Читать книгу Stimmen gegen das Schweigen - Joumana Seif - Страница 8
Einleitung
Оглавление„Im Gefängnis wird dir deine Identität genommen; du bist ein Niemand, deshalb ist alles möglich: Erniedrigung, Folter, Demütigung, Vergewaltigung, all das ist unausweichlich.“ NADA
„Vergewaltigung hinterlässt tiefe psychische Spuren … In meiner langen Zeit im Gefängnis haben sich nur zwei Frauen getraut, mir von ihrer Vergewaltigung zu erzählen. Ich habe niemandem davon erzählt … All die Einzelheiten des Leids im Gefängnis hinterlassen Narben, die auch nach vielen Jahren nicht wirklich verheilen.“ LAMA
Nada, die während der Revolution inhaftiert war, und Lama, die in den 1980er Jahren im Gefängnis war, sind zwei Beispiele dafür, was Frauen im Gefängnis erleben. Ihre Aussagen beschreiben nicht nur ihr eigenes Leid, sondern die Erfahrungen und das Leid aller Frauen, die wir für diesen Bericht getroffen haben.
Die Zitate, die wir wiedergeben, wurden aus den Zeugenaussagen von Frauen ausgewählt, die zwischen 1980 und 2017 im Gefängnis waren und Widerstand geleistet haben. Es ist eine Gelegenheit, sich mit diesen wichtigen Erfahrungen zu befassen, auch wenn sie noch so grausam sind. Im ersten Teil beschäftigen wir uns mit den Methoden und der Dauer der Verhaftung und den Bedingungen, die diese Frauen erlebten. Wir berichten auch darüber, wie die Geheimdienste mit den besonderen Bedürfnissen von Frauen umgehen.
Im zweiten Teil beleuchten wir die Formen von Gewalt, denen sie ausgesetzt waren, angefangen von Folter über sexuelle und psychische Gewalt bis hin zur Stigmatisierung.
Im dritten Teil beantworten die Frauen unsere Fragen danach, wie ihre Familien und die Menschen in ihrem sozialen Umfeld mit ihnen umgingen. Sie haben dort die Gelegenheit, über die bitteren psychischen und körperlichen Folgen ihrer Erfahrungen zu sprechen, aber auch über ihre unterschiedlichen Fähigkeiten, das Geschehene zu verarbeiten, sich zu widersetzen und den Kampf gegen alle Formen von Unterdrückung und Ungerechtigkeit fortzuführen, um zu erreichen, dass Gerechtigkeit siegt und die Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden.
Dieser Bericht hat nicht zum Ziel, die systematische und umfassende Anwendung von Gewalt gegen Frauen, darunter sexuelle Gewalt, durch das Regime seit 2011 nachzuweisen. Das wurde bereits mehrfach in anderen Berichten getan, die vom UNHRC1 und der IICI Syria2 herausgegeben wurden, sowie in den Berichten syrischer3 und internationaler4 Organisationen für Menschenrechte. Er zeigt jedoch, dass die Verhaftung von Frauen und die Ausübung aller Formen von Gewalt gegen sie in der Geschichte der diktatorischen Herrschaft in Syrien nichts Neues ist; bereits seit den 1980er Jahren hat das Assad-Regime diese Methoden verwendet, um Oppositionelle zu brechen und die syrische Gesellschaft zu bestrafen und politisch zum Schweigen zu bringen.
Zu den wichtigsten Zielen dieses Berichts gehört, für Frauen, die Verhaftung, Gewalt und Folter durch das syrische Regime ausgesetzt waren, eine Möglichkeit zu schaffen, ihre Stimmen zu erheben und über ihre Erfahrungen zu sprechen. Wir betrachten das als echten Widerstand gegen die Politik des „Mundtotmachens“, die das Assad-Regime über viele Jahrzehnte verfolgt hat. Der Bericht veröffentlicht Erfahrungen couragierter Frauen, die in verschiedenen Zeiten des Kampfes in Syrien mutig der Willkürherrschaft trotzten, und unternimmt damit den Versuch, diese Erfahrungen und alles, was mit ihnen verbunden ist, aufzuschreiben – die Träume von Veränderung und einer hoffnungsvollen und sicheren Zukunft, die Schmerzen und das Gefühl von Ungerechtigkeit und Verzweiflung, die Augenblicke der Hoffnungslosigkeit und des Rückzugs, dann erneutes Aufstehen und Fortsetzung des Widerstands trotz der Vernichtung durch die Machthaber und der Unbarmherzigkeit der Gesellschaft. So können wir sagen, dass es über die Jahrzehnte der Unterdrückung hinweg immer wieder weibliche Don Quijotes gab, die sich weigerten aufzugeben. Sie glaubten daran, dass es wichtig war, immer wieder neu, über Generationen hinweg, den Kampf zu führen – trotz des großen Preises, den sie zu zahlen hatten und haben.
Ihnen zuzuhören war keine einfache Sache. Einige brachen in Tränen aus und die Worte blieben ihnen in der Kehle stecken, selbst wenn seit ihren Erfahrungen schon Jahre und manchmal sogar Jahrzehnte vergangen waren. Das hat uns gezeigt, wie tief sich das große Leid und die Schmerzen in ihr Gedächtnis eingegraben haben.
Einige der Frauen, die in den 1980er und 1990er Jahren inhaftiert waren, sagten uns, dies sei das erste Mal gewesen, dass sie so offen über ihre Erfahrungen geredet hätten. Sie hätten sich geschämt zu erzählen, was ihnen widerfahren war. Einige der Frauen, die während der Revolution verhaftet wurden, äußerten, dass sie zwar nicht zum ersten Mal von ihren Erfahrungen berichteten, ihr Schmerz aber nicht nachgelassen habe.
Es muss erwähnt werden, dass einige Frauen von sexueller Gewalt berichteten, uns jedoch später baten, diese Passagen wieder zu streichen. Selbstverständlich sind wir ihren Bitten gefolgt und haben verstanden, warum sie das wollten. Manche von ihnen leiden noch immer an den Folgen des Schocks, und die meisten werden nicht psychologisch betreut. Ein wichtiger Grund ist auch, dass sich die Bedingungen bzw. das politische Klima, in denen sie inhaftiert worden sind, noch nicht verändert haben. Ihre Hoffnung, dass die Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden, verringert sich täglich. Mit dem Andauern des Kampfes und dem Scheitern der Bemühungen, eine politische Lösung zu erreichen, die auf Gerechtigkeit und Wiedergutmachung beruht und bei der die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, wächst die Angst bei allen, die die Gewalt des Regimes und die schlimmen Zustände in den Gefängnissen erlebt haben. Das ist eine ernsthafte Herausforderung, die die Menschenrechtsorganisationen, die Gewaltverbrechen gegen Frauen dokumentieren und sich mit der Problematik von Gerechtigkeit und Verantwortung befassen, berücksichtigen müssen. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts befinden sich noch immer Tausende von syrischen Frauen unter unmenschlichen Bedingungen in den Gefängnissen und Haftanstalten des Regimes. Das Schicksal vieler von ihnen ist unbekannt.5 Es gibt ebenso Tausende von Frauen, die dem Gefängnis entkommen und ihrem Schicksal überlassen worden sind und sich der Ablehnung und Gewalt der Gesellschaft gegenübersehen, ohne Gelegenheit zur Heilung zu haben. Sie akzeptieren die Situation gezwungenermaßen, isolieren sich und ziehen sich aus dem aktiven Leben zurück. Dieser Bericht ist eine Einladung an die Frauen, die der Haft entronnen sind, ihre Stimmen zu erheben und dem Schweigen zu begegnen. Vor allem aber ist er ein Aufruf dazu, Druck auszuüben, damit die Tausenden von immer noch inhaftierten Frauen freigelassen werden, ein Aufruf an Frauenorganisationen, Zentren und Programme einzurichten, die den freigelassenen Frauen psychologische Unterstützung bieten und dabei die Traumata und Schrecken berücksichtigen, die sie erlebt haben und noch erleben. Es ist auch ein Aufruf an alle Schichten der syrischen Gesellschaft, diese Frauen mit anderen Augen zu sehen, mit ihnen solidarisch zu sein und sie zu unterstützen in ihrer Forderung, Gerechtigkeit walten zu lassen, die Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen und Wiedergutmachung zu leisten.
Es ist gut, dass wir – sie und wir – uns am Ende unserer Treffen einig waren, dass zu reden im Wesentlichen bedeutet, Widerstand gegen die Stille, die Unterwerfung und das Schweigen zu leisten, dass es Auflehnung dagegen bedeutet, marginalisiert und daran gehindert zu werden, die Zukunft in unsere eigenen Hände zu nehmen. Und das Wichtigste ist, dass es für uns alle eine Gelegenheit ist zu sagen: Wir sind immer noch da!