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Montag, 08. Oktober 1999 17:48 Uhr

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Evie und ihre beste Freundin Lynn räumten das Spielbrett und die bunten Steine sorgsam wieder in die Schachtel.

»Wollen wir noch die Barbies neu frisieren?«, fragte Evie, während sie den flachen Karton, auf Zehenspitzen stehend, wieder an ihren Platz im Regal schob.

»Nein, es ist gleich sechs«, stellte Lynn mit einem Blick auf ihre rosafarbene Armbanduhr fest und stand vom Teppich auf. »Ich muss nach Hause. Wenn ich zu spät komme, gibt’s Ärger.«

Evie murrte enttäuscht. »Na, dann. Aber morgen nach der Schule machen wir wieder zusammen Hausaufgaben, oder?«

Ihre Freundin lächelte. »Klar. Bei dir oder bei mir?«

Evie zuckte mit den Schultern. »Ist mir egal.«

»Okay, dann bei mir. Immer abwechselnd, das ist fair!«

»Das ist fair«, wiederholte Evie und öffnete die Zimmertür. Der Geruch des Abendessens, der von der Küche über den Flur kroch, stieg ihr in die Nase. Sie gingen zur Garderobe, wo Lynn sich ihre Sandalen und die Strickjacke überzog.

Der Kopf von Evies Mutter erschien in der Küchentür.

»Mach’s gut, Lynn!«, sagte sie freundlich und winkte dem Mädchen zu.

»Auf Wiedersehen, Mrs Marshall. Und danke für die Cookies, die waren echt lecker.«

»Mums Cookies sind die Besten!«, sagte Evie mit erhobenem Zeigefinger, woraufhin Lynn den Kopf schüttelte.

»Meine Mum macht mindestens genauso gute!«

Ihre beste Freundin zuckte mit den Schultern und öffnete Lynn die Wohnungstür.

»Bis morgen dann. Denk dran, wir haben die ersten zwei Stunden Sport!«

»Ja, ich weiß. Bis morgen!«

Evie schloss die Tür und hüpfte zur Küche. »Wann gibt’s Essen?«, fragte sie ihre Mutter, die inzwischen wieder am Herd stand und in einer dampfenden Pfanne rührte.

»Wenn dein Vater kommt. Also um sieben«. Sie sah über ihre Schulter. »Habt ihr Spaß gehabt heute?«

Evie nickte eifrig. »Ja, wir haben ein paar Sachen aus der Spielesammlung gespielt. Ich hab fast bei allem gewonnen. Nur im Pferderennen war Lynn besser.«

»Ich freue mich, dass ihr zwei euch so gut versteht. Und dass Lynn direkt im Nebenhaus wohnt, ist doch praktisch, oder?«

Evie nickte und rollte die Spitze der blauen Decke, die auf dem Esstisch lag, mit dem Finger auf.

»Das ist toll. Und in der Schule sitzen wir nebeneinander.«

»Ich hatte schon Angst, dass dir der Sprung vom Kindergarten in die Grundschule Probleme machen würde. Aber du gehst doch gerne hin, wie’s aussieht«, stellte ihre Mutter fest und probierte etwas Soße vom Kochlöffel.

»Naja, Schule geht so. Sport ist cool und Mathe. Aber sonst…«

»Naja, es kann ja nicht alles immer gleich super sein«, relativierte ihre Mutter.

»Ich geh dann noch lesen, bis es Essen gibt, okay?«

»Okay.«

Evie ging zurück in ihr Kinderzimmer und schloss die Tür. Sie schnappte sich das Buch über den kleinen Vampir, das sie gerade erst zu lesen begonnen hatte und warf sich auf ihr Bett. Nachdem sie in der Schule lesen gelernt hatte, war es eines der ersten Bücher überhaupt, das sie las, das fast ausschließlich aus Text und nur wenigen Bildern bestand. Es war spannend; das Lesen können an sich und natürlich die Geschichte über den kleinen Vampir, der sich mit einem Menschenjungen anfreundet.

Evie lag auf dem Rücken, den Kopf auf ihr Kissen gestützt, und las ein paar Seiten. Dann lies sie das Buch sinken und schaute aus dem Fenster. Es war bereits dunkel. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn tatsächlich plötzlich ein Vampir draußen auf dem Fenstersims säße. Ob sie Angst hätte? Nein, sicher nicht, wenn es so ein netter und witziger Vampir wäre, wie in dem Buch.

Ein Klopfen holte sie aus ihrem Tagtraum.

»Ja?« Sie schaute zur Tür. Diese ging einen Spalt auf. Ihr Vater lugte hindurch und grinste.

»Na, meine Hübsche?«

Evie lachte freudig, klappte das Buch zu, sprang vom Bett und fiel ihrem Dad in die Arme.

Sie liebte ihren Vater Andrew über alles. Er war gütig, führsorglich und immer gut aufgelegt. Sie spielten zusammen, gingen in die Stadt oder ins Schwimmbad oder schauten zusammen Evies Videos mit den Zeichentrickfilmen und machten lustige Kommentare dazu. In letzter Zeit allerdings, seit sie in die Schule ging und dort Lynn kennen gelernt hatte, verbrachte sie nicht mehr so viel Zeit mit ihm, wie früher. Evie empfand den Umgang mit einem Mädchen, das in ihrem Alter war, inzwischen als normaler. Und da ihr Dad keine Anzeichen von Enttäuschung oder Vernachlässigung zeigte, glaubte sie, dass ihm das auch nichts ausmachte.

Evies Verhältnis zu ihrer Mutter war da etwas schwieriger. Nicht, dass sie sie nicht ebenso sehr liebte. Aber ihre Mutter hatte Probleme, wie ihr Vater ihr einmal erklärt hatte; Probleme im Kopf. Er hatte auch ein Fremdwort gebraucht, das Evie nicht gekannt hatte: Depressionen. Was immer das war, es tat ihrer Mutter nicht gut, das wusste Evie und das merkte sie ihr auch an. Es hatte vor knapp zwei Jahren begonnen, eigentlich aus heiterem Himmel. Seit dieser Zeit wurde sie immer schnell müde, verlor leicht die Geduld und zog sich dann ins elterliche Schlafzimmer zurück. Manchmal, wenn ihr Vater nicht da war, hatte Evie an der Tür gelauscht und ihre Mutter weinen gehört. Bis ihr Dad sie über die Probleme ihrer Mutter aufgeklärt hatte, war sie noch in dem Glauben gewesen, dass sie selbst vielleicht etwas falsch gemacht hatte. Aber dem war nicht so gewesen. Mum war krank. Wie, wenn man Masern bekam; nur eben komplizierter. Und man brauchte, um gesund zu werden, viel mehr Medizin. In dem kleinen Arzneischrank im Badezimmer standen viele Döschen mit kleinen, bunten Pillen. Mum nahm mehrere davon; morgens, mittags und abends.

»Wie war dein Tag?«, fragte Evies Vater, als er auf das Mädchen herab schaute, das ihre Arme um seine Hüfte geschlungen hatte. Er wuschelte ihr durch die langen dunkelbraunen Haare.

»Lustig. In der Schule haben wir ein Buchstabenquiz gemacht. Und Lynn und ich haben jeder drei Wörter erraten.«

»Toll. Du bist eine richtig große Abc-Schützin!«, lobte ihr Vater. »Du verstehst dich gut mit Lynn, oder?«

»Ja, sie ist total lustig und macht immerzu Quatsch.«

»Lass dich aber nicht zu sehr davon anstecken, okay? Habt ihr zusammen Hausaufgaben gemacht?«

Sie nickte. »Ja. Und Mum hat kontrolliert.«

Evies Vater machte ein zufriedenes Gesicht.

»Morgen gehe ich zu Lynn nach Hause und wir machen da die Hausaufgaben. Mrs Glendale hat versprochen, dass sie sich auch alles anschaut.«

»Klingt doch super.« Die Zufriedenheit im Gesicht ihres Vaters wich plötzlich einer ernsten Miene. Er machte noch einen Schritt ins Kinderzimmer und schloss die Tür. Dann hob er Evie auf seine Arme.

»Hör zu, bleibst du bitte noch einen Moment hier? Ich muss mit deiner Mum etwas Wichtiges besprechen.«

Evie sah ihn fragend an, sagte dann aber »Okay.«

Er setzte sie ab, tätschelte ihr den Kopf und verließ das Zimmer.

Sofort presste Evie ihr Ohr gegen die Tür. Diese Geheimniskrämerei, das konnte doch sicher nur mit ihrem Geburtstag im nächsten Monat zusammen hängen. Gebannt lauschte sie den Stimmen ihrer Eltern.

»Lois, wir müssen was besprechen«, sagte ihr Vater.

»Können wir das nach dem Essen machen, hm?«, fragte ihre Mutter, wenig begeistert.

»Nein, das kann nicht warten. Ich muss das jetzt loswerden.«

Evie gelangte zu der Erkenntnis, dass es wohl doch nicht um ihr Geburtstagsgeschenk ging.

»Ist was passiert?«, fragte ihre Mutter.

»Setz dich!«

»Aber ich muss den Tisch…«

»Setzt dich, bitte

Ein Stuhl wurde gerückt.

»Also, was ist es? Warum schaust du so ernst?«, fragte Evies Mutter.

»Mir ist heute gekündigt worden«, sagte ihr Vater gerade heraus.

Evie hielt sich die Hand vor den Mund.

» Oh, nein. Dad hat keine Arbeit mehr

Ihr Dad arbeitete in einem Verlag; er machte dort irgendwas mit Geld. Buchhalter hieß wohl der Job. Weiterhin lauschte sie dem Gespräch ihrer Eltern. Ihr Vater sagte etwas von Stellenabbau. Und dann hörte sie ein Schluchzen; es kam von ihrer Mutter.

»Bitte, reg dich nicht auf, Lois«, bat Evies Dad ruhig.

»Reg dich nicht auf? Natürlich rege ich mich auf! Wie sollen wir denn jetzt überleben? Wie sollen wir die Miete bezahlen? Du weißt, dass ich nicht arbeiten gehen kann!«

Evies Mutter hatte bis vor zwei Jahren, bis sie krank wurde, halbtags als Verkäuferin in einem Juweliergeschäft gearbeitet. Aber dann wurde sie so traurig und musste Tabletten nehmen. Seitdem war sie eigentlich immer Zuhause; bis auf die zwei Vormittage in der Woche, an denen sie zu einem Doktor ging, mit dem sie über ihre Krankheit sprach.

»Wir werden schon eine Lösung finden«, versuchte Evies Vater ihre Mutter zu beruhigen. »Ich werde die Stellenanzeigen wälzen, mich umhören und zum Jobcenter gehen.«

»Das ist doch alles sinnlos«, wimmerte die Mutter. »Wir werden auf der Straße sitzen! Mit einem siebenjährigen Kind!«

»Hör auf, so was zu sagen!«, entgegnete der Vater energisch. Er klang jetzt böse. »Natürlich werden wir nicht auf der Straße sitzen. Bis ich was gefunden habe, müssen wir uns eben einschränken. Ich werde mich sicherheitshalber auf dem Sozialamt erkundigen.«

Sozialamt. Evie wusste nicht, was das war, aber als ihr Vater das Wort sagte, begann ihre Mutter noch heftiger zu weinen. Evie war versucht, in die Küche zu gehen, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Aber sie blieb in ihrem Zimmer, so, wie ihr Vater es ihr gesagt hatte.

Ihre Eltern diskutierten noch eine Weile; dann irgendwann hatte sich ihre Mutter wieder gefangen.

»Abendessen ist fertig!«, rief sie über den Flur und Evie ging, mit leichtem Herzklopfen, in die Küche. Sie sah sofort, dass ihre Mutter rote und verquollene Augen hatte. Aber sie hielt es für klüger, kein Wort über das Gespräch, das sie belauscht hatte, zu verlieren.

Während des Essens schwiegen sich ihre Eltern an. Ihr Vater versuchte dies zu überspielen und Evie mit allerlei Fragen zur Schule abzulenken. Doch sie wusste, dass Mum und Dad ernste Probleme hatten.

In der Nacht wurde Evie wach. Ein lautes Geräusch hatte sie geweckt. Mit verschwommenem Blick schaute sie auf die Leuchtziffern ihres Weckers: Es war kurz nach eins. Dann bemerkte sie, dass es eine Sirene gewesen war, die sie geweckt hatte. Sie klang sehr nah und schien auch noch lauter zu werden. Evie sprang aus dem Bett und lief neugierig zum Fenster. Sie zog den schweren Vorhang zurück und schaute, sich die müden Augen reibend, hinaus.

In diesem Moment hielt unten, direkt vor dem Hauseingang, ein Krankenwagen mit blitzendem Blaulicht auf dem Dach. Zwei Männer stürmten unvermittelt mit großen Metallkoffern und einer Bare heraus und liefen ins Haus.

Was da wohl passiert war?

»Sicher ist was mit Mrs Markway«, dachte Evie noch bei sich. Die alte Frau im Stockwerk unter ihnen war schon sehr gebrechlich und vor ein paar Monaten bereits einmal vom Notarzt abgeholt worden.

Evie zog den Vorhang wieder zu und wollte gerade zurück in ihr warmes Bett schlüpfen, als sie plötzlich Stimmen hörte. Sie kamen aus dem Flur.

»Hier lang!«, hörte sie ihren Vater sagen. Er klang angespannt. Schnelle Schritte huschten im nächsten Moment an ihrer Zimmertür vorbei, sie liefen in Richtung des Schlafzimmers ihrer Eltern.

Jetzt begriff Evie.

» Mum! Mum muss etwas zugestoßen sein

Mit reichlich Herzklopfen riss das Mädchen die Tür auf und lief barfuß zum Ende des Flurs. Dort blieb sie abrupt stehen.

Evies Vater stand auf der anderen Seite des Raums, in der Tür zum elterlichen Badezimmer, und hielt sich eine Hand vor den Mund. Er weinte. Evie hatte Dad noch nie weinen gesehen. Er schüttelte immer wieder den Kopf und die Tränen flossen ihm über die Hand. Seine Finger waren rot.

Die beiden Männer aus dem Krankenwagen schienen im Bad zu sein; Evie sah ihre Schatten an der angelehnten Tür.

Als ihr Dad sich umdrehte, entdeckte er Evie. Er stürzte sofort auf sie zu.

»Schatz, bitte komm! Geh in dein Zimmer, schnell!«

Er schob sie sanft, aber bestimmt in den Flur. Doch Evie wollte nicht in ihr Zimmer zurück. Sie wollte wissen, was passiert war. Sie hatte große Angst um ihre Mutter.

»Was ist mit Mum?«, fragte sie panisch. »Was ist mit ihr?«

Ihr Vater versuchte, ihren Arm zu packen, doch sie schlüpfte unter ihm hindurch.

»Evie! Nein!«, schrie er völlig aufgelöst.

Sie lief um das Bett herum zum Badezimmer. In diesem Moment kam einer der beiden Sanitäter heraus und sie stieß mit ihm zusammen. Der Mann im grünen Anzug versuchte, sie an der Schulter festzuhalten, erwischte aber nur den Stoff ihres Winnie Puh Schlafanzugs.

»Hey, Kleine. Du kannst da nicht rein!«

Aber Evie musste zu ihrer Mutter; sie musste wissen, ob es ihr gut ging. Inzwischen hatte sie die schlimmsten Befürchtungen.

»Mum? Mum?«, rief sie.

Warum hörte ihre sie Mutter nicht? Barsch schlug Evie die Hand des Mannes weg und drängte sich an ihm vorbei ins Bad. Dort war es sehr warm; Wasserdampf lag in der Luft. Der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen.

Der andere Mann in seiner grünen Uniform kniete auf dem Boden vor dem geöffneten Medizinkoffer und starrte Evie mit großen Augen an.

Was das Mädchen dann sah, entsetzte sie so sehr, dass sie laut zu schreien anfing und nicht mehr aufhörte: Ihre Mutter lag mit geschlossenen Augen nackt in der Badewanne. Diese war zur Hälfte gefüllt mit rotem Wasser, das langsam ablief.

Ort des Bösen

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