Читать книгу Ort des Bösen - J.P. Conrad - Страница 10
Mittwoch, 24. September 2014 13:12 Uhr
ОглавлениеBonnie war müde. Sie hatte zwar nur am Vormittag arbeiten müssen, aber die drei Kundinnen, die sie zu bedienen hatte, waren sehr anstrengend gewesen. Eine hatte fast eine halbe Stunde mitten im Laden gestanden und auf den Musterfächer gestarrt, bis sie sich schließlich nach viel Fragerei und zwei Gratis-Tassen Kaffee für eine Nagelfarbe entschieden hatte. Eine andere hatte während der Maniküre ohne Punkt und Komma über alles geredet, was ihr in den Sinn gekommen war: Ihre Enkel, den Hund der Nachbarn, die Katze ihres Vermieters, das Wetter, den Volksentscheid zu Abspaltung Schottlands und sogar über ihren Goldfisch, der bereits vor über zwanzig Jahren gestorben war. Bonnie hatte geglaubt, dass jeden Augenblick ihre Ohren zu bluten anfangen würden, während sie der Frau French Nails verpasste.
Die letzte Kundin, die sie an diesem Vormittag bedient hatte, hatte wenig gesprochen, dafür war Bonnie beinahe an dem schweren Parfum erstickt, das die Dame alles andere als dezent aufgelegt hatte.
Als es endlich 13 Uhr war, atmete Bonnie erleichtert auf. Sie hatte den Nachmittag frei und freute sich darauf, nach Hause zu kommen, um zu relaxen. Für den Abend hatte sie sich mit Freunden aus Wick in der dortigen Disco verabredet.
Sie packte ihre Sachen, verabschiedete sich bei ihrer Chefin und verließ das Studio. Dann ging sie zum Schnellimbiss und holte sich eine große Portion Fish und Chips mit viel Essig, die sie auf dem großen Parkplatz am Hafen, an ihren Nissan Micra gelehnt, verdrückte. Anschließend machte sie sich auf den Heimweg.
Nach ereignislosen fünfundvierzig Minuten Fahrt, während der sie den MP3s ihrer Lieblingsband One Direction gelauscht hatte, kam sie Zuhause an. Die Stellfläche neben dem Haus, das zwei Autos Platz bot, war leer. Ihre Mutter war bereits seit über einer Stunde weg, wie Bonnie die Uhr am Armaturenbrett verriet. Sie arbeitete als Stationsschwester im Krankenhaus von Wick, gerade einmal ein paar Minuten zu Fuß von ihrem Nagelstudio. Ironischerweise sahen sie sich aber, seit Bonnie einer regelmäßigen Arbeit im Studio nachging, wesentlich seltener als früher. Meist lagen die Schichten ihrer Mutter und ihre eigene Arbeitszeit so, dass sie sich unter der Woche knapp verpassten. Doch das störte Bonnie nicht; denn es kaschierte für sie die Tatsache, dass sie mit neunzehn Jahren immer noch in ihrem Elternhaus wohnte. Obwohl ›Elternhaus‹ ja schon lange nicht mehr richtig war. Seit der Scheidung ihrer Eltern vor drei Jahren, war es eigentlich nur noch ein Mutter-mit-Tochter-Haus. Aber gab es so was überhaupt? Bonnie jedenfalls war ganz froh darüber, dass sie ein wenig Freiheit genießen konnte und Halbsätze wie ›So lange du deine Füße unter meinen Tisch steckst‹ eher Seltenheitswert hatten.
Sie schloss ihren babyblauen Nissan, ein großzügiges Geschenk ihres Vaters zum achtzehnten, ab und ging zur Haustür. Sie warf einen kurzen Blick in den Briefkasten, aber er war leer. Dann schloss sie auf und ging hinein.
Ihre Mutter und sie wohnten in einem unauffälligen, nicht sonderlich attraktiven Haus mit weiß verputzten Wänden und einen grauen Dach. Es war im Ort das einzige, das in den letzten sechzig Jahren neu gebaut worden war; ihre Eltern hatten es 1997 an der Stelle errichtet, wo früher das Elternhaus von Bonnies Vater gestanden hatte. Dieses war, als es darum ging, zusammenzuziehen, viel zu klein und auch so baufällig gewesen, dass ein Abriss und Neubau die beiden günstiger gekommen war, als eine Sanierung. Natürlich hatten die Nachbarn, allesamt alteingesessen, ihre Nasen über den schmucklosen und viel zu modernen Neubau gerümpft, ebenso wie über ›die Neue‹ im Ort, Bonnies Mutter Lily. Aber das war ihren Eltern egal gewesen und irgendwann, sie hatten nur genug Geduld aufbringen müssen, war dann doch eine Art stille Akzeptanz eingekehrt.
Als sich ihre Eltern dann hatten scheiden lassen, war für Bonnie die Frage im Raum gestanden, bei welchem Elternteil sie leben wollte. Sie war immerhin schon fast sechzehn und ihre Eltern hatten ihr zugetraut, diese, zumindest für die nächsten paar Jahre einschneidende Frage, selbst zu beantworten. Ihr Vater Stuard hatte ihrer Mutter großzügiger Weise das Haus überlassen und war in ein Apartment nach Wick gezogen. Und auch wenn Bonnie es reizvoll gefunden hätte, mit ihrem Vater zu wohnen, noch dazu in einer im Vergleich zu Gleann Brònach richtigen Stadt, hatte sie sich dagegen entschieden. Der einzige Grund dafür war allerdings, dass sie ihrer Mutter nicht das Herz brechen wollte, denn Gleann Brònach selbst übte auf sie keinerlei positiven Reiz aus. Es war nicht mehr als eine kleine, weit ab von jedem Spaß gelegene Siedlung, bewohnt von verschrobenen Menschen, die zum Lachen in den Keller gingen.
Zum Glück hatte sie ja ihr kleines Auto und war unabhängig. Sie konnte jederzeit nach Wick fahren, ob nun zum Arbeiten, um ihrem Vater zu besuchen oder mit ihrer Clique in den einzigen Club der Stadt, das ›Ghost‹ zu gehen.
Wenn Bonnie Zuhause war, verbrachte sie ihre Zeit meist mit Fernsehen oder schlafen. Und beides würde sie jetzt, ungeachtet der Tatsache, dass es erst Nachmittag war, ausgiebig tun. Sie warf ihre Tasche vor die Garderobe, schlüpfte aus ihren Sneakers und ließ ihre Steppjacke auf den Boden fallen. Sie ging in die Küche und dort direkt zum Kühlschrank. Sie holte die angefangene Flasche Orangensaft heraus und trank sie beinahe in einem Zug leer. Während sie den letzten Schluck ihre Kehle herunterlaufen ließ, fiel ihr Blick auf die Fensterfront, die in den rückwärtigen, seit dem Auszug ihres Vaters recht vernachlässigten, Garten zeigte. Sie erschrak.
Auf einem der verwitterten, weißen Plastikstühle, die eigentlich mit einer Plane abgedeckt sein sollten, saß jemand und starrte sie direkt an.
Unwillkürlich überkam Bonnie Verärgerung. Wie konnte es diese Person wagen, einfach so ihren Grund und Boden zu betreten? Bonnie stellte ihr Glas ab, ging zum Fenster und öffnete es.
»He du!«, rief sie hinüber. »Was suchst du da? Verschwinde gefälligst von unserem Grundstück!«
Doch der Eindringling blieb unbeeindruckt; im Gegenteil. Er erhob sich von seinem Platz und kam mit stoischer Ruhe auf sie zu. Was die Person dann tat, ließ Bonnie entsetzt zurück taumeln.
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Das Schicksal hat sehr viele, allesamt unberechenbare Facetten. Es konnte sich langsam ankündigen; so wie bei der Scheidung ihrer Eltern, der fast anderthalb Jahre stetiger Streitereien, Vorwürfe und verbaler Tiefschläge vorausgegangen waren. Aber ebenso konnte es sich innerhalb eines Wimpernschlags erfüllen; so wie jetzt gerade.
Bonnie hatte keine Ahnung, warum sie plötzlich philosophische Gedanken hatte; das war eigentlich gar nicht ihre Art. Aber bis vor zwei Minuten war ihre Welt auch noch in Ordnung gewesen. Sie hatte Orangensaft getrunken und sich überlegt, ob sie Fernsehen oder eine DVD schauen sollte. Doch jetzt saß sie zusammengesunken und zitternd auf einem der Küchenstühle und hielt einen Schokoriegel in ihrer Hand. Tränen und ihr eigener Handrücken hatten ihr Make-up, auf das sie immer großen Wert legte, verwischt. Und trotz der eigentlich angenehmen Temperatur, die in der Küche herrschte, war ihr eiskalt. Sie hatte Angst; Todesangst. Wie würde das Schicksal entscheiden? Es lag bei ihr, das wusste sie, denn sie hatte die Wahl: Entschied sie sich für die erste Option, die ihr genannt worden war, war die Konsequenz daraus klar und unumkehrbar. Lediglich Option zwei bot ihr eine klitzekleine Chance, aus dem unvermittelt über sie hereingebrochenen Albtraum wieder zu erwachen.
Fordernde Augen blickten sie an. Sie wurde verbal und mit Gesten bedrängt. Bonnie musste sich jetzt entscheiden, sonst würde ihr Gegenüber es für sie tun. Also traf sie ihre Entscheidung. Sie wählte die zweite Option. Mit zitternden Fingern riss sie die Verpackung des Schokoladenriegels auf und drücke ihn ein Stück heraus. Sie führte ihn langsam an den Mund, roch den süßlichen Duft, der von ihm ausging. Sie schloss die Augen. Sie biss ab.