Читать книгу Die Sage der schwazen Rose - Joulie Summers - Страница 8

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Es lässt mich nicht los

Nun war schon fast ein Jahr vergangen und ich hatte es geschafft, mein Leben wieder einigermaßen in die richtige Bahn zu lenken. Der Tod meines Freundes hatte mich sehr fertig gemacht und mir die Luft genommen. Ich war monatelang depressiv gewesen und hatte oft daran gedacht aufzugeben, aber trotzdem hatte ich mich immer wieder aufgerappelt. Und schließlich war es mir sogar gelungen, das alles zu überstehen.

Natürlich würde ich Danny niemals vergessen, er hatte für immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen, aber ich hatte begriffen, dass mein Leben dennoch weitergehen musste. Es blieb nicht einfach stehen, nur weil es bei Danny so gewesen war. Und, um ehrlich zu sein, war ich wirklich froh, dass ich endlich wieder leben konnte ohne jede Nacht zu weinen und schreiend aufzuwachen. Allerdings gab es trotzdem etwas, was sich seit dieser Zeit nicht verändert hatte und mich mittlerweile in Unruhe versetzte.

Diesen merkwürdigen Fremden sah ich noch immer. Zwar sah ich ihn nur ab und zu, aber dennoch beunruhigte es mich. Immerhin war ich scheinbar die Einzige, die ihn sehen konnte. Ich hatte Angst, dass diese Einbildung vielleicht noch immer, auch wenn ich die Tabletten schon lange abgesetzt hatte, eine Nachwirkung von diesen Dingern war. Andererseits lag es vielleicht aber auch daran, dass ich Dannys Tod zwar verkraftet, aber noch lange nicht endgültig verarbeitet hatte. Wenn ich ehrlich war, wusste ich es nicht. Es machte mir manchmal wirklich Angst, aber zum größten Teil hatte ich mich sogar schon daran gewöhnt. Wahrscheinlich lag es wirklich nur daran, dass ich Danny noch im Kopf hatte …

»Sue, bleib doch mal stehen!«

Ich rannte ihr schon die ganze Zeit hinterher und war froh, als sie endlich stehen blieb und ich sie somit einholen konnte. Sie strich sich die blonde Lockensträhne aus dem Gesicht und grinste mich an.

»Hey Ana! Wo kommst du denn her? Ich hab dich gar nicht gesehen.«

»Das hab ich gemerkt.«

»Sorry …«, sagte sie und zeigte mir den MP3-Player. »Ich konnte dich durch die laute Musik wirklich nicht hören.«

Ich stemmte mich mit einer Hand an der Wand eines Geschäftes ab und brauchte ein wenig, bis sich mein Puls wieder beruhigt hatte.

»Ich renne dir schon seit zwei Blocks hinterher, aber der Abstand war zu groß, und deswegen konnte ich dich nicht einholen.« Sie kicherte. »Ein bisschen Sport schadet bekanntlich ja nie …«

»Sehr witzig.«

»Was gibt es denn so Dringendes, dass du mir den ganzen Weg hinterherrennst?«, wollte sie nun wissen.

»In der Stadt hat ein neues Nachtcafé aufgemacht. Es nennt sich ›Moonlight‹ und soll ziemlich beliebt sein. Ich wollte dich fragen, ob du nicht vielleicht Lust hättest, heute hinzugehen?«

»Klar!«, sagte sie sofort. »Wir haben Ferien, warum also nicht? Aber bist du mir den ganzen Weg nur hinterhergerannt, weil du mich das fragen wolltest?«

»Na ja, mir war auch ein wenig langweilig«, gab ich zu.

Sie lachte.

»Du spinnst doch!«

»Kann sein, aber ich hab dich trotzdem noch erwischt«, sagte ich, stolz auf meine eigene Leistung.

»Stimmt. Aber sag mal, wo ist dieses Café denn überhaupt?«

Ich hob meine Schultern etwas an.

»Irgendwo in der Stadt, aber das finden wir schon. So groß ist die Innenstadt ja nun auch nicht.«

»Da bin ich ja mal gespannt, aber gut, ich bin auf jeden Fall dabei.«

»Wollen wir Jessy und Lia auch fragen? Ich meine, wir haben schon lange nichts mehr mit den beiden gemacht.«

Jessy und Lia waren schon lange eng mit uns befreundet und fast überall mit dabei. Wenn ich allerdings so zurück überlegte, dann hatten wir schon lange nichts mehr zusammen unternommen. Das allerdings lag höchstwahrscheinlich daran, dass die beiden in der letzten Zeit ziemlich viel Stress mit ihren Prüfungen gehabt hatten.

»Ich hab Lia vorhin getroffen. Sie meinte, dass sie mit ihren Freunden unterwegs wären.«

»Dann können wir uns die Überlegung wohl sparen, oder?«, seufzte ich.

Sie nickte.

Ich ging ein Stückchen mit ihr mit, und gerade als wir eine Kreuzung überquerten, kamen die beiden uns, als hätten sie es gehört, entgegen.

»Wenn man vom Teufel spricht …«, kicherte Sue.

»Hey ihr zwei!«

Lia packte Jessy am Handgelenk und zerrte sie förmlich schneller in unsere Richtung. Ich drückte beide kurz.

»Hey! Euch hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen.«

»Ja, in letzter Zeit war es ein bisschen stressig bei uns«, sagte Lia und warf ihr rotbraunes, schulterlanges Haar nach hinten.

»Wie sind eure Prüfungen überhaupt gelaufen? Hat alles gepasst?«, fragte Sue jetzt.

Es war Jessy, die ihr grinsend antwortete.

»Super. Aber nach der ganzen Lernerei hatte ich auch nichts anderes erwartet. Ich meine, wir sind ja gar nicht mehr weggegangen.«

»Allerdings, aber freut mich zu hören, dass alles gut gelaufen ist.«

Lia seufzte.

»Ja zum Glück ist das jetzt endlich rum. Was macht ihr denn heute noch Schönes?«

»In der Stadt hat doch ein neues Nachtcafé aufgemacht, da wollten wir mal hinschauen. Was macht ihr?«

Ihre Augen wurden etwas größer.

»Stimmt, davon hab ich auch gehört. »

»Eigentlich wollten wir ja fragen, ob ihr mitkommen wollt, aber vorhin meintest du ja, dass ihr was mit euren Freunden machen wollt.«

Jessy sah sich kurz um, dann kicherte sie, als sie weitersprach.

»Ja, die haben uns nämlich auch nicht wirklich oft zu Gesicht bekommen. Ich glaub sogar, dass sie sich ein bisschen vernachlässigt vorkommen.«

»Das glaub ich. Ihr zwei hattet aber wirklich nur Zeit für diese dicken Schulbücher«, erinnerte ich mich laut und konnte mir ein Kichern einfach nicht verkneifen. Beide mussten lachen. »Aber das nächste Mal kommt ihr doch sicher wieder mit, oder?«

Lia nickte.

»Klar, nur heute ist es eben schlecht. Aber das nächste Mal könnt ihr wieder voll und ganz auf uns zählen.«

Wir verabschiedeten uns nach dem kurzen Gespräch und gingen weiter unseren Weg. Schon jetzt freute ich mich darauf, wieder mit ihnen unterwegs zu sein.

»Dann machen wir beide uns eben einen schönen Abend zu zweit, oder?«, grinste ich.

Sie lachte.

»Ja, das machen wir.«

Wir bogen in eine kleine Straße ein.

»Wo willst du überhaupt hin?«

»Ich nehme eine Abkürzung nach Hause.«

»Und du bist dir sicher, dass es eine Abkürzung ist? Das sieht nämlich gar nicht so aus!«, sagte ich unsicher. Mir selbst war diese ›Abkürzung‹, wie sie es nannte, nämlich überhaupt nicht bekannt. Selbstsicher nickte sie.

»Ganz sicher!«

Und tatsächlich! Schon nach fünf weiteren Minuten waren wir doch wirklich bei ihrem Haus angekommen.

»Wow, hätte nicht gedacht, dass es tatsächlich eine Abkürzung ist«, staunte ich.

»Hab ich doch gesagt. Wann sehen wir uns heute Abend?«

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war gerade mal halb vier und allzu früh wollte ich nicht ins Café gehen.

»So auf neun?«

»Neun?«, fragte sie etwas verwirrt. »Warum denn so spät?«

»Weil es, wie der Name schon sagt, ein Nachtcafé ist und bestimmt erst um halb neun aufmacht.«

»Klingt irgendwie logisch«, sagte sie. »Also gut.«

Ich drückte sie kurz, dann drehte ich ihr den Rücken zu und ging auf mein Haus zu.

Ich schloss die Tür auf und warf das Jäckchen, welches ich trug, auf die Couch, dann ging ich ins Schlafzimmer. Es dauerte nicht lange, da hatte ich die Klamotten für den Abend schon ausgesucht und aufs Bett geworfen. Nun lagen da eine enge, dunkelblaue Röhrenjeans und ein weißes Top, welches den Rücken zum größten Teil frei ließ.

Es sah bestimmt gut aus, und das bestätigte sich, als ich mich am Abend so im Spiegel musterte. Diese Entscheidung bereute ich nicht. Die Jeans machte schöne lange Beine und das weiße Oberteil war bequem und schön anzusehen noch dazu. Meine dunklen, langen Haare fielen glatt über meine Schulter und meine grünen Augen leuchteten mir im Spiegel entgegen. Wieder einmal waren diese das, worauf ich am meisten stolz war.

Jeder sagte mir, dass ich die Augen von meiner Mutter geerbt hatte und ich wusste, dass sie damit recht hatten. Sie hatte ebenso smaragdgrüne Augen gehabt wie ich. Allerdings waren meine Augen auch das Einzige, was ich mit ihr gemeinsam hatte. Im Gegensatz zu mir hatte meine Mutter dunkelblondes, kurzes Haar und eine eher zierliche und kleine Figur gehabt. Ich dagegen war zwar für meine neunzehn Jahre auch schlank, hatte aber eine Größe von 1,77 m, sodass ich sie um einen ganzen Kopf hätte überragen können. Ich seufzte und sah auf mein Nachttischschränkchen, wo ein Bild stand. Es zeigte meine Mutter und mich im Schwimmbad, wie wir herumalberten und lachten.

Ein warmes Gefühl durchströmte mich bei der Erinnerung daran und ich konnte ebenfalls die Trauer spüren, welche sich ihren Weg ebenfalls durch meinen Körper nach oben bahnte.

Ich nahm es kurz in die Hand und seufzte, dann stellte ich es schnell wieder zurück und sah wieder zum Spiegel. So konnte ich gehen …

Ich nahm ein paar Kleinigkeiten wie Handy, Geldbeutel, Schlüssel, Kosmetik und Bürste und steckte sie in meine Tasche, dann ging ich hinüber ins Wohnzimmer. Hatte ich noch irgendetwas vergessen? Ich überlegte kurz, dann schüttelte ich den Kopf und ging zur Tür. Ich war gespannt, wie es wohl sein würde, dieses neue Nachtcafé. Als ich hinausging, wartete Sue bereits vor der Tür auf mich.

»Was? Du bist schon fertig?«

Sie sah mich an.

»Klar, was hast du denn gedacht?«

»Auf jeden Fall nicht, dass du schon fix und fertig hier stehst. Ich kenne dich jetzt lange genug und in all der Zeit warst du kein einziges Mal pünktlich«, lachte ich.

Sie zog eine Schnute.

»Das stimmt doch gar nicht! Ich kann sehr wohl pünktlich sein.«

Ich hob eine Augenbraue.

»Du weißt ganz genau, dass es stimmt.«

Sie sagte nichts mehr darauf, sondern warf ihre Sachen nach kurzer Überlegung einfach in meine Handtasche.

»Ist doch egal. Heute bin ich pünktlich, also lass uns gehen und nicht diskutieren, ok?«

Ich schloss mich ihrer Meinung an und schlenderte neben ihr die Straße entlang in Richtung Innenstadt.

»Ich bin ja mal gespannt, wie dieses neue Café so ist …«, grinste sie vor sich hin.

Das war ich allerdings auch. Die meisten Cafés und Kneipen bei uns waren eher nichts Besonderes. Die Cafés waren eigentlich ganz in Ordnung und man konnte es sich auch gemütlich machen, aber die Kneipen gingen gar nicht. Die meisten waren völlig heruntergekommen und man konnte dort nicht laufen, ohne dass man mindestens einmal ausrutschte. Es war fast schon ekelerregend und mich wunderte es immer wieder, dass dennoch so viele in unserem Alter dort abhingen. An einer dieser Spelunken liefen wir gerade vorbei. Schon von draußen konnte man lautes Geschrei hören und einen regelrechten Biergestank wahrnehmen. Das war einfach nur widerlich.

»Bähh«, sagte Sue angewidert und zog mich etwas weiter nach links, um den Gestank auszuweichen. »Das ist wirklich ekelhaft. Wer geht denn in so eine versiffte und heruntergekommene Kaschemme?«

Ich nickte und hielt mir die Nase zu. Erst als die Kneipe weit hinter uns lag, atmete ich wieder normal durch.

»Ich kann wirklich nicht verstehen, warum da so viele rumhängen.«

»Das würde ich ja auch gern wissen, aber so lange ich da nicht rein muss, ist es mir andererseits ja auch egal …«

Wir liefen weiter an der Straße entlang, an einigen kleinen Cafés vorbei, die um diese Uhrzeit schon geschlossen hatten, und fanden das Nachtcafé nach weiteren zehn Minuten inmitten der Fußgängerzone neben ein paar kleineren Geschäften.

»Sieht doch gar nicht mal schlecht aus.«

Sue blieb stehen und musterte das Gebäude von oben bis unten. Ich tat es ihr gleich und musste zugeben, dass es wirklich ziemlich gut aussah. Das Café war zwar nicht groß, sah aber von außen dennoch sehr modern und jung aus. Vor dem Lokal gab es sogar eine Terrasse mit gedimmter Beleuchtung, auf der schon einige Paare saßen und verliebt in den Nachthimmel starrten.

»Wollen wir reingehen?«

Sue nickte und folgte mir hinein. Auch an der Inneneinrichtung konnte man nicht mäkeln. Es war ebenso modern ausgestattet, wie es von außen aussah, und statt der übliche Stühlen standen überall Sessel, zwischen denen jeweils ein Glastisch platziert war. Aus den Lautsprechern drang Musik und verschiedene Lichter erzeugten einen genialen Farbeffekt im Raum.

»Ich glaube, hier gefällt es mir ganz gut«, grinste Sue.

Das glaubte ich ihr sofort, mir selbst ging es nicht anders. Wir setzten uns an einen der wenigen freien Tische und ich genoss den weichen Sessel in meinem Rücken. Es war einfach toll, einmal nicht auf alten, morschen Stühlen sitzen zu müssen. Sue reichte mir die Karte.

»Sag bloß, du hast dich schon entschieden?«

»Ja, einen Latte mit Schuss.«

»Mit Schuss?«, fragte ich neugierig.

Sie lehnte sich zurück.

»Klar, wir müssen heute doch nicht mehr fahren oder? Also, warum nicht?«

Da hatte sie auch wieder recht. Ich überflog die Karte von Cappuccino bis hin zu den Gerichten und entschied mich letztendlich für einen Vanille-Mocca mit Schuss. Ihre Stirn legte sich in kleine Falten.

»Bist du sicher, dass das schmecken wird? Vanille-Mocca ja, aber mit Schuss?«

»Keine Ahnung. Ich hab es noch nie probiert, aber die werden schon nichts verkaufen, was nicht zumindest ein wenig schmeckt, von daher riskiere ich es einfach mal.«

»Stimmt auch wieder.«

Dann klappte sie Karte zu und legte sie zurück auf den Tisch. Schon nach ein paar Minuten kam ein junger, hübscher Mann mit dunklem Haar zu unserem Tisch. Seine Augen leuchteten, als er uns ansah.

»Kann ich euch schon irgendetwas bringen?«, fragte er freundlich lächelnd. Als wir bestellt hatten, zwinkerte er uns noch einmal zu, dann ging er zurück zum Tresen. »Kommt sofort!«

Ich sah ihm noch hinterher, wie er zurück schlenderte, und atmete tief ein. Sue war das natürlich nicht entgangen.

»Sag bloß, er gefällt dir?«, wollte sie wissen.

Ich kam mir wie ertappt vor und spürte, wie die Röte in mein Gesicht schoss.

»Ach was, man wird doch wohl noch schauen dürfen, oder ist das verboten?«

»Klar, du musst aber nicht gleich so reagieren. Es ist jetzt beinahe ein Jahr her, da kannst du dich schon mal nach anderen Kerlen umschauen.«

»Ich weiß schon …«

»Na also, dann flirte doch einfach mal mit ihm.«

»Was? Das kann ich doch nicht machen. Der hat bestimmte eine Freundin.«

Sie stützte ihr Gesicht auf ihrer Hand ab und sah an mir vorbei.

»Ach ja? Und warum schaut er dann so zu dir her?«

Ganz unauffällig drehte ich mich etwas zur Seite, um besser sehen zu können, und tatsächlich sah er in meine Richtung. Ein angenehmes Kribbeln überkam mich, als sein Blick den meinen traf, und gleichzeitig stieg mir die Röte ins Gesicht. Schnell sah ich wieder zu Sue.

»Oh Mann, ist das peinlich!«

»Aber warum denn?«, fragte Sue. »Es funktioniert doch sehr gut, sonst würde er nicht andauernd hierher schauen, oder?«

»Hast du dich eigentlich schon mal gefragt, ob das vielleicht daran liegt, dass unsere Getränke noch fehlen?«

Sie lachte und zeigte mir dann den Vogel.

»Genau, und deswegen starrt man immer an den Tisch, oder was? Um die Bestellung nicht zu vergessen, oder wie?«

Erst jetzt merkte ich, wie dumm sich diese Erklärung angehört hatte und ich schämte mich.

Er kam nach wenigen Minuten zurück zum Tisch und stellte mir das Getränk grinsend vor die Nase.

»Ich hoffe doch, dass es schmeckt.«

Ich musste bei seinem Anblick ebenfalls grinsen. Erst nach ein paar Sekunden, in denen wir uns anschauten, realisierte ich jedoch, dass er eigentlich nur darauf zu warten schien, dass ich probierte. Ich nippte am Glas und konnte nicht widerstehen, gleich einen großen Schluck zu nehmen. Es war wirklich gut.

»Schmeckt es denn?«

Ich nickte und wischte mir den Schaum von den Lippen.

»Sehr gut.«

»Na dann bin ich ja zufrieden.«

Als er wieder weg war, legte sich ein breites Grinsen auf Sues Gesicht.

»Und jetzt sag mir noch einmal, dass er nicht mit dir geflirtet hat!«

»Er hat nur gefragt, ob es schmeckt.«

»Ja«, sagte sie, »aber mich hat er das nicht gefragt, oder hast du etwas gehört? Er hat nur dich gefragt, Ana.«

Ich schüttelte stumm den Kopf und wusste, dass ich nichts entgegnen konnte. Scheinbar hatte dieser hübsche Kerl wirklich mit mir geflirtet und ich hatte, weil ich es nicht glauben wollte, nur versucht, mir das Gegenteil einzureden.

»Ist ja gut …«

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, wo ein paar Leute aufgestanden waren und zur Musik tanzten. Andere gingen hinaus auf die Terrasse. Ein Mädchen jedoch saß lachend in einer Ecke, wo sie von zwei Typen eingekreist und in ein Gespräch verwickelt wurde. Sie hatte gelocktes, dunkles Haar und unverkennbar blaue Augen, eine eher zierliche Figur und von daher fand ich es umso beeindruckender, dass sie auf den hohen Hacken, welche sie trug, laufen konnte. Sie hatte ein Bein über das andere geschlagen und unterhielt sich angeregt mit den zwei Kerlen. Ich wusste nicht, was mich so an den Anblick bannte, aber irgendwie hatte ich ein merkwürdiges Gefühl bei dem Anblick. Nicht wegen den beiden Typen, sondern aus irgendeinem anderen Grund. Aber ich kam einfach nicht darauf, warum es so war.

»Ana, alles in Ordnung?«

Ich riss mich von dem Anblick los und sah Sue an.

»Ja, was soll denn sein?«

Sie schielte kurz an mir vorbei.

»Kennst du die drei denn? Oder warum schaust du sie so an?«

»Nein, mir war nur irgendwie …«

Sie hob eine Augenbraue an und musterte mich eindringlich.

»Was?«

»Ach nichts. Ich hab mich geirrt.«

»Du bist manchmal wirklich komisch, weißt du das?«

Ich nickte und nippte stumm an meinem Mocca. Erst jetzt, beim zweiten Schluck, schmeckte ich den Alkohol etwas deutlicher heraus. Auch wenn ich mich nicht umdrehte, so hörte ich dennoch, wie das Mädchen aufsprang und ihre hohen Absätze auf den Boden knallten.

»Lasst uns rausgehen!«

Einer der Typen lachte.

»Aber gerne doch! Geh schon mal vor Bella, wir holen nur noch etwas zu trinken und kommen gleich nach, ok?«

Ihre Absätze klapperten auf dem Boden, während sie zur Tür ging und diese hinter ihr wieder laut ins Schloss fiel. Ich drehte mich erneut nach ihr um, sah aber nur noch, wie sie in der Dunkelheit verschwand. Das anfänglich komische Gefühl verwandelte sich in ein starkes Unbehagen. Und egal, wie sehr ich mich bemühte, ich schaffte es einfach nicht länger, ruhig zu bleiben.

»Du, setzen wir uns mal auf die Terrasse?«

Sue sah mich etwas verwirrt an, nickte aber.

»Meinetwegen. Aber wie kommst du denn jetzt darauf?«

»Weiß nicht, ich hab irgendwie Lust, ein wenig an die frische Luft zu gehen. Also? Kommst du mit?«

Sie überlegte kurz und stimmte schließlich zu.

»Warum eigentlich nicht. Wenn das Wetter schon mal einigermaßen passt, dann sollten wir nicht hier drinnen versauern.«

Wir nahmen unsere Gläser und suchten uns einen Platz draußen. Es war wirklich nicht kalt, sondern sogar angenehm warm für diese Jahreszeit. Ich ließ meinen Blick umherschweifen und fand sofort das Mädchen, das an einem anderen Tisch saß und mit verschränkten Armen zu warten schien. Nervös schlug sie ihre Absätze auf und ab, sodass es leise klapperte. Die Kerle waren ihr noch nicht gefolgt.

»Ana, was ist bloß heute los? Vorhin warst du doch noch gar nicht so, du bist ja richtig abwesend. Sag, ist alles in Ordnung?«

»Sorry, ich überlege nur gerade, woher ich dieses Mädchen kenne.«

Natürlich war das eine Lüge, aber es war immerhin besser als ihr zu erklären, dass ich ein schlechtes Gefühl hatte und sie deshalb so beobachtete.

»Vielleicht aus der Schule?«, überlegte Sue laut und fing jetzt auch an, zu grübeln.

Ich hob beide Schultern etwas an und seufzte.

Das Mädchen fing nach einiger Zeit an, leicht zu zittern. Aber wieso? War ihr etwa kalt? Dabei war es wirklich nicht kühl. Wieso also zitterte sie jetzt?

Ich nippte erneut an meinem Mocca, ohne sie auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, und musste mich beherrschten, alles im Mund zu behalten, als sich auf einmal etwas an der Situation veränderte. Plötzlich trat jemand aus der Dunkelheit hervor und stellte sich direkt hinter das Mädchen. Es war ein junger Mann. Eine eisige Gänsehaut überkam mich, als ich das Gesicht schwach erkennen konnte, und ich zuckte unwillkürlich zusammen.

Es war der Unheimliche, der mir schon im Traum erschienen war und den ich seitdem immer wieder sah. Er stand einfach hinter ihr. Und wieder hatte er dieses hämische, selbstgefällige Grinsen auf den Lippen.

Ich musste schlucken und das ungute Gefühl in mir wurde bei seinem Anblick sofort schlimmer. Aber warum tauchte er schon wieder auf? Und warum grinste er schon wieder so? Was sollte das?

Er legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens und seine Augen funkelten böse. Im nächsten Augenblick verzogen sich ihre Mundwinkel krampfhaft und sie zitterte immer stärker. Ihr ganzer Körper schien plötzlich unter extremer Anspannung zu stehen und ihr schien es auf einmal gar nicht mehr gut zu gehen. Sie fing an, nach Luft zu schnappen, und bemühte sich, noch weiter zu atmen. Ihre Hände schlugen nach rechts und links, als versuchte sie, sich gegen irgendetwas zu wehren, doch es half nichts. Ihre Atemnot schien immer schlimmer zu werden und drohte sie zu überwältigen.

Das Grinsen auf dem Gesicht des Fremden wurde mit jeder Sekunde immer breiter.

»Was…?«

Ich konnte nicht anders. Mit einem Satz sprang ich auf, rannte auf das Mädchen zu und zerrte sie von ihrem Stuhl auf die Beine. Ich wusste nicht, warum ich das tat, aber ich hatte das Gefühl, dass sie von ihm wegmusste. Wenn sie in seiner Nähe blieb, würde sie sterben, das war mir klar.

Sie wusste nicht, wie ihr geschah und sah mich verwirrt und nach Luft ringend an, doch es gelang mir, sie wegzubringen. Noch immer versuchte sie, richtig Luft zu bekommen. Jetzt allerdings, wo er nicht mehr direkt in ihrer Nähe war, gelang es ihr schon wesentlich besser.

»Geht es wieder einigermaßen? Alles ok?«

Sie sah mich keuchend an und brauchte einen Moment, um zu antworten, doch dann nickte sie schließlich.

»Ja, danke …. ich … ich …«

Ich strich ihr durchs Haar.

»Ganz ruhig. Es ist alles gut.«

Sie fing an zu weinen und warf sich in meine Arme.

»Ich hab plötzlich keine Luft mehr bekommen. Ich weiß nicht, was das war, aber irgendetwas hat mir die Luft abgeschnürt …«

Sue war gleich zu uns gestoßen und sah mich schockiert an.

»Ana! Was ist passiert?«

Ich hörte sie kaum. Meine ganze Aufmerksamkeit galt alleine dem weinenden Mädchen, welches noch immer schnell und hektisch atmete und völlig außer sich war.

»Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung.«

Noch immer lag die Angst auf ihrem Gesicht und es dauerte einige Minuten, bis sie sich wieder fing. Allmählich beruhigte sie sich.

»Es ist ja alles wieder gut.«

Ich sah auf und blickte mich um, doch den Fremden konnte ich nirgendwo mehr entdecken. Die Anspannung in mir löste sich langsam. Er war weg.

»Was … Was war das?«

Ich hob beide Schultern.

»Ich weiß es nicht.«

Sue sah mich mit großen Augen an.

»Ana, was ist denn nur passiert?«

Das Mädchen sah auf und bevor ich antworten konnte, tat sie es.

»Ich weiß es nicht, aber es war, als hätte mir jemand die Luft abgedrückt. Wäre sie nicht da gewesen, wäre ich vermutlich grad eben da hinten einfach erstickt.«

Man konnte das Entsetzten in Sues Gesicht deutlich erkennen.

»Oh mein Gott! Ich hab das ja gar nicht mitbekommen, und das, obwohl ich doch auch in der Nähe saß.«

»Um ehrlich zu sein«, keuchte sie, »wundert es mich, dass sie es überhaupt mitbekommen hat, immerhin konnte ich weder reden noch sonst irgendetwas tun, um auf mich aufmerksam zu machen.«

»Das war Zufall«, log ich.

Sue sah mich an.

»Aber ein guter Zufall.«

Das Mädchen nickte lächelnd und sog die Luft mit großen Zügen ein.

»Ich glaube, so langsam geht´s mir auch schon wieder besser«, sagte sie.

»Bleib lieber ein wenig sitzen und beruhig dich noch etwas.«

Sie widersprach nicht und setzte sich neben uns, dann sah sie mich, immer noch mit Tränen in den Augen, an. »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.«

»Du musst dich nicht bedanken, das war selbstverständlich …«

Sie wischte sich mit einem Ärmel über die Wangen und reichte mir dann eine Hand.

»Ich bin übrigens Jenny!«

»Ich bin Ana und das ist meine Freundin Sue!«, entgegnete ich ihr. Sue lächelte auf ihre übliche warmherzige Art und reichte ihr ebenfalls die Hand.

»Was genau war jetzt eigentlich? Hast du einfach keine Luft mehr bekommen?«, fragte sie das Mädchen, immer noch etwas geschockt von dem, was gerade geschehen war.

»Das war wirklich schräg«, sagte Jenny und wirkte plötzlich seltsam abwesend, »ich konnte es zwar nicht sehen, aber es hat sich eher so angefühlt, als ob mir jemand die Luft abgedrückt hätte. Ich dachte wirklich, da steht jemand hinter mir und will mich erdrosseln.«

Mein Blick blieb an ihrem Hals hängen und bevor ich es tun konnte, schreckte Sue auf einmal neben mir zusammen. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um einen schrillen Ton zu vermeiden.

»Oh mein Gott!«

An dem Hals des Mädchens konnte man mehr als deutlich eine gerötete Stelle erkennen. Ich sah genauer hin und war mir nicht sicher, ob nur ich es sah, aber ich erkannte eindeutig einen Handabdruck.

»Ana, siehst du das?«, fragte Sue mich fassungslos, denn auch sie hatte die Rötung erkannt.

»Was ist denn?«, fragte Jenny und tastete mit ihrer linken Hand an genau diese Stelle. Sie zog ihre Hand allerdings blitzschnell wieder zurück, als sie diese berührte Es schien ihr Schmerzen zuzufügen, wenn sie dorthin fasste. Sie sah uns geschockt und mit leicht geöffnetem Mund an.

»Was ist?«

Ein leichtes, kaum vernehmbares Zittern überfiel ihren Körper.

»Es glüht und tut irgendwie weh.«

Ich fasste ebenfalls vorsichtig an die Stelle. Sie hatte Recht, ihre Haut war wirklich sehr heiß.

»Das fühlt sich aber gar nicht gut an. Du solltest morgen besser gleich zum Arzt gehen und das anschauen lassen.«

Sie nickte schnell.

»Das tu ich. Oh man, ist das alles heute schräg …«

Ich versuchte, aufmunternd zu lächeln, und schob ihr mein Glas hin.

»Trink erst mal, dann geht’s dir bestimmt ein bisschen besser.«

Dankend nahm sie das Glas in die Hand und nahm gleich einen großen Schluck.

»Ist der mit Schuss?«, fragte sie gleich.

Ich nickte grinsend.

»Schmeckt gut.«

»Finde ich auch.«

Sie lächelte. Nach einer Weile hatte sie sich von dem Schock erholt und wir waren schließlich so im Gespräch vertieft, dass ich nicht mal bemerkte, wie der junge Kellner wieder zum Tisch trat.

»Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit? Haben Sie noch einen Wunsch?«

Ich lächelte.

»Es ist alles bestens.«

Er beugte sich etwas an mich heran, sodass seine Lippen nur noch Millimeter von meinem Ohr entfernt waren, und flüsterte: »Das freut mich. Der Nächste geht aufs Haus!«

Ich musste grinsen. Er ging wieder zurück und sah noch einmal kurz zu mir, dann kümmerte er sich wieder um seine Arbeit.

»Oh man, Ana, der steht auf dich! », grinste Sue und stupste mich grinsend an.

Ich seufzte.

»Du wieder …«

Jenny grinste jetzt ebenfalls, oder zumindest versuchte sie es, und stimmte meiner Freundin zu.

»Also, so wie der dich ansieht, scheint der wirklich auf dich zu stehen. Der kann ja kaum seine Augen von dir lassen.«

Sie schien ihren Anfall schon ziemlich gut verkraftet zu haben, und das, obwohl er gerade erst ein paar Minuten her war. Aber das war ganz gut so.

»Jetzt fang du nicht auch damit an …«

Sie seufzte und nach einer Weile stand sie schließlich auf.

»Ich glaube, ich sollte dann mal wieder gehen. Das gerade eben war einfach etwas zu viel gewesen und ich denke, ein bisschen Schlaf wird mir sicherlich ganz gut tun.«

»Kann ich verstehen.«

Sie bedankte sich noch einmal und winkte uns kurz zu, dann ging sie in Richtung Straße. Ich sah ihr noch hinterher und entdeckte den Fremden zu spät, der auf der anderen Straßenseite hinter einem Baum stand und sie anstarrte. Ein eisiger Schauer überkam mich, und das ungute Gefühl, welches gerade wieder verschwunden war, kam erneut in mir auf.

Mit schriller Stimme schrie ich in ihre Richtung: »Bleib stehen! Pass auf! Halt!«

Sie fuhr herum, aber es war bereits zu spät. Ich hörte das Quietschen von Reifen und sah, wie ein Wagen ausbrach und ins Schleudern geriet. Jenny schaffte es nicht mehr, rechtzeitig auszuweichen, und wurde brutal von dem Wagen mitgerissen. Mit einem merkwürdigen Geräusch schlug sie hart auf dem Asphalt auf und alles wurde wieder still um uns herum. Der Wagen verschwand schnell in der Dunkelheit, aus der er gekommen war. Ein Schrei entwich meiner Kehle und ich sprang auf.

»Oh mein Gott! Was ist da passiert?«

Sue, sowie auch alle anderen, die draußen saßen, sahen in die Richtung. Mein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen bei dem Bild, welches sich mir bot. Jenny lag am Boden und rührte sich überhaupt nicht mehr. Das durfte nicht wahr sein. Mit schnellem Schritten ging ich in ihre Richtung und wurde wieder langsamer, als ich näher an sie herantrat. Schon von weitem sah ich das Blut, in dem sie lag. Ich hielt mir eine Hand vor den Mund, um einen weiteren Schrei zu ersticken.

»Nein, bitte nicht!«

Doch je näher ich kam, umso mehr schwand die Hoffnung in mir.Kein Zittern, keine Bewegung. Es tat sich überhaupt nichts.

Sie lag einfach da, ohne jegliche Regung und Bewegung.

»Bitte sei noch am Leben …«, flehte ich.

Ich ging noch einen Schritt näher heran und sah ihre weit aufgerissenen Augen und ihre Lippen, an denen das dunkle Blut entlang lief. Ganz vorsichtig ergriff ich ihre Hand und merkte erst jetzt, dass ich zitterte. Doch egal, wie lange ich mich bemühte und tastete, ich konnte einfach keinen Puls fühlen. Er war nicht vorhanden. Tränen überströmten mein Gesicht, als ich mich zu Sue umdrehte.

»Ich glaube, sie ist tot …«

Das Gesicht meiner Freundin verzerrte sich und sie schlug sich die Hände vor den Mund.

»Aber wir haben doch gerade eben erst mit ihr geredet …«

Ich schaffte es nicht, meinen Blick von ihr zu nehmen, so geschockt war ich. Gerade eben hatte ich gedacht, sie in Sicherheit gebracht und sie so vor dem Tod bewahrt zu haben, aber da hatte ich mich scheinbar gewaltig geirrt. Ich ließ die kalte Hand des toten Mädchens fallen und musste mich auf dem Boden abstützen, um nicht umzukippen.

»Sie ist ja ganz kalt…«, sah Sue mich an. »Aber wie kann das sein? Sie ist doch gerade eben erst überfahren worden! Wie kann sie da schon ausgekühlt sein?«.

Die Situation überforderte also nicht nur mich, sondern auch sie total.

»Sie ist tot …«

Ich wiederholte es immer wieder, fast so, als versuchte ich, etwas daran zu ändern. Der junge Kellner kam zu uns und versuchte ebenfalls panisch, ihren Puls zu ertasten.

»Ich hab einen Knall gehört. Ist das Mädchen etwa vors Auto gelaufen?«, fragte er.

»Nein, ein Wagen hat sie angefahren. Er ist plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und hat sie einfach mitgerissen.«

Er gab es auf und ließ ihre Hand ebenfalls fallen, dann rieb er sich die Stirn. Man sah ihm an, dass auch er völlig schockiert war.

»Sie war doch gerade noch da. Es kann doch nicht …«

Ich schaffte es nicht, weiter zu sprechen. Der Schock über das, was gerade eben geschehen war, schien mich immer stärker zu lähmen. Er legte mir eine Hand auf die Schulter, doch auch das spürte ich nur noch schemenhaft.

Sue stand reglos neben mir und sah ebenfalls auf das tote Mädchen hinab. Gerade eben hatte sie noch neben uns gesessen, und jetzt lag sie leblos am Boden. Vor wenigen Minuten hatte ich sie vor dem Ersticken gerettet und jetzt? Jetzt sollte sie dennoch gestorben sein? Das konnte doch nicht wirklich sein, oder? Sollte das Gerechtigkeit sein?

Und der Schuldige war mit dem Wagen längst über alle Berge. Er hatte nicht einmal abgebremst und sich umgedreht und das, obwohl er ein Mädchen getötet hatte …

»Wie kann der einfach davonfahren? Immerhin hat er doch ein Mädchen überfahren. Hat der überhaupt ein Gewissen?«, fragte der Kellner jetzt fassungslos und sah die Straße entlang.

Ich hob nur ahnungslos die Schultern und fragte mich im Moment dasselbe. Was war das bloß für ein Mensch, der skrupellos einfach weiterfuhr, ohne sich um den Zustand seines Opfers zu kümmern? Wie konnte man, wenn man doch wusste, jemanden angefahren zu haben, einfach weiterfahren?

»Hat jemand das Nummernschild von dem Wagen aufgeschrieben?«, schrie ein Mädchen, welches nun dazu gekommen war, mit schriller, beinahe schon hysterischer Stimme.

Doch natürlich hatte es sich niemand gemerkt. Das war alles viel zu schnell gegangen, als dass jemand die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Sue zog mich auf die Beine und ich lehnte mich dankend etwas an ihr an. Kurze Zeit später hielt ein Rettungswagen direkt neben uns. Mit schnellen Schritten traten drei Sanitäter heraus und gingen bei dem Körper des Mädchens in die Knie, doch als sie ihren Puls ertasten wollten, schüttelte der eine von ihnen den Kopf und seufzte.

»Sie hat keinen Puls mehr, die Haut ist kalt. Wir sind zu spät.«

Zwar versuchten sie trotzdem noch eine halbe Stunde lang, das Mädchen wiederzubeleben, doch es war vergebens. Erneut rannen dicke Tränen über mein Gesicht und ich verbarg es in den Händen.

»Bitte lass uns gehen …«

Sue sagte nichts, sondern nickte einfach nur und stimmte zu. Der Kellner hielt mich kurz am Arm fest.

»Ich bin übrigens John!«, sagte er.

Ich war zwar überhaupt nicht in der Stimmung zu reden, aber dennoch reichte ich ihm kurz meine Hand.

»Ana. Nimm es mir nicht übel, aber ich würde jetzt gerne nach Hause gehen.«

Verständnisvoll nickte er. Ich sah mich nicht mehr um, als ich mit meiner Freundin in Richtung unserer Straße lief. Als ich in dieser Nacht im Bett lag, hatte ich mich noch immer nicht beruhigt. Zwar weinte ich nicht mehr und auch das Zittern hatte nachgelassen, aber dennoch saß der Schock tief. Das Mädchen war wirklich gestorben und das, obwohl ich mir sicher gewesen war, sie davor bewahren zu können …

Die Sage der schwazen Rose

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