Читать книгу Die Stadt der Sehenden - Жозе Сарамаго - Страница 8
ОглавлениеDer Lieblingsausspruch des Verteidigungsministers, Ein Tiefschlag gegen das System, teilweise inspiriert durch einen unvergesslichen halbstündigen U-Boot-Ausflug in ruhigen Gewässern, gewann zunehmend an Gewicht, als sich die Pläne des Innenministers trotz des einen oder anderen kleinen Erfolgs, unbedeutend jedoch im Gesamtkontext, als ungeeignet für die Erreichung des Kernziels herausstellten, welches lautete, die Hauptstadtbewohner oder, präziser, die Degenerierten, die Übeltäter, die subversiven Weißwähler zu bewegen, ihren Irrtum einzugestehen und um die Gnade und zugleich Buße eines neuen Wahlgangs zu flehen, bei dem sie zuhauf angeströmt kämen, um ihre aus einer albernen Laune heraus begangenen Sünden zu sühnen, welche sie, wie sie schwören würden, nie wieder begehen wollten. Die gesamte Regierung, mit Ausnahme des Justiz- und des Kulturministers, die beide irgendwie suspekt waren, erkannte die dringende Notwendigkeit, die Schraube noch einmal fester anzuziehen, da die Ausrufung des Ausnahmezustands, von dem man sich so viel erhofft hatte, nicht die gewünschte Wirkung gezeigt hatte, und die Bürger des Landes, welche nicht die gesunde Angewohnheit hatten, auf ordnungsgemäße Einhaltung ihrer Verfassungsrechte zu pochen, nicht einmal bemerkt hatten, dass sie dieser beraubt worden waren. Daher wurde nun ein ernsthafter und nicht bloß vorgetäuschter Belagerungszustand verhängt, mit Sperrstunde, Schließung von Veranstaltungsorten, intensiven Straßenpatrouillen seitens des Militärs, Versammlungsverbot ab fünf Personen und vollkommener Abriegelung der Stadt, während gleichzeitig die ohnehin weit weniger drastischen Beschränkungen im übrigen Land aufgehoben werden sollten, damit die so zum Ausdruck gebrachte ungleiche Behandlung die Demütigung, der die Stadt ausgesetzt war, deutlicher und gewichtiger machte. Womit wir ihnen sagen wollen, erklärte der Verteidigungsminister, und vielleicht kapieren sie das endlich mal, dass sie nicht vertrauenswürdig sind und deshalb so behandelt werden. Der Innenminister, der sich gezwungen sah, die Misserfolge seines Geheimdienstes irgendwie zu bemänteln, befürwortete die sofortige Verhängung des Belagerungszustands, und um zu zeigen, dass er noch immer im Rennen war, berichtete er dem Ministerrat, der Geheimdienst sei nach gründlichen Ermittlungen und einer engen Zusammenarbeit mit Interpol zu dem Schluss gekommen, die internationale anarchistische Bewegung, Falls sie überhaupt zu etwas anderem in der Lage ist, als dumme Sprüche an die Wände zu schreiben, hier hielt er einen Moment inne, um das herablassende Gelächter seiner Kollegen abzuwarten, und beendete den Satz schließlich, zufrieden mit dem Gelächter und sich selbst, mit den Worten, sei in keinster Weise an dem Wahlboykott, dem wir zum Opfer gefallen sind, beteiligt, weshalb es sich hier um eine ausschließlich interne Angelegenheit handelt, Verzeihen Sie den Einwand, sagte der Außenminister, der Zusatz ausschließlich erscheint mir hier nicht ganz angebracht, und ich darf den Ministerrat daran erinnern, dass inzwischen einige Staaten mir gegenüber die Besorgnis zum Ausdruck gebracht haben, die hiesigen Ereignisse könnten die Grenzen überschreiten und sich ausbreiten wie eine neue schwarze Pest, Eine weiße Pest, das hier ist eine weiße Pest, korrigierte mit besänftigendem Lächeln der Regierungschef, Na also, erwiderte der Außenminister, dann können wir doch erst recht von Tiefschlägen gegen die Stabilität des demokratischen Systems sprechen, und zwar nicht nur, nicht ausschließlich in einem, in diesem Land, sondern auf dem ganzen Planeten. Der Innenminister spürte, wie ihm die Rolle der zentralen Figur, zu der ihn die jüngsten Ereignisse erkoren hatten, aus den Händen glitt, und um nicht gänzlich an Boden zu verlieren, suchte er, nachdem er dem Außenminister für seine Bemerkungen gedankt und sie mit unparteiischem Großmut für zutreffend befunden hatte, zu beweisen, dass auch er das Zeug zu spitzfindigen semiologischen Finessen hatte, Es ist interessant zu beobachten, sagte er, wie die Bedeutungen der Wörter sich langsam verändern, ohne dass wir es bemerken, wir verwenden sie, immer wieder, bis sie schließlich genau das Gegenteil von dem besagen, was sie einst bedeutet haben und in gewisser Weise, wie ein langsam ausklingendes Echo, noch immer bedeuten, Das ist eine der Auswirkungen des semantischen Prozesses, kommentierte von einem der abgelegeneren Plätze der Kulturminister, Und was hat das mit den weißen Stimmen zu tun, fragte der Außenminister, Mit den weißen Stimmen hat es nichts zu tun, mit dem Belagerungszustand dafür umso mehr, erklärte der Innenminister triumphierend, Das verstehe ich nicht, sagte der Verteidigungsminister, Es ist ganz einfach, Für Sie mag das ja alles einfach sein, aber ich verstehe es nicht, Dann wollen wir doch mal sehen, was bedeutet das Wort Belagerung, ich weiß, das ist eine rhetorische Frage, Sie brauchen sie mir auch nicht zu beantworten, wir wissen alle, dass Belagerung Umzingelung, Besatzung bedeutet, nicht wahr, So wie bisher zwei plus zwei vier waren, Nun denn, wenn wir den Belagerungszustand ausrufen, ist das, als sagten wir, die Landeshauptstadt sei belagert, umzingelt und besetzt von einem Feind, wobei in Wahrheit dieser Feind, es sei mir erlaubt, ihn so zu nennen, nicht von außen, sondern von innen kommt. Die Minister sahen einander an, der Regierungschef blickte verständnislos und begann in seinen Papieren zu kramen. Doch der Verteidigungsminister sollte diese semantische Schlacht gewinnen, Man kann die Sache auch anders sehen, Wie denn, Dass die Hauptstadtbewohner dafür, dass sie eine Rebellion angezettelt haben, und ich übertreibe wohl nicht, wenn ich das, was in letzter Zeit passiert ist, eine Rebellion nenne, zu Recht belagert, umzingelt oder besetzt wurden, wählen Sie den Ausdruck, der Ihnen am besten gefällt, mir ist das völlig gleichgültig, Ich darf unseren lieben Kollegen und den Ministerrat daran erinnern, sagte der Justizminister, dass die Bürger, die beschlossen haben, weiß zu wählen, nichts anderes taten, als ein Recht in Anspruch zu nehmen, das das Gesetz ihnen ausdrücklich einräumt, daher ist es meiner Meinung nach nicht nur eine semantische Unkorrektheit, in einem solchen Fall von Rebellion zu sprechen, man verzeihe mir mein Vordringen auf ein Gebiet, auf dem ich nicht kompetent bin, sondern juristisch gesehen auch kompletter Unsinn, Rechte sind keine Abstraktionen, antwortete der Verteidigungsminister barsch, Rechte verdient man oder man verdient sie nicht, und die haben sie nicht verdient, alles andere ist Spinnerei, Sie haben völlig Recht, sagte der Kulturminister, in der Tat sind Rechte keine Abstraktionen, sie existieren selbst dann, wenn sie nicht respektiert werden, Hört, hört, die Philosophie, Haben Sie etwas gegen die Philosophie, Herr Verteidigungsminister, Die einzige Philosophie, die mich interessiert, ist die militärische, und selbst die nur unter der Bedingung, dass sie uns zum Sieg verhilft, ich bin ein Kasernenpragmatiker, werte Herren, für mich ist Brot Brot und Käse Käse, ob es Ihnen gefällt oder nicht, aber um nicht als minderbemittelt zu gelten, würde ich jetzt, da es ja wohl nicht darum geht zu beweisen, dass ein Kreis in ein Quadrat mit gleicher Fläche umgewandelt werden kann, gerne erfahren, wie ein Recht, das nicht respektiert wird, existieren kann, Ganz einfach, Herr Verteidigungsminister, dieses Recht existiert potenziell in der Forderung, respektiert und eingehalten zu werden, Ich will ja hier niemanden beleidigen, aber mit bürgerrechtlichen Predigten und Demagogien dieser Art kommen wir hier nicht weiter, der Belagerungszustand muss her, und dann werden wir schon sehen, ob es sie trifft oder nicht, Außer der Schuss geht nach hinten los, sagte der Justizminister, Ich wüsste nicht, wie, Ich im Moment auch noch nicht, aber es gilt abzuwarten, niemand hat je gewagt, sich vorzustellen, dass irgendwo auf der Welt das passieren könnte, was in unserem Land passiert ist, und da ist es nun, wie ein doppelter Knoten, der sich nicht lösen lässt, und wir versammeln uns immer wieder um diesen Tisch, um Entscheidungen zu treffen, die, obwohl sie uns hier als sicheres Mittel zur Krisenbekämpfung präsentiert werden, bisher nichts gebracht haben, warten wir es also ab, bald kennen wir die Reaktionen der Menschen auf den Belagerungszustand, Wenn ich das höre, kann ich unmöglich schweigen, platzte der Innenminister heraus, die getroffenen Maßnahmen wurden einstimmig von diesem Ministerrat verabschiedet, und soweit ich mich erinnere, hat keiner der hier Anwesenden bessere Vorschläge in die Diskussion eingebracht, dieser katastrophale Schlag, ja, ich spreche von katastrophal und auch von Schlag, obwohl einige der Herren Minister das als Übertreibung empfinden und dies mit süffisanter Selbstzufriedenheit zum Ausdruck bringen werden, dieser katastrophale Schlag, ich sage es noch einmal, hat in erster Linie und aufgrund ihrer Zuständigkeiten unseren verehrten Herrn Staatschef und den Herrn Premierminister getroffen und danach den Verteidigungsminister und mich, aufgrund der Verantwortlichkeiten, die unsere Ämter mit sich bringen, während die Übrigen, und hier meine ich vor allem die Herren Justiz- und Kulturminister, die zwar gelegentlich die Güte hatten, uns mit ihrem Licht zu erleuchten, meines Wissens keine Ideen eingebracht haben, die es wert gewesen wären, länger erwogen zu werden, als ihr Anhören dauert, Das Licht, mit dem ich Ihren Worten zufolge gelegentlich die Güte hatte, diesen Ministerrat zu erleuchten, war nicht mein eigenes, es war das Licht des Gesetzes, nur das des Gesetzes, antwortete der Justizminister, Und was meine bescheidene Person und meine Rolle in diesem generösen Ohrenlangziehen betrifft, sagte der Kulturminister, so kann man angesichts des lächerlichen Haushalts, den man mir zugesteht, einfach nicht mehr von mir erwarten, Jetzt verstehe ich ihre Neigung zum Anarchismus, konterte sofort der Innenminister, früher oder später zeigt sich doch immer das wahre Gesicht.
Der Premierminister hatte nun seine Papiere durchgesehen. Er klopfte mit dem Kugelschreiber leicht an sein Wasserglas, um Ruhe und Aufmerksamkeit zu erbitten, und sagte, Ich unterbreche nur ungern Ihre interessante Debatte, die mich, auch wenn ich Ihnen vielleicht etwas zerstreut vorgekommen sein mag, einiges gelehrt hat, gibt es doch, wie wir aus Erfahrung wissen dürften, nichts Besseres als eine zünftige Diskussion, um angestaute Spannungen zu entladen, insbesondere in einer Situation wie dieser, in der wir erkennen, dass unbedingt etwas getan werden muss, aber keine Ahnung haben, was. Er machte eine kleine Pause, konsultierte zum Schein seine Aufzeichnungen und fuhr fort, Da Sie nun alle ruhig und entspannt sind und die Gemüter weniger erhitzt, können wir endlich den Vorschlag des Herrn Verteidigungsministers verabschieden, sprich, die Ausrufung des Belagerungszustands auf unbestimmte Zeit und mit sofortiger Wirkung. Man vernahm ein mehr oder weniger einhelliges zustimmendes Gemurmel, wenngleich mit klanglichen Abstufungen, die jedoch nicht näher identifiziert werden konnten, obwohl der Verteidigungsminister sofort seinen Blick über die Runde schweifen ließ, um etwaige Einwände oder auch leise Begeisterungsstürme aufzuschnappen. Der Premierminister fuhr fort, Leider hat uns die Erfahrung ebenfalls gelehrt, dass selbst die ausgefeiltesten und vollkommensten Ideen in ihrer Umsetzung scheitern können, sei es aufgrund von Zweifeln in letzter Minute, sei es aufgrund von Diskrepanzen zwischen den Erwartungen und dem tatsächlichen Ergebnis, sei es, weil man in einem kritischen Augenblick nicht Herr der Lage war, oder aus tausenderlei anderen Gründen, die hier im Einzelnen nicht dargelegt werden müssen, wofür wir auch gar nicht die Zeit hätten, deshalb ist es aus all diesen Gründen unerlässlich, stets einen sofort umsetzbaren Alternativ- oder Ergänzungsvorschlag bereitzuhalten, um das Auftreten eines eventuellen Machtvakuums oder, anders, beängstigender ausgedrückt, die Macht der Straße mit ihren verheerenden Auswirkungen zu verhindern. An die Rhetorik ihres Premierministers gewöhnt, die nach dem Motto Drei Schritt vor und zwei zurück verfuhr oder, wie es im Volksmund heißt, Du-tust-als-obdu-gehst-aber-du-gehst-nicht, warteten die Minister geduldig das letzte Wort ab, das allerletzte, das alles Vorhergehende erklären würde. Doch diesmal kam es nicht so weit. Der Premierminister leckte sich erneut die Lippen und tupfte sie dann mit einem weißen Taschentuch ab, das er aus der Innentasche seines Jacketts hervorgeholt hatte, er schien seine Aufzeichnungen konsultieren zu wollen, legte sie jedoch im letzten Augenblick wieder beiseite und sagte, Sollten die Ergebnisse dieses Belagerungszustands hinter unseren Erwartungen zurückbleiben, das heißt, sollten sie nicht geeignet sein, die Bürger zu einer demokratischen Normalität zurückzuführen, zu einer ausgewogenen, vernünftigen Anwendung des Wahlgesetzes, welches aufgrund einer törichten Nachlässigkeit der Gesetzgeber den Weg für das ebnete, was wir ohne Scheu vor dem Paradoxon als missbräuchliche legale Auslegung bezeichnen können, so sei diesem Ministerrat bereits jetzt mitgeteilt, dass ich als Premierminister die Ergreifung einer anderen Maßnahme in Betracht ziehe, welche die soeben getroffene, gemeint ist natürlich die Ausrufung des Belagerungszustands, nicht nur verstärken, sondern, und da bin ich mir absolut sicher, das gestörte politische Gleichgewicht unseres Landes ganz von alleine wieder ins Lot bringen und diesen Albtraum ein für allemal beenden wird. Erneute Pause, erneutes Lippenlecken, erneutes Abtupfen des Mundes mit dem Taschentuch, dann fuhr er fort, Man mag sich fragen, warum wir sie angesichts der gegebenen Situation nicht sofort anwenden, statt Zeit mit der Errichtung eines Belagerungszustands zu verschwenden, der, wie wir von vornherein wissen, das Leben der Hauptstadtbevölkerung, der Schuldigen wie der Unschuldigen, in jeder Hinsicht erheblich erschweren wird, diese Frage ist ohne Zweifel berechtigt, doch gibt es gewichtige Faktoren, die wir nicht unberücksichtigt lassen dürfen, einige rein logistischer Art, andere in erster Linie die Auswirkungen einer plötzlichen Einführung dieser Extremmaßnahme betreffend, die man sich ohne Übertreibung als traumatisch vorstellen darf, und deshalb sollten wir uns meiner Meinung nach für ein schrittweises Vorgehen entscheiden, wobei der Belagerungszustand der erste Schritt ist. Der Regierungschef kramte erneut in seinen Papieren, klopfte diesmal jedoch nicht an das Wasserglas, Obgleich ich Ihre Neugier verstehen kann, sagte er, werde ich über diese Maßnahme nichts weiter verlauten lassen, sondern Ihnen lediglich mitteilen, dass ich heute früh eine Audienz bei seiner Exzellenz, dem Präsidenten der Republik, hatte, in der ich ihm meine Idee dargelegt und seine volle und bedingungslose Unterstützung erhalten habe. Zu gegebener Zeit werden Sie alles Weitere erfahren. Bevor ich diese produktive Sitzung nun für geschlossen erkläre, möchte ich alle Minister und insbesondere den Verteidigungs- und den Innenminister, auf deren Schultern all die komplexen Aktionen der Verhängung und Einhaltung des Belagerungszustands lasten werden, bitten, größte Sorgfalt und Energie auf dieses Projekt zu verwenden. Den Streitkräften und der Polizei wird, ganz gleich, ob sie im Rahmen ihrer spezifischen Zuständigkeiten oder in gemeinschaftlichen Aktionen handeln, wobei sie stets gegenseitigen Respekt zu wahren und der Erreichung der Ziele abträgliche Kompetenzstreitigkeiten zu meiden haben, die patriotische Aufgabe zuteil werden, die versprengte Herde in den Stall zurückzuführen, wenn Sie mir diesen unseren Vorfahren so lieb gewordenen und in unserer Schäfertradition so tief verwurzelten Ausdruck gestatten. Und vergessen Sie nicht, Sie sollten alles Erdenkliche unternehmen, damit diejenigen, die bislang lediglich unsere Gegner sind, nicht zu Vaterlandsfeinden werden. Gott schütze und lenke Sie bei Ihrer heiligen Mission, damit endlich wieder die Sonne der Eintracht unser Bewusstsein erhellt und der Friede im Leben unserer Mitbürger neue Harmonie schafft.
Während der Premierminister im Fernsehen die Verhängung des Belagerungszustands verkündete, wobei er als Begründung die fehlende nationale Sicherheit, resultierend aus einer politischen und sozialen Instabilität, anführte, welche wiederum Ergebnis der Aktionen organisierter subversiver Gruppen sei, die wiederholt die freie Stimmabgabe des Volkes bei der Wahl behindert hätten, bezogen bewaffnete Infanterie- und Polizeieinheiten, unterstützt von Panzern und anderen Kriegsfahrzeugen, an allen Ausfahrten der Stadt Position und besetzten außerdem die Bahnhöfe. Der zentrale Flughafen, rund fünfundzwanzig Kilometer nördlich der Stadt gelegen, befand sich außerhalb des Kontrollbereichs der Militärs und konnte daher ohne über Warnstufe Gelb hinausgehende Einschränkungen funktionieren, was bedeutete, dass Touristen weiterhin landen und abfliegen konnten, Einheimischen jedoch von Reisen, die indes nicht gänzlich verboten waren, dringend abgeraten wurde, außer es handelte sich um ganz besondere, von Fall zu Fall zu prüfende Umstände. Die Bilder der Militäroperationen drangen mit der unaufhaltsamen Macht der Direktübertragung, wie der Reporter es nannte, in die Häuser der verwirrten Hauptstadtbewohner. Es waren Bilder von Befehle erteilenden Offizieren, von brüllenden Unteroffizieren, die diese umgesetzt sehen wollten, von Feuerwehrleuten, die Straßensperren errichteten, von Krankenwagen, von Fernsehteams, von Scheinwerfern, die die Straße bis zur nächsten Ecke ausleuchteten, von Soldatentrupps, die aus ihren Lastern sprangen und Stellungen bezogen, bis an die Zähne bewaffnet und gerüstet für eine harte, unmittelbare Schlacht wie auch für einen langen, erschöpfenden Feldzug. Die Familien, deren Mitglieder in der Stadt arbeiteten oder studierten, schüttelten lediglich den Kopf angesichts dieser kriegerischen Gebärden und murmelten, Die sind doch verrückt, doch die anderen, die jeden Morgen einen Vater oder einen Sohn in die außerhalb der Stadt in einem der Industriegebiete gelegene Fabrik schickten und diesen jeden Abend wieder zu Hause erwarteten, diese Familien fragten sich, wie und wovon sie wohl fortan leben sollten, wenn man aus der Stadt nicht mehr hinaus- und auch nicht mehr in sie hineinkam. Vielleicht stellen sie ja den auswärts Arbeitenden Freibriefe aus, meinte ein Alter, der schon so viele Jahre in Rente war, dass er noch den Jargon des Deutsch-Französischen oder ähnlich weit zurückliegender Kriege verwendete. Ganz falsch lag der kluge Alte damit jedoch nicht, denn es zeigte sich, dass die Arbeitgeberverbände der Regierung gleich am folgenden Tag ihre tiefe Besorgnis zum Ausdruck brachten, Obgleich wir die von der Regierung getroffenen drastischen Maßnahmen vorbehaltlos und mit unerschütterlichem Patriotismus unterstützen, sagten sie, und sie als Aufruf zur Rettung der Nation auffassen, damit diesen schädlichen Umtrieben und dieser verkappten Subversion Einhalt geboten wird, erlauben wir uns dennoch, die zuständigen Behörden mit dem allergrößten Respekt um die sofortige Ausstellung von Passierscheinen für unsere Angestellten und Arbeiter zu bitten, da andernfalls, sollte diese Vorkehrung nicht umgehend getroffen werden, schwere und irreversible Schäden für Handel und Industrie und infolgedessen auch die Gesamtwirtschaft des Landes zu befürchten sind. Am Nachmittag desselben Tages erklärte die Regierung in einem gemeinschaftlichen Kommuniqué des Verteidigungs-, Innen- und Wirtschaftsministeriums, dass trotz aller Gewogenheit der Regierung und allen Verständnisses für die berechtigten Sorgen der Arbeitgeberschaft eine Ausstellung der geforderten Passierscheine niemals in dem von den Unternehmen gewünschten Umfang erfolgen könne, da eine solche Freizügigkeit seitens der Regierung unweigerlich die Zuverlässigkeit und Wirksamkeit der militärischen Operationen zur Überwachung der neuen Stadtgrenzen gefährden würde. Dennoch räumte die Regierung zum Zeichen ihrer Offenheit und Bereitschaft, den ärgsten Missständen abzuhelfen, die Möglichkeit ein, diese Papiere zumindest Managern und leitenden Angestellten auszustellen, die als unerlässlich galten für einen geregelten Ablauf in den Firmen, wobei die Betriebe jedoch die alleinige Verantwortung, auch im juristischen Sinne, für die Handlungen dieser privilegierten Personen innerhalb und außerhalb der Stadt übernehmen müssten. In jedem Fall hätten sich diese Personen, sollte der Vorschlag angenommen werden, an den Morgen der Werktage an einem noch zu bestimmenden Ort zu versammeln, um sich von dort unter polizeilichem Geleit in Bussen an die verschiedenen Ausgänge der Stadt transportieren zu lassen, von wo aus sie wiederum in weiteren Bussen zu ihren Fabriken oder Arbeitsstätten gebracht würden, von denen sie am Abend zurückkehren müssten. Sämtliche aus diesen Vorkehrungen erwachsende Kosten, vom Bustransfer bis zur angemessenen Bezahlung der Geleitpolizisten, müssten vollständig von den Unternehmen getragen werden, wenngleich sie mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Steuer abgesetzt werden könnten, was zu gegebener Zeit, nach Erstellung einer Durchführbarkeitsstudie seitens des Finanzministeriums entschieden würde. Man kann sich leicht vorstellen, dass dies nicht die einzigen Beschwerden waren. Eine elementare Erfahrung belegt, dass der Mensch nicht ohne Essen und Trinken auskommt, und bedenkt man nun, dass das Fleisch von draußen kam, der Fisch von draußen kam, dass von draußen auch das Gemüse kam, kurzum, alles von draußen kam, und dass das, was die Stadt selbst produzieren und lagern konnte, das Überleben der Menschen nicht einmal für eine Woche gesichert hätte, so wurden Versorgungssysteme, ähnlich denen, die die Unternehmen mit Managern und leitenden Angestellten beliefern sollten, indes weitaus komplexer aufgrund des verderblichen Charakters bestimmter Produkte, dringend nötig. Und nicht zu vergessen die Krankenhäuser und Apotheken, die Kilometer von Verbänden, die Berge von Verbandwatte, die Tonnen von Pillen, die Hektoliter von Injektionsflüssigkeiten, die Massen von Präservativen. Auch an das Benzin und das Dieselöl muss gedacht werden, wie man es zu den Tankstellen schafft, es sei denn, irgendein Regierungsmitglied ersinnt den machiavellistischen Plan, die Hauptstadtbewohner gleich doppelt zu bestrafen, indem man sie zwingt, zu Fuß zu gehen. Nach wenigen Tagen hatte die Regierung begriffen, dass ein Belagerungszustand kein Pappenstiel ist, vor allem wenn man die Belagerten nicht, wie in früheren Zeiten, auszuhungern gedenkt, er kann nicht einfach von heute auf morgen improvisiert werden, man muss vielmehr ganz genau wissen, was und wie man etwas bezwecken will, muss Folgen abschätzen, Reaktionen erwägen, Nachteile in Betracht ziehen, Gewinne und Verluste kalkulieren, und damit wollen wir es belassen, um den Ministerien nicht noch mehr Arbeit zu machen, die sich über Nacht sowieso schon mit einer unaufhaltsamen Flut von Protesten, Beschwerden und Bitten um Erklärungen konfrontiert sahen, welche in den meisten Fällen nicht angemessen beantwortet werden konnten, da die Instruktionen von höherer Stelle lediglich die allgemeinen Prinzipien des Belagerungszustands darlegten und mit keiner Silbe auf die kleinteiligen bürokratischen Details der Durchführung eingingen, mit denen unweigerlich das Chaos beginnt. Ein interessanter Aspekt dieser Situation, der der satirischen und spöttischen Ader der Spaßvögel der Hauptstadt natürlich nicht entging, war die Tatsache, dass die Regierung, welche de facto und de jure der Belagerer war, gleichzeitig selbst belagert wurde, nicht nur, weil ihre Konferenzräume und Vorzimmer, ihre Büros und Flure, ihre Ämter und Archive, ihre Karteikästen und Stempel sich im Herzen der Stadt befanden und dieses in gewisser Weise organisch bildeten, sondern auch, weil einige ihrer Mitglieder, nämlich mindestens drei Minister, einige Staatssekretäre und Unterstaatssekretäre nebst ein paar Generaldirektoren in den Außenbezirken wohnten, ganz zu schweigen von all den kleinen Angestellten, die morgens und abends erst in die eine und dann in die andere Richtung Zug, U-Bahn oder Bus nehmen mussten, sofern sie nicht über ein eigenes Transportmittel verfügten oder sich nicht dem Gewirr des Stadtverkehrs aussetzen wollten. Die Witze, die man nicht nur hinter vorgehaltener Hand darüber machte, kreisten um das altbekannte Bild des Jägers, der in die eigene Falle tappt, oder um das Sprichwort Wer-anderen-eine-Grube-gräbt-fälltselbst-hinein, doch blieb es nicht bei diesen unschuldigen Kindereien, diesem Kindergartenhumor aus Zeiten der Belle Époque, es gab auch äußerst schillernde Varianten, einige davon ungebührlich obszön und fäkal, gemessen an den Maßstäben des guten Geschmacks. Leider wurde dadurch weder der Belagerungszustand aufgehoben, noch wurden die Versorgungsprobleme gelöst, womit wieder einmal die geringe Reichweite und strukturelle Schwäche von Sarkasmus, Spott, Hohn, Stichelei, Witz und Scherz bei der Verunglimpfung der Regierung bewiesen wäre.
Die Tage vergingen, die Schwierigkeiten nahmen immer weiter zu, verstärkten und multiplizierten sich, sprossen aus dem Boden wie Morcheln nach dem Regen, doch die Moral der Bevölkerung war ungebrochen, niemand schien geneigt, klein beizugeben oder das aufzugeben, was er als gebührend empfunden und mit seiner Stimme zum Ausdruck gebracht hatte, nämlich das simple Recht, sich keiner festgelegten Meinung anzuschließen. Einige Beobachter, in der Regel Korrespondenten ausländischer Medien, die eilends entsandt worden waren, um die Ereignisse zu covern, wie es im Fachjargon heißt, und daher mit den lokalen Eigenheiten nicht vertraut waren, berichteten mit Verwunderung vom vollständigen Ausbleiben von Konflikten unter den Menschen, obgleich es nachweislich zu Eingriffen von Provokateuren gekommen war, mit denen man versucht hatte, Instabilität herbeizuführen, um vor den Augen der so genannten internationalen Gemeinschaft den noch fehlenden Schritt rechtfertigen zu können, nämlich, vom Belagerungszustand zum Kriegszustand überzugehen. Einer der Kommentatoren wollte besonders originell sein und deutete diese Tatsache als einzigartigen, historisch nie da gewesenen Fall ideologischer Übereinstimmung, der die Hauptstadtbevölkerung, sollte dies tatsächlich zutreffen, zu einer höchst interessanten, untersuchenswerten politischen Abnormität machte. Der Gedanke war bei Licht besehen völlig unsinnig und hatte nichts mit der Realität zu tun, denn sowohl hier als auch überall sonst auf dem Planeten sind die Menschen verschieden, sie denken unterschiedlich, sind nicht alle arm und auch nicht alle reich, und bei denen dazwischen sind die einen ärmer und die anderen weniger arm. Den einzigen Punkt, in dem diese Menschen, ohne dass es einer vorherigen Absprache bedurft hätte, übereinstimmten, kennen wir bereits, und deshalb lohnt es sich auch nicht, länger darauf herumzureiten. Trotzdem ist es nur verständlich, dass man herauszufinden suchte, und diese Frage stellten sich ausländische wie einheimische Journalisten immer wieder, aus welch einzigartigen Gründen es noch nicht zu Zwischenfällen, Auseinandersetzungen, Tumulten, Schlägereien oder Schlimmerem zwischen Weißwählern und anderen Wählern gekommen war. Die Frage zeigt jedoch mit aller Deutlichkeit, wie wichtig ein paar grundlegende Mathematikkenntnisse für die Berufspraxis des Journalisten sind, schließlich brauchten sie sich nur zu vergegenwärtigen, dass die Menschen, die weiß gewählt hatten, dreiundachtzig Prozent der Hauptstadtbevölkerung ausmachten und die übrigen, alle zusammen genommen, lediglich siebzehn, wobei man auch nicht die umstrittene These der Partei der Linken vergessen durfte, dass nämlich die weißen Stimmen und die für ihre Partei metaphorisch gesprochen aus einem Holz geschnitzt seien, dass die Wähler der PDL, und diese Schlussfolgerung stammt nun wieder von uns, nur deshalb nicht alle weiß gewählt hätten, obgleich viele dies bei der wiederholten Wahl nachweislich getan hatten, weil sie nicht eigens dazu aufgefordert worden seien. Niemand würde uns glauben, wenn wir behaupteten, die siebzehn wollten gegen die dreiundachtzig antreten, denn die Zeiten, da Schlachten noch mit Gottes Hilfe gewonnen wurden, sind vorbei. Verständlich ist auch die Neugier bezüglich der fünfhundert Menschen, die von den Spionen des Innenministeriums in den Wählerschlangen gefasst worden waren, jenen Menschen, die anschließend quälende Verhöre über sich ergehen lassen und das Leid erfahren mussten, ihre intimsten Geheimnisse vom Lügendetektor offen gelegt zu sehen, und ebenso nachvollziehbar ist die Neugier bezüglich der Spezialagenten der Geheimdienste und ihrer untergebenen Helfer. Über Erstere gibt es nur Spekulationen und keinerlei Möglichkeit, diese zu bestätigen. Die einen meinten, die fünfhundert Häftlinge kooperierten, wie es mit dem bereits bekannten polizeilichen Euphemismus hieß, noch immer mit den Behörden, um den Fall aufzuklären, andere wiederum behaupteten, sie würden gerade in die Freiheit entlassen, peu à peu, damit es nicht so auffiele, und die Skeptiker wiederum glaubten eher an die Version, dass man sie allesamt aus der Stadt geschafft und an einen unbekannten Ort gebracht hatte, wo die Verhöre weitergingen, auch wenn sie bisher zu keinem Ergebnis geführt hätten. Wer weiß, wer hier Recht hat. Über die Geheimdienstagenten hingegen haben wir absolute Gewissheit. Wie andere brave, rechtschaffene Arbeiter verlassen sie morgens ihre Häuser, streifen auf der Suche nach Indizien kreuz und quer durch die Stadt, und wenn sie meinen, den Fisch im Netz zu haben, probieren sie eine neue Taktik aus, die darin besteht, ihr Gegenüber ohne Umschweife und völlig unvermittelt zu fragen, Reden wir mal ganz offen, wie unter Freunden, ich habe weiß gewählt, und Sie. Anfangs begnügten sich die Befragten damit, die bereits bekannten Antworten zu geben, dass niemand gezwungen werden könne preiszugeben, was er gewählt habe, und dass niemand von irgendeiner Behörde dazu befragt werden dürfe, und kam einer dieser Menschen einmal auf die glorreiche Idee, den unverschämten Neugierigen zu bitten, sich auszuweisen, an Ort und Stelle zu erklären, im Namen welcher Macht und Autorität er diese Frage gestellt habe, konnte man das erquickliche Schauspiel erleben, dass ein Geheimdienstagent die Beine in die Hand nahm und mit eingezogenem Schwanz das Weite suchte, denn verständlicherweise traut er sich nicht, seine Brieftasche und seinen Ausweis mit Foto, Siegel und dem Bändchen in den Farben der Nationalflagge hervorzuholen, der ihn als solchen zu erkennen gibt. Doch das war, wie gesagt, am Anfang. Irgendwann hieß es nämlich, die beste Reaktion in solchen Situationen sei, dem Fragensteller gar nicht erst zu antworten, sondern ihm einfach die kalte Schulter zu zeigen oder, sollte er besonders aufdringlich sein, laut und deutlich auszurufen, Lassen Sie mich in Ruhe, wenn man ihn nicht lieber gleich, noch einfacher und wirkungsvoller, zum Teufel jagte. Natürlich blieben solche Missgeschicke und Rückschläge in den Berichten an die Vorgesetzten unerwähnt, wurden vertuscht, und alles wurde nur auf das hartnäckige, systematische Fehlen jeglicher Kooperationsbereitschaft seitens der verdächtigen Bevölkerung zurückgeführt. Man könnte meinen, all diese Geschehnisse hätten irgendwann zu einer Situation führen müssen, die einem Kampf zwischen zwei ebenbürtigen Gegnern gleichkommt, in dem der eine hier zieht und der andere da, und so wie keiner einen Fingerbreit zurückweicht, kommt auch keiner voran, weshalb nur die endgültige Erschöpfung des einen dem anderen zum Sieg verhelfen kann. Nach Meinung des obersten Verantwortlichen des Geheimdienstes könnte diese Pattsituation mühelos aufgehoben werden, indem ein Kämpfer Unterstützung von einem anderen Kämpfer erhält, was in dieser konkreten Situation dadurch zu erreichen wäre, dass man die bisher ergriffenen beschwichtigenden Maßnahmen aussetzt, da sie sich als untauglich erwiesen haben, und vorbehaltlos zu den abschreckenden Maßnahmen übergeht, welche die Anwendung brutaler Gewalt nicht ausschließen. Wenn die Hauptstadt sich aufgrund ihres wiederholten Fehlverhaltens unter Belagerung befand, wenn es den Streitkräften oblag, Disziplin zu erzwingen und im Falle schwer wiegender Verstöße gegen die Gesellschaftsordnung hart durchzugreifen, wenn die Oberkommandos sich mit ihrem Ehrenwort verpflichtet hatten, im Ernstfall nicht zu zögern, dann war es Aufgabe der Geheimdienste, entsprechende Brandherde zu entfachen, die a priori die Härte einer Repression rechtfertigten, welche die Regierung bisher so großzügig mit friedlichen, beschwichtigenden Maßnahmen, das Wort sei hier wiederholt, zu vermeiden gesucht hatte. Und die Aufständischen könnten hinterher nicht mit Klagen kommen, hatten sie es doch so gewollt und nun so bekommen. Als der Innenminister mit diesem Vorschlag in das inzwischen gebildete kleine oder auch Krisenkabinett kam, erinnerte ihn der Premierminister daran, dass er noch eine Waffe in der Hinterhand habe, um den Konflikt zu lösen, und dass er den neuen Plan oder auch andere bis dahin vorliegende nur in dem unwahrscheinlichen Fall ihrer Unwirksamkeit in Betracht ziehen werde. Während der Innenminister sein Missfallen lakonisch, in nur vier Worten bekundete, Damit verlieren wir Zeit, benötigte der Verteidigungsminister mehr Worte, um zu beteuern, dass die Streitkräfte ihre Pflicht zu erfüllen wüssten, So, wie sie es im Laufe unserer Geschichte ohne Rücksicht auf Verluste stets getan haben. Also wurde die heikle Frage vertagt, die Frucht schien noch nicht reif zu sein. Da riskierte der Gegner, des Wartens müde, einen Vorstoß. An einem der folgenden Morgen gingen die Hauptstadtbewohner zuhauf auf die Straße, mit rot-schwarzen Aufklebern auf der Brust, worauf geschrieben stand, Ich habe weiß gewählt, aus den Fenstern hingen große Plakate, die schwarz auf rot erklärten, Wir haben weiß gewählt, doch das Beeindruckendste war ein endloser, über den Köpfen der Demonstranten wogender und mit ihnen fortschreitender Teppich aus weißen Fahnen, der einen verwirrten Korrespondenten ans Telefon eilen und seiner Zeitung mitteilen ließ, die Stadt habe sich ergeben. Die Stimmen aus den Polizeilautsprechern überschlugen sich, Menschenansammlungen von über fünf Personen seien verboten, brüllten sie, doch die Menschen waren zu fünfzig, zu fünfhundert, fünftausend, fünfzigtausend, wer stellt sich in einer solchen Situation schon hin und zählt fünf und fünf ab. Die Polizeiführung wollte wissen, ob sie Tränengas und Wasserwerfer einsetzen sollte, der General der nördlichen Division, ob er Panzer losschicken dürfe, der General der luftgestützten südlichen Division, ob die Bedingungen für einen Fallschirmjägereinsatz gegeben seien oder ob man davon absehen sollte, weil das Risiko zu groß sei, dass die Springer auf die Dächer stürzten. Der Krieg stand also kurz bevor.
Da endlich enthüllte der Premierminister vor der im Plenarsaal unter Vorsitz des Staatschefs versammelten Regierung seinen Plan, Es ist an der Zeit, dem Widerstand das Rückgrat zu brechen, sagte er, Schluss mit dem psychologischen Feldzug, den Spionagemanövern, Lügendetektoren und anderen technischen Gerätschaften, haben sie doch trotz der verdienstvollen Bemühungen des Herrn Innenministers nichts zur Lösung unseres Problems beigetragen, und ich will an dieser Stelle auch gleich hinzufügen, dass ich angesichts des zu erwartenden Blutbads, das es unter allen Umständen zu vermeiden gilt, eine direkte Intervention der Streitkräfte für unangebracht halte, was ich Ihnen im Gegenzug vorschlagen möchte, ist nichts Geringeres als ein Rückzug auf verschiedenen Ebenen, eine Reihe von Aktionen, die einigen von Ihnen vielleicht absurd vorkommen mögen, die uns jedoch nach meinem Dafürhalten mit Sicherheit den endgültigen Sieg und die Rückkehr zu demokratischer Normalität bringen werden, und diese Aktionen sind, nach Wichtigkeit geordnet, der sofortige Rückzug der Regierung in eine andere Stadt, welche neue Landeshauptstadt werden wird, der Rückzug sämtlicher noch hier befindlicher Streitkräfte und Polizeieinheiten, durch dieses radikale Vorgehen bleibt die aufständische Stadt sich selbst überlassen, hat alle Zeit der Welt zu begreifen, was es heißt, von der heiligen nationalen Einheit abgetrennt zu sein, und wenn sie die Isolation, die Entwürdigung und Verachtung nicht mehr aushält, wenn das Leben dort drin sich in Chaos verwandelt hat, werden die reumütigen Städter gesenkten Hauptes zu uns kommen und um Vergebung bitten. Der Premierminister blickte in die Runde, Das ist mein Plan, sagte er, ich stelle ihn hiermit zur Prüfung und Diskussion, brauche aber wohl nicht eigens hinzuzufügen, dass ich mit seiner einstimmigen Annahme rechne, extreme Übel erfordern extreme Mittel, und mag das Mittel, das ich Ihnen vorschlage, auch schmerzlich sein, so ist das Übel, das uns befallen hat, tödlich.