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Historischer Hintergrund

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Seit der Machtübernahme von Hafiz al-Assad im Jahr 1970 durch einen Militärputsch7 und nachdem er sich seiner Gefährten entledigt hatte,8 griff er zur Politik der Verhaftung seiner Gegner.9 Damit wollte er seine Macht festigen und ihren Erhalt sichern und nutzte dazu auch den Ausnahmezustand,10 der nach der Erringung der Macht durch den Putsch der Arabischen Sozialistischen Baath-Partei am 8. März 1963 ausgerufen worden war.

Der Ausnahmezustand und eine Reihe anderer repressiver Maßnahmen11 boten den verschiedenen Geheimdiensten,12 die während der drei Jahrzehnte seiner Herrschaft expandierten und deren Einfluss sich ständig verstärkte, einen Deckmantel dafür, viele Jahre lang willkürlich Menschen zu verhaften und verschwinden zu lassen, sie unmenschlich zu foltern, zu demütigen und ihre Menschenwürde zu missachten, ihnen sämtliche Grundrechte sowie medizinische Versorgung im Gefängnis zu verwehren, sie nach der Entlassung ständig zu verfolgen und ihnen oft auch ihre Bürgerrechte zu verwehren.13 Nachdem die Macht gefestigt war, zeigte das Regime seine Krallen und ging zu scharfen repressiven Maßnahmen über, um die syrische Gesellschaft und ihre Institutionen im Zaum zu halten, jedmögliche organisierte Opposition im Keim zu ersticken14 und damit zu verhindern, dass sich das syrische Volk erneut am politischen Leben und der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten beteiligt.15 Das Regime zögerte dabei nicht, immer mehr zu Gewalt, Erniedrigungen, Verhaftungen und kollektiver Bestrafung zu greifen. Der deutlichste Beweis dafür ist vielleicht das kaltblütige Massaker im Gefängnis Tadmur16 im Juni 1980, dem hunderte Isolationshäftlinge zum Opfer fielen,17 der schlimmste Beweis jedoch ist das Massaker von Hama18 im Februar 1982. Damals begnügten sich die bewaffneten Kräfte des Regimes nicht nur mit Beschuss und Zerstörung19 ganzer Stadtviertel, die sie dem Erdboden gleichmachten, sondern sie töteten, folterten und verhafteten tausende junge Männer in verschiedenen Teilen der Stadt,20 während die Frauen und Mädchen Misshandlungen, Erniedrigungen und selbst Vergewaltigungen21 ereilten. Danach erlebte das Land eine lange Zeit von Unterwerfung und Unterdrückung, durch die die Menschen zum Schweigen gebracht werden sollten. Die Geheimdienste begnügten sich während der Herrschaft Hafiz al-Assads nicht damit, die Frauen zu verhaften und zu erniedrigen, die sich mutig gegen das Regime stellten.22 Sie nutzten auch die herrschende patriarchalische Mentalität der Gesellschaft aus, die die Frauen verurteilt und für ihr Handeln verantwortlich macht, wenn sie es wagen, in für sie verbotene Bereiche vorzudringen, wie zum Beispiel das Engagement für die Angelegenheiten von öffentlichem Interesse. Die syrische Gesellschaft ist allgemein konservativ und Frauen spielen eine marginale Rolle. Frauen, die sich engagieren und eine eigene Meinung besitzen, sehen sich nicht nur der Unterdrückung durch die Herrscher gegenüber, die Frauen und Männer gleichermaßen betrifft, sondern auch einer Reihe weiterer Herausforderungen, wie den überholten Traditionen und Normen, die die Gesellschaft durchdringen,23 und den diskriminierenden Vorschriften24 in der Verfassung und den Gesetzen, insbesondere im Zivilrecht.

Auch wenn die syrischen Frauen durch ihren anhaltenden Kampf schon früh einige Rechte erringen konnten, wie zum Beispiel das Wahlrecht,25 behandelt sie die syrische Gesellschaft noch immer von oben herab. Ihre Jungfräulichkeit ist weiterhin ein Symbol und Beweis für ihre Ehre und die Ehre der Familie, und die Frau zahlt unter Umständen mit ihrem Leben, wenn diese Ehre verletzt wird.26 Das wissen die Machthaber sehr genau und richten all ihre Anstrengungen darauf, diesen absoluten Schwachpunkt27 in der syrischen Gesellschaft auszunutzen. Hier kann man die gesamte Gesellschaft treffen, disziplinieren und terrorisieren und damit zum Schweigen bringen.

Von 1977 an, wenige Jahre nach Festigung der Macht durch Hafiz al-Assad, verhaftete man Mitglieder der Liga für Kommunistische Aktion (später Kommunistische Arbeitspartei) wegen ihrer kritischen Haltung zu Unterdrückung und Korruption und ihrer Verurteilung der militärischen Intervention im Libanon, darunter zwölf Frauen, zumeist Studentinnen.28

Anfang der 1980er Jahre wurden Dutzende Frauen mit der Anschuldigung festgenommen, den Muslimbrüdern oder dem irakischen Flügel der Baath-Partei anzugehören, und verschiedensten Arten von Folter ausgesetzt. Unter ihnen befanden sich auch Schwangere und Minderjährige.

Nachdem das Regime Anfang der 1980er Jahre den Krieg gegen die Muslimbrüder gewonnen hatte,29 richtete es seine Repressalien gegen oppositionelle30 linke und säkulare Kräfte, Teile der gebildeten Elite sowie verschiedene Gruppierungen der Zivilgesellschaft. Niemand entkam seiner Brutalität, von Schülern bis zu den Alten, Männer wie Frauen.

Das herausragendste Ereignis war die Verhaftungskampagne von 1987, während der mehr als 100 Frauen wegen ihrer Zugehörigkeit oder Nähe zur Kommunistischen Arbeitspartei verhaftet wurden. Viele von ihnen blieben mehrere Jahre im Gefängnis, ohne je vor ein Gericht gestellt zu werden.

Nachdem Baschar al-Assad nach dem Tod seines Vaters im Jahr 2000 die Macht übernommen hatte, versprach er in seiner Antrittsrede31 den Syrer*innen Demokratie und Meinungsfreiheit. Das war eine gute Nachricht für die Menschen und ermutigte Persönlichkeiten aus der syrischen demokratischen Opposition, politische Foren zu gründen,32 den Dialog aufzunehmen und Initiativen anzustoßen. Diese Zeit erhielt den Namen „Damaszener Frühling“33, auch wenn der Ausnahmezustand nicht aufgehoben wurde. Doch schon bald wurde diese Bewegung unterdrückt,34 ihre Anführer wurden verhaftet und zu Haftstrafen zwischen 5 und 10 Jahren verurteilt. Die Frauen und Männer, die an diesem „Frühling“ teilgenommen und ihn unterstützt hatten, wurden mit Verhaftung bedroht. In den Folgejahren gingen die Verhaftungen weiter und betrafen jede oppositionelle Stimme, jede*n Verteidiger*in der Menschenrechte und der Demokratie und selbst Blogger*innen35 und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft.36

Doch die systematische Politik der Gewaltanwendung, der Verhaftungen und der Einschüchterung hinderte das syrische Volk nicht daran, sich aufzulehnen und den Status quo abzulehnen. Im März 2011 begann die syrische Revolution37, die Demokratie und Gerechtigkeit, Freiheit und Würde einforderte. Das Regime begegnete ihr mit scharfer Munition, Einkerkerung und erzwungenem Verschwinden. Die Verhaftungen erfolgten mit äußerster Gewalt vor den Augen und Ohren aller Syrer*innen und vor den Augen der gesamten Welt,38 aufgezeichnet von Handykameras von Aktivist*innen. Es gab Verhaftungskampagnen, die zehntausende syrische Frauen betrafen,39 die sich an der Revolution beteiligten, in den aufständischen Gebieten lebten oder an der Revolution teilnehmenden Familien angehörten.40

Als Reaktion auf die internationale Ablehnung des andauernden Ausnahmezustands, der nun schon Jahrzehnte bestand, tat Assad nach außen hin, als würde er ihn aufheben, und beendete die Praxis, politische Verbrechen an das Gericht für Staatssicherheit zu verweisen.41 Er setzte jedoch an seine Stelle etwas noch Schlimmeres, nämlich ein außerordentliches Gericht, das den Namen „Terrorgericht“ erhielt. Das wurde gestützt vom Antiterrorgesetz42 Nr. 19 von 2012, das ihm als Gesetzestext die rechtliche Deckung dafür bot, sich zehntausender Oppositioneller zu entledigen, die des Terrors bezichtigt43 und auf den Plätzen der Militärgerichte und in den dafür eingerichteten Gefängnissen hingerichtet wurden.44

Als das syrische Volk seinen Weg fortsetzte und der Aufstand anhielt – obwohl die Zahlen der Getöteten und Deportierten anstiegen, die Städte und die Infrastruktur zerstört wurden45 und alle Arten international geächteter Waffen zum Einsatz kamen46 –, setzte auch das Regime seine Politik der willkürlichen Verhaftungen und des erzwungenen Verschwindens fort. Es ist dokumentiert, dass die verschiedenen syrischen Geheimdienste Verbrechen der Folter und des Mordens an gefangenen Frauen und Männern begangen haben, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen eingestuft werden.47 Wie durch die Bilder des unbekannten syrischen Fotografen unter dem Decknamen „Caesar“48 belegt wurde, starben seit 2011 Tausende durch Folter, vor Gram, an Krankheiten oder durch Vernachlässigung oder sie verhungerten.49

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