Читать книгу Die Stadt der Sehenden - Жозе Сарамаго - Страница 6

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Verunsicherung, Bestürzung, aber auch Spott und Sarkasmus fegten über das Land. Die ländlichen Gemeinden, in denen die Wahl, von gelegentlichen wetterbedingten Verzögerungen abgesehen, ohne Zwischenfälle oder Überraschungen verlaufen war und Ergebnisse ähnlich denen früherer Jahre gebracht hatte, nämlich soundso viele gültige Stimmen, soundso viele eingefleischte Nichtwähler, unbedeutend wenige ungültige und leere Stimmzettel, diese Gemeinden, die der zentralistische Triumph so gedemütigt hatte, als die Hauptstadt sich vor dem ganzen Land als Beispiel wahren Bürgersinns hervorgetan hatte, konnten nun die Ohrfeige zurückgeben und sich über den albernen Hochmut einiger Herren lustig machen, die sich für etwas Besseres hielten, bloß weil sie durch irgendeinen Zufall in der Hauptstadt gelandet waren. Die Bezeichnung Diese Herren, hervorgebracht mit einem leichten Schürzen der Lippen, das bei jeder Silbe, um nicht zu sagen jedem Buchstaben, Verachtung ausdrückte, galt nicht jenen Menschen, die bis vier Uhr zu Hause geblieben und dann plötzlich, als hätten sie einen unwiderruflichen Befehl erhalten, zur Wahl geströmt waren, sondern der Regierung, die vorzeitig triumphiert hatte, den Parteien, die bereits mit den leeren, weißen Stimmzetteln zu pokern begonnen hatten, als seien sie ein zu erntender Weinberg und sie die Winzer, den Zeitungen und anderen Medien, die so leichtfertig von Beifall für die Sieger auf Verdammung der Verlierer umschalteten, als trügen sie selbst gar nichts zum Zustandekommen derartiger Katastrophen bei.

Gewiss waren die Spötter aus der Provinz irgendwie im Recht, doch wiederum auch nicht so sehr, wie sie glaubten. Hinter dieser ganzen politischen Aufregung, die sich wie eine ihre Zündschnur suchende Bombe durchs Land zieht, ist auch eine Unruhe wahrzunehmen, die man nicht laut zu benennen wagt, außer man ist unter seinesgleichen, ein Mensch unter intimsten Freunden, eine Partei mit ihrem Apparat, die Regierung unter sich, Was passiert, wenn die Wahl wiederholt wird, das ist die Frage, die alle mit leiser, verhaltener Stimme stellen, heimlich, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Es kursiert auch die Meinung, am besten sei es, nicht zu viel Staub aufzuwirbeln, sondern lieber alles beim Alten zu lassen, die PDR in der Regierung, die PDR im Rathaus, so zu tun, als sei nichts geschehen, sich vorzustellen, der Ausnahmezustand sei in der Hauptstadt ausgerufen und damit auch die verfassungsmäßigen Rechte aufgehoben worden, um dann, nach einiger Zeit, wenn Gras über die Sache gewachsen ist, wenn das unheilvolle Ereignis sich in die Liste vergessener Vergangenheitsformen einreihen kann, endlich Neuwahlen vorzubereiten, beginnend mit einer ausgefeilten Kampagne voller Schwüre und Versprechungen, wobei gleichzeitig mit allen Mitteln verhindert werden muss, und zwar ohne über harmlose bis mittelschwere Unregelmäßigkeiten die Nase zu rümpfen, dass sich dieses Phänomen, dem ein namhafter Fachmann bereits den unbarmherzigen Namen politisch-soziale Teratologie gegeben hat, wiederholt. Natürlich gibt es auch Gegenstimmen, die einwenden, die Gesetze seien heilig und das dort Festgelegte müsse eingehalten werden, auch wenn es für einige schmerzlich ist, und die Pfade der Verstohlenheit und Geheimabkommen führten geradewegs zu Chaos und Moralverlust, sprich, wenn das Gesetz besagt, im Falle einer Naturkatastrophe seien die Wahlen eine Woche später zu wiederholen, dann würden sie auch eine Woche später wiederholt, also bereits am nächsten Sonntag, Gottes Wille geschehe, denn dafür hat man ihn schließlich. Es lässt sich jedoch beobachten, dass die Parteien bei der Darlegung ihrer Standpunkte lieber nicht zu viel riskieren, sich zweideutig verhalten, ja sagen und gleichzeitig aber. Die führenden Köpfe der Partei der Rechten, welche die Regierung bildet und auch im Rathaus sitzt, sind davon überzeugt, dass dieser unbestrittene Trumpf, wie sie sagen, ihnen den Sieg auf dem Silbertablett servieren wird, und so haben sie sich für eine Taktik der Gelassenheit, gepaart mit diplomatischem Feingefühl, entschieden, haben sich ganz auf das gesunde Urteilsvermögen der Regierung verlassen, der es obliegt, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen, Was ja in einer so gefestigten Demokratie wie der unseren nur folgerichtig und selbstverständlich ist, schlossen sie. Die Mitglieder der Partei der Mitte wollen ebenfalls, dass das Gesetz eingehalten wird, doch fordern sie von der Regierung etwas, das, wie sie von vornherein wissen, unmöglich zu erreichen ist, nämlich die Ergreifung strikter Maßnahmen, die eine absolute Normalität des Wahlvorgangs und insbesondere, man denke nur, der Ergebnisse garantieren sollen, Damit sich nicht das schändliche Schauspiel wiederholt, das diese Stadt der Heimat und der Welt soeben dargeboten hat. Die Partei der Linken hingegen hat nach einer Zusammenkunft ihrer obersten Führungsgremien und langer Debatte ein Kommuniqué erarbeitet und veröffentlicht, in dem die feste Hoffnung zum Ausdruck kommt, dass die bevorstehende Wahl endlich die erforderliche politische Grundlage für den Beginn einer neuen Ära der Entwicklung und des sozialen Fortschritts schaffe. Zwar schwören sie nicht, dass sie die Wahlen gewinnen und ins Rathaus einziehen werden, doch lässt sich dies zwischen den Zeilen herauslesen. Am Abend sprach der Premierminister im Fernsehen, um dem Volk zu verkünden, die Kommunalwahlen würden wie gesetzlich vorgeschrieben am kommenden Sonntag wiederholt, und daher werde um null Uhr des folgenden Tages eine neuerliche viertägige Wahlkampagne eingeleitet, die am Freitag um vierundzwanzig Uhr ende. Die Regierung vertraue darauf, fuhr er mit ernster Miene fort, wobei er bewusst die starken Silben betonte, dass die erneut zur Wahl aufgerufene Hauptstadtbevölkerung ihre Bürgerpflicht mit der Würde und dem Anstand auszuüben wisse, die sie früher stets an den Tag gelegt habe, um so jenes bedauerliche Ereignis vergessen zu machen, das aus nicht vollständig geklärten, jedoch weitgehend untersuchten Gründen plötzlich die gewohnte Klarsicht der Wähler dieser Stadt getrübt hat. Die Botschaft des Staatschefs soll erst am Ende der Wahlkampagne, am Freitagabend, ausgestrahlt werden, doch steht der Satz, mit dem sie enden wird, bereits fest, Der Sonntag, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, wird ein schöner Tag.

Es war wirklich ein schöner Tag. Gleich am frühen Morgen, als der schützende Himmel über uns in vollem Glanz erstrahlte, mit einer goldenen Sonne auf kristallblauem Grund, wie ein inspirierter Fernsehreporter es nannte, begannen die Wähler aus ihren Häusern zu den Wahllokalen zu strömen, nicht in blinden Massen, wie angeblich vor einer Woche, doch zahlreich genug, um, obwohl jeder für sich loszog, zielstrebig und voller Eifer, lange Schlangen wartender Bürger vor den Türen der Wahllokale entstehen zu lassen, bevor diese überhaupt öffneten. Leider ging jedoch nicht alles ehrlich und sauber zu bei diesen friedlichen Menschenansammlungen. Es gab keine Schlange, nicht eine einzige unter den mehr als vierzig über die Stadt verteilten, in der sich nicht wenigstens ein Spion befunden hätte, mit dem Auftrag, die Kommentare der Umstehenden abzuhören und aufzunehmen, denn die Polizei war der Überzeugung, längeres Warten löse früher oder später die Zunge, wie im Wartezimmer des Arztes, und die verborgenen Absichten, die den Geist der Wähler bewegten, träten dann, und sei es in einem simplen Nebensatz, zutage. In der überwiegenden Mehrzahl sind diese Spione Profis, Mitglieder des Geheimdienstes, doch gibt es auch ein paar Freiwillige darunter, patriotische Amateurspione, die sich aus Dienstberufung gemeldet haben und nicht entlohnt werden, wie es in der von ihnen unterzeichneten eidesstattlichen Erklärung heißt, oder, und diese Fälle sind auch nicht selten, aus krankhafter Lust am Denunzieren. Der genetische Code dessen, was wir ohne große Überlegung eher unzureichend als menschliche Natur bezeichnen, erschöpft sich nicht in der organischen Spirale der Desoxyribonucleinsäure, oder DNA, er beinhaltet viel mehr, sagt viel mehr aus, dennoch ist die DNA für uns, bildlich gesprochen, jene komplementäre Spirale, deren Erforschung noch in den Kinderschuhen steckt, obwohl sich eine Menge Psychologen und Analytiker verschiedenster Schulen und unterschiedlichsten Kalibers bei dem Versuch, den Code zu knacken, bereits die Fingernägel ruiniert haben. Diese wissenschaftlichen Betrachtungen, so gehaltvoll und viel versprechend sie auch sein mögen, dürfen uns aber nicht den Blick auf die Besorgnis erregenden Tatsachen von heute verstellen, wie zum Beispiel die soeben genannte, dass es dort draußen nicht nur gelangweilt dreinblickende, heimlich lauschende und das Gesprochene aufnehmende Spione gibt, sondern auch langsam an der Schlange entlangfahrende, angeblich einen Parkplatz suchende Autos, bestückt mit verborgenen, superscharfen Videokameras und modernsten Mikrophonen, die in der Lage sind, all jene Gefühle, die sich offensichtlich hinter dem Flüstern jener Menschen verbergen, die allesamt glauben, an etwas anderes zu denken, auf eine graphische Ebene zu bringen. Das Wort wird aufgenommen und ebenso das Gefühl. Niemand ist mehr sicher. Bis die Türen der Wahllokale geöffnet wurden und die Schlangen sich in Bewegung setzten, hatten die Aufnahmegeräte nichts als unbedeutende Sätze, banale Kommentare über die Schönheit des Morgens und die milde Temperatur oder das hastig hinuntergeschlungene Frühstück aufzeichnen können, kurze Dialoge über die wichtige Frage, wer auf die Kinder aufpasse, während die Mütter wählen gingen, Der Papa ist bei ihnen, es blieb uns nichts anderes übrig, als uns abzuwechseln, jetzt bin ich dran, nachher er, natürlich hätten wir lieber gemeinsam gewählt, aber das ging nicht, und was nicht geht, geht bekanntlich nicht, Auf unseren Jüngsten passt die älteste Schwester auf, die noch nicht alt genug ist zum Wählen, ja, das ist mein Mann, Freut mich, Sie kennen zu lernen, Mich ebenfalls, Was für ein schöner Morgen, Es sieht fast so aus, als sei er mit Absicht so gemacht, Eines Tages musste es so kommen. Trotz der Empfindlichkeit der immer wieder vorbeifahrenden Mikrophone, in einem weißen Auto, einem blauen, einem grünen, einem roten, einem schwarzen, mit im Morgenwind flatternden Antennen, fand sich nichts wirklich Verdächtiges unter diesen zumindest äußerlich so unschuldigen und alltäglichen Aussagen. Dennoch musste man keinen Doktor in Verdachtsfragen, kein Diplom in Misstrauensangelegenheiten haben, um aus den letzten beiden Sätzen etwas Ungewöhnliches herauszuhören, aus dem nämlich über den Morgen, der anscheinend mit Absicht so gemacht sei, und insbesondere dem zweiten, dass es eines Tages so habe kommen müssen, Zweideutigkeiten, die vielleicht unfreiwillig, vielleicht auch unbewusst, doch gerade deswegen potenziell gefährlich waren und denen man besser eine genaue Tonanalyse gegenüberstellte, vor allem aber eine Analyse des erzeugten Resonanzspektrums, gemeint sind hier die Untertöne, ohne deren Berücksichtigung das Verständnis einer jeden mündlichen Rede, wollen wir den neuesten Theorien Glauben schenken, stets unzureichend, unvollständig und beschränkt bleibt. Der sich zufällig dort aufhaltende Spion hatte, genau wie seine Kollegen, vorab genaueste Instruktionen darüber erhalten, wie er sich in einem solchen Fall zu verhalten habe. Er sollte sich nicht von dem Verdächtigen trennen lassen, sich drei oder vier Plätze hinter ihm in die Wählerschlange einreihen, sich zur doppelten Absicherung, trotz der Empfindlichkeit des heimlich mitgeführten Aufnahmegeräts, Name und Wählernummer merken, wenn der Wahlleiter diese laut aufsagte, dann so tun, als habe er etwas vergessen, diskret aus der Schlange ausscheren, hinausgehen, den Vorfall telefonisch der Informationszentrale melden und schließlich in sein Jagdrevier zurückkehren, um erneut den Platz in der Schlange einzunehmen. Diese Aktion kann im strengen Sinne des Wortes nicht als Versuch gelten, ins Schwarze zu treffen, eher hofft man, dass der Zufall, das Schicksal, das Glück oder wie immer man es nennen will, einem das Schwarze direkt in die Schusslinie bringt.

Nach und nach gingen in der Zentrale zahlreiche Informationen ein, doch in keinem einzigen Fall enthüllten sie eindeutig und somit unwiderlegbar die Absichten des observierten Wählers, am brauchbarsten waren noch Sätze wie die obigen, und selbst jener besonders verdächtig wirkende, Eines Tages musste es so kommen, verlöre viel von seiner offensichtlichen Gefährlichkeit, versetzte man ihn in seinen ursprünglichen Kontext zurück, nämlich eine schlichte Unterhaltung zwischen zwei Männern über die eben zurückliegende Scheidung des einen, bestehend aus lauter Andeutungen, um nicht die Neugier der Umstehenden zu wecken, die mit diesem Satz geendet hatte, ein wenig grollend, ein wenig resigniert, und des zitternden Seufzers wegen, der sich der Brust des Mannes entrang, eindeutig in Richtung Resignation hätte interpretiert werden müssen, wäre Feinfühligkeit ein hervorstechendes Merkmal der Spione gewesen. Dass der Spion den Seufzer nicht einmal für erwähnenswert erachtete, dass das Aufnahmegerät ihn nicht aufzeichnete, gehört zu den menschlichen und technischen Fehlleistungen, die ein guter, mit Mensch und Maschine vertrauter Richter in Betracht ziehen müsste, und das wäre wirklich eine wundersame Gerechtigkeit, selbst wenn es vielleicht auf den ersten Blick skandalös erschiene, da es doch in dem ganzen Prozess nicht den geringsten Hinweis auf eine Nichtschuld des Angeklagten gab. Wir erzittern bei der bloßen Vorstellung, was diesem Unschuldigen morgen womöglich widerfahren wird, wenn man ihn zum Verhör führt, Geben Sie zu, dass Sie zu dem Menschen, mit dem Sie sprachen, gesagt haben, Eines Tages musste es so kommen, Ja, das gebe ich zu, Überlegen Sie gut, bevor Sie antworten, was haben Sie mit diesen Worten gemeint, Wir haben über meine Trennung gesprochen, Trennung oder Scheidung, Scheidung, Und was waren, was sind Ihre Gefühle in Bezug auf diese Scheidung, Ich glaube, ein wenig Wut und ein wenig Resignation, Mehr Wut oder mehr Resignation, Mehr Resignation, nehme ich an, Finden Sie nicht, dass es in dem Fall das Normalste gewesen wäre, einen Seufzer auszustoßen, zumal Sie mit einem Freund gesprochen haben, Ich könnte nicht beschwören, dass ich nicht geseufzt habe, ich weiß es nicht mehr, Aber wir haben die Gewissheit, dass Sie nicht geseufzt haben, Woher wollen Sie das wissen, wenn Sie gar nicht dabei waren, Und wer sagt Ihnen, dass wir nicht dabei waren, Vielleicht kann sich ja mein Freund daran erinnern, dass ich geseufzt habe, Sie müssten ihn nur fragen, Offensichtlich bedeutet er ihnen als Freund nicht sehr viel, Was soll das heißen, Ihren Freund kommen zu lassen, bedeutet, ihm Scherereien zu machen, O nein, das will ich nicht, Na schön, Kann ich dann gehen, Wo denken Sie hin, mein Herr, nur keine Eile, erst müssen Sie uns noch die Frage beantworten, die wir Ihnen gestellt haben, Welche Frage, Woran Sie wirklich dachten, als Sie diese Worte zu Ihrem Freund sagten, Das habe ich doch bereits beantwortet, Geben Sie uns eine andere Antwort, die letzte hat nichts getaugt, Es war die Einzige, die ich Ihnen geben konnte, weil es die wahre ist, Das meinen Sie, Außer ich würde jetzt etwas erfinden, Tun Sie das, uns stört es überhaupt nicht, wenn Sie die Antworten erfinden, die Sie für richtig halten, mit etwas Zeit, Geduld und den entsprechenden Techniken werden Sie schon darauf kommen, was wir hören wollen, Dann sagen Sie es mir doch, und wir beenden das Ganze, O nein, das wäre doch völlig witzlos, wofür halten Sie uns denn, mein lieber Herr, wir haben hier doch einen wissenschaftlichen Standard, ein Berufsethos zu verteidigen, für uns ist es ganz wichtig, unseren Vorgesetzten zeigen zu können, dass wir das Geld, das sie uns zahlen, und das Brot, das wir essen, auch verdienen, Ich bin verloren, Nicht so hastig.

Die beeindruckende Gelassenheit der Wähler auf der Straße und in den Wahllokalen entsprach nicht der Stimmung in den Ministerien und Parteizentralen. Die Frage, die die einen wie die anderen beschäftigt, ist, wie hoch wird diesmal die Zahl der Nichtwähler ausfallen, als fände sich darin der Schlüssel zum Ausweg aus dieser schwierigen gesellschaftlichen und politischen Lage, in der das Land seit einer Woche steckt. Eine relativ hohe Zahl von Nichtwählern, vielleicht sogar über das Höchstmaß früherer Wahlen hinausgehend, doch nicht zu extrem, würde bedeuten, dass man zur Normalität zurückgekehrt ist, zur gewohnten Routine der Wähler, die nie an den Nutzen einer Wahl geglaubt haben und daher mit Abwesenheit glänzen, von solchen, die lieber das schöne Wetter ausnutzen und mit der Familie einen Tag am Strand oder auf dem Land verbringen, oder solchen, die einfach nur aus unüberwindlicher Faulheit zu Hause bleiben. Hatte der Urnenansturm, beinahe ebenso heftig wie bei der letzten Wahl, den Behörden bereits zweifelsfrei angezeigt, dass der Prozentsatz der Nichtwähler sehr gering ausfallen oder gar gegen null gehen werde, so verwirrte sie nun am meisten, ja, brachte sie fast um den Verstand, dass die Wähler mit einigen wenigen Ausnahmen mit undurchdringlichem Schweigen auf die Frage der Meinungsforscher reagierten, wie sie denn gewählt hätten, Es ist doch nur für statistische Zwecke, Sie müssen sich doch gar nicht ausweisen, nicht Ihren Namen angeben, insistierten sie, doch nicht einmal damit konnten sie die misstrauischen Wähler überzeugen. Vor einer Woche hatten die Journalisten es noch geschafft, Antworten zu bekommen, die zwar gelegentlich ungehalten, gelegentlich auch ironisch oder verächtlich ausfielen, Antworten, die in Wirklichkeit eher ein Schweigen waren, doch zumindest hatte es einen Wortwechsel gegeben, einer hatte gefragt, der andere geantwortet, kein Vergleich zu dieser undurchdringlichen Mauer des Schweigens, zu diesem Geheimnis, das zu hüten sich alle geschworen hatten. Vielen von uns mag dieses übereinstimmende Handeln Tausender und Abertausender Menschen, die sich nicht kennen, nicht das Gleiche denken, verschiedenen gesellschaftlichen Klassen oder Schichten angehören, kurzum, die politisch rechts, in der Mitte oder links stehen, wenn nicht gar nirgendwo, seltsam oder abwegig vorkommen, und doch hat jeder für sich beschlossen, bis zur Stimmauszählung den Mund zu halten und das Geheimnis erst später zu lüften. Das versuchte der Innenminister in der Hoffnung, Recht zu behalten, dem Premierminister weiszumachen, das gab der Premierminister eilends an den Staatschef weiter, der, da er älter war, mehr Erfahrung und mehr Schwielen an den Händen hatte, mehr erlebt und mehr gesehen hatte, nur träge antwortete, Wenn sie jetzt nicht reden wollen, dann nennen Sie mir doch bitte einen Grund, weshalb sie hinterher reden sollten. Dieser Eimer kalten Wassers, ausgekippt vom höchsten Beamten der Nation, nahm dem Premierminister und dem Innenminister nur deshalb nicht allen Mut, stürzte sie nur deshalb nicht in Verzweiflung, weil sie schon nichts mehr hatten, an das sie sich hätten klammern können, und sei es auch nur vorübergehend. Der Innenminister hatte keine Lust gehabt, die beiden darüber zu informieren, dass er aus Angst vor möglichen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl, eine Befürchtung, die inzwischen von den Tatsachen entkräftet worden war, in allen Wahllokalen der Stadt zwei Zivilbeamte der Sicherheitskräfte hatte einsetzen lassen, die befugt waren, die Wahlhandlungen zu überprüfen, und zugleich jeweils den Auftrag hatten, ihren Kollegen zu überwachen, damit sich dort keine ernsthaften politischen Seilschaften bildeten oder auch nur schmierige Kungeleien ergaben. So wirkte mit all den Spionen und Beobachtern, den Aufnahmegeräten und Videokameras alles sicher, sogar bombensicher, vor bösen Machenschaften geschützt, die die Reinheit des Wahlaktes trüben könnten, und nun, da das Spiel vorbei war, galt es, die Arme zu verschränken und das endgültige Urteil der Urnen abzuwarten. Als im Wahllokal Nummer vierzehn, dem wir als Hommage an die pflichtbewussten Bürger ein ganzes Kapitel widmen durften, ohne gewisse persönliche Probleme Einzelner auszulassen, als in all den übrigen Wahllokalen, von Nummer eins bis dreizehn, von Nummer fünfzehn bis vierundvierzig, die jeweiligen Wahlvorsteher die Stimmzettel auf die langen Bänke leerten, die ihnen als Tische gedient hatten, brach ein wildes Gerücht wie eine Lawine in die Stadt ein. Es war der Vorbote des politischen Erdbebens, das sich bald darauf ereignen sollte. In den Häusern, Cafés, Kneipen und Bars, auf sämtlichen öffentlichen Plätzen, wo es einen Fernseher oder einen Radioempfänger gab, warteten die Hauptstadtbewohner, ruhiger die einen, weniger ruhig die anderen, auf das Ergebnis der Auszählung. Niemand vertraute seinem Nachbarn an, wie er gewählt hatte, die engsten Freunde bewahrten Stillschweigen, den geschwätzigsten Menschen fehlten anscheinend die Worte. Um zehn Uhr abends erschien endlich im Fernsehen der Premierminister. Sein Gesicht wirkte verändert, er hatte tiefe Ringe unter den Augen, Auswirkung einer Woche voller schlafloser Nächte, und trotz der Gesundheit vortäuschenden Maske war er blass. In der Hand hielt er ein Blatt Papier, doch las er kaum ab, warf nur gelegentlich einen Blick darauf, um nicht den Faden zu verlieren, Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, sagte er, das Ergebnis der heute in der Landeshauptstadt durchgeführten Wahl lautet wie folgt, Partei der Rechten, acht Prozent, Partei der Mitte, acht Prozent, Partei der Linken, ein Prozent, Enthaltungen, null Prozent, ungültige Stimmen, null Prozent, leere Stimmzettel, dreiundachtzig Prozent. Er machte eine Pause, um das Wasserglas an die Lippen zu führen, das er neben sich stehen hatte, und fuhr fort, Obgleich die Regierung erkennen muss, dass die heutige Wahl die bereits letzten Sonntag ausgemachte Tendenz bestätigt und erhärtet, und daher einhellig eine gründliche Untersuchung aller nur denkbaren Gründe für diese beunruhigenden Ergebnisse befürwortet, sieht sie nach Beratung mit seiner Exzellenz, dem Staatschef, ihre Berechtigung zum Weiterregieren dennoch nicht in Frage gestellt, und zwar nicht nur, weil die heute durchgeführte Wahl lediglich eine Kommunalwahl war, sondern auch, weil sie es als ihre vornehmliche und dringende Pflicht erachtet, diese abnormen Ereignisse, die wir in der letzten Woche als verblüffte Zeugen sowie als ängstliche Akteure miterlebt haben, mit aller Konsequenz aufzuklären, und wenn ich dies voller Schmerz sage, dann deswegen, weil diese leeren, weißen Stimmzettel, ein brutaler Schlag gegen die demokratische Normalität unseres Lebens und Gemeinwesens, weder vom Himmel gefallen noch aus dem Innern der Erde aufgestiegen sind, dreiundachtzig von hundert Wählern dieser Stadt haben sie in ihren Taschen getragen und mit eigener, jedoch nicht patriotischer Hand in die Urne geworfen. Ein weiterer Schluck Wasser, diesmal dringender benötigt, da ihm der Mund plötzlich trocken geworden war, Es ist noch Zeit, den Fehler zu korrigieren, nicht durch eine erneute Wahl, die beim derzeitigen Stand der Dinge denkbar unnütz und kontraproduktiv wäre, sondern durch eine strenge Gewissensprüfung, zu der ich die Bürger dieser Stadt von dieser öffentlichen Tribüne aus aufrufe, die einen, damit sie sich wirksamer vor der drohenden Gefahr schützen können, die anderen, die vielleicht absichtlich, vielleicht auch unabsichtlich so gehandelt haben, damit sie diesen Frevel, zu dem sie sich durch wer weiß wen haben hinreißen lassen, wieder gutmachen, da sie andernfalls zum direkten Ziel von Sanktionen werden könnten, die der Ausnahmezustand vorsieht, dessen Verhängung seitens seiner Exzellenz, des Staatschefs, die Regierung nach Beratung mit dem Parlament beantragen wird, welches morgen zu diesem Zweck zu einer Sondersitzung zusammenkommt, auf der dies hoffentlich einstimmig beschlossen wird. Veränderung im Ton, die Arme werden halb ausgebreitet, die Hände bis auf Schulterhöhe erhoben, Die Regierung der Nation erkennt ganz klar den brüderlichen Einigungswillen des restlichen Landes, welches mit überaus lobenswertem Gemeinsinn ganz normal seiner Wählerpflicht nachgekommen ist und wie ein liebevoller Vater jener vom rechten Weg abgekommenen Hauptstadtbevölkerung die in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn verborgene Lektion nahe bringt und sie daran erinnert, dass das menschliche Herz keinen Fehler kennt, der unverzeihlich wäre, solange echte Zerknirschung und aufrichtige Reue bestehen. Der letzte, sehr wirkungsvolle Satz des Premierministers, Ehret die Heimat, denn die Heimat schaut auf euch, begleitet von Trommelwirbel und Hörnerklang, aus den Tiefen schimmligster vaterländischer Rhetorik hervorgekramt, wurde von ein paar falsch klingenden Gute-Nacht-Wünschen wieder zunichte gemacht, denn mit einfachen, geneigten Worten kann man niemanden täuschen.

Überall in den Häusern, Bars, Kneipen, Cafés, Restaurants, Vereinigungen oder politischen Zentralen, wo sich Wähler der Partei der Rechten, der Partei der Mitte und sogar der Partei der Linken aufhielten, wurde die Botschaft des Premierministers lang und breit diskutiert, wenngleich natürlich mit ganz unterschiedlichem Tenor. Am zufriedensten mit der Performance des Staatschefs, dieser barbarische Begriff stammt von ihnen, nicht von dem, der diese Geschichte erzählt, waren die Anhänger der PDR, welche sich einvernehmlich und augenzwinkernd zu der hervorragenden Taktik beglückwünschten, die der Regierungschef gewählt hatte, jene nämlich, die landläufig unter dem kuriosen Begriff Zuckerbrot und Peitsche bekannt ist und früher überwiegend bei Eseln und Maultieren Anwendung fand, in der heutigen Zeit jedoch mit beachtlichem Erfolg bei Menschen eingesetzt wird. Einige Parteigenossen jedoch, vom Typ her eher Großmäuler oder Aufschneider, waren der Ansicht, der Premierminister hätte seine Rede an der Stelle beenden sollen, da er die Ausrufung des Ausnahmezustands verkündet hatte, alles, was danach kam, sei überflüssig gewesen, helfe bei diesem Pack doch nur der Knüppel, Wenn wir jetzt nicht hart durchgreifen, sind wir verloren, nicht einmal Wasser hat der Feind verdient, und dergleichen kraftvolle Äußerungen mehr. Die Parteigenossen antworteten, ganz so könne man das auch nicht sehen, der Regierungschef habe seine Gründe, doch diese Pazifisten, naiv wie eh und je, wussten nicht, dass die heftige Reaktion der Hardliner nur ein taktisches Manöver war, mit dem Ziel, den Kampfgeist der aktiven Mitglieder wach zu halten. Wie auch immer, es waren starke Worte gewesen. Die Anhänger der PDM wiederum, ihrer Oppositionsrolle gemäß und trotz grundsätzlicher Übereinstimmung in der Sache, sprich, dem Erfordernis, die Verantwortlichen ausfindig zu machen und die Gesetzesübertreter oder Verschwörer zu bestrafen, hielten die Verhängung des Ausnahmezustands für unverhältnismäßig, zumal man nicht wisse, wie lange er andauern werde, und letztlich sei es doch auch völlig sinnlos, die Rechte von Menschen einzuschränken, deren Verbrechen einzig und allein darin bestand, eines dieser Rechte ausgeübt zu haben. Wo soll das enden, fragten sie sich, falls es irgendeinem Bürger einfällt, Klage beim Verfassungsgericht einzureichen, Intelligenter und patriotischer wäre es, hieß es, gleich eine Regierung zur nationalen Rettung zu bilden, in der alle Parteien vertreten sind, denn wenn tatsächlich eine Krisensituation vorliegt, dann ist sie mit einem Belagerungszustand nicht zu lösen, offensichtlich sind der PDR die Zügel entglitten, und bald werden wir sie vom Pferd stürzen sehen. Auch die Anhänger der PDL triumphierten angesichts der Möglichkeit, an einer Regierungskoalition beteiligt zu werden, doch ihre derzeit größte Sorge war, eine Deutung des Wahlergebnisses zu erreichen, die den gewaltigen Stimmverlust der Partei kaschierte, denn bei der letzten Wahl hatte sie noch fünf Prozent erzielt, bei der ersten Runde der jetzigen nur noch zweieinhalb, und nun konnte sie nur noch einen elenden Prozentpunkt vorweisen, und die Zukunft war düster. Das Ergebnis dieser Analyse fand Eingang in ein Kommuniqué, mit dem nahe gelegt werden sollte, man müsse, da es keinen objektiven Grund zu der Annahme gab, dass die leeren Stimmzettel einen Angriff auf die Sicherheit des Staates oder die Stabilität des Systems darstellten, davon ausgehen, dass eine Übereinstimmung zwischen dem damit zum Ausdruck gebrachten Veränderungswillen und den progressiven Vorschlägen im Programm der PDL zufällig sei. Nicht mehr, und doch so viel.

Es gab aber auch Menschen, die einfach nur den Fernseher ausmachten, als der Premierminister seine Rede beendet hatte, und sich danach über ihr Leben unterhielten, bis sie ins Bett gingen, während andere wiederum den ganzen restlichen Abend damit zubrachten, Papiere zu zerreißen und zu verbrennen. Es waren keine Verschwörer, sie hatten einfach nur Angst.

Die Stadt der Sehenden

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