

Und plötzlich sah ich es wieder vor mir, wie Danny blutend vor mir stand und meinen Namen keuchte. Wie er in meinem Zimmer war, und ich ihm einfach nicht helfen konnte. Das hatte ich mir doch erst heute Morgen eingebildet - oder etwa doch nicht? War das etwa doch keine Einbildung gewesen? Ich spürte, wie mir schlecht wurde und die Tränen sich ihren Weg brennend nach außen bahnten. Sie liefen über meine Haut und hinterließen eine brennende Spur.

»Was? Was ist passiert?«, stotterte ich und musste mich zusammenreißen.

»Jemand muss ihm außerhalb von Boston die Vorfahrt genommen haben. Er ist von der Straße abgekommen und gegen einen Baum gefahren.«

Auch der laute Knall schien sich in meinem Kopf zu wiederholen. Es war fast so, als könnte ich ihn erneut in meinem Kopf schreien hören. Mir wurde augenblicklich wieder schwindelig, und obwohl ich schon saß, musste ich mich am Polster festhalten, um nicht zu Boden zu sacken. Das war einfach zu viel für mich. Ich sah meine Freundin noch einmal an.

»Und wann ist es passiert?«

Sie schluckte.

»Gerade eben, deswegen bin ich gleich zu dir gekommen. Ich dachte, du solltest es wissen. Sie mussten ihn ins künstliche Koma versetzen.«

»Danke«, sagte ich nur.

Ich ließ meinen Kopf etwas nach unten sinken und spürte, wie die Tränen weiter über mein Kinn liefen und meine Atemnot stärker wurde. Das, was sich auf meine Lunge gelegt hatte, schien sich unaufhaltsam immer weiter zuzuziehen.

Ich hatte mir eingeredet, dass das heute Morgen nur Einbildung gewesen war. Jetzt allerdings, wo ich wusste, dass meinem Freund tatsächlich etwas zugestoßen war, war ich mir da überhaupt nicht mehr so sicher. Warum hatte ich ihn schon vorhin blutend in meinem Zimmer gesehen? Warum hatte ich den Knall gehört? Und wie konnte es sein, dass ihm jetzt wirklich etwas zugestoßen war?

Das konnte, nein, es durfte nicht wahr sein. Aber auch wenn ich versuchte, es mir einzureden, so wusste ich doch genau, dass es die Wahrheit war. Über so etwas machte niemand, und vor allem Sue, keine Scherze.

Ich fing an, stark zu zittern.

»Komm mal hier her …«

Sie zog mich fest an sich und ihre Arme umschlangen mich.

»Aber das kann doch nicht, ich meine, das geht doch nicht …«

»Bestimmt geht es ihm bald wieder besser …«, sagte sie zuversichtlich und in ihrem Gesicht konnte ich plötzlich so viel Zuversicht und Hoffnung lesen, dass es mich überraschte. Gleichzeitig beruhigte es mich.

Na ja, zumindest ein wenig.

Die Sage der schwazen Rose

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