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Einführung – Digitale Transformation der Medizin

Meine Diagnose, meine Therapie, meine DiGA = Meine Gesundheit!

Rasant wachsende Mengen medizinischer Daten, gepaart mit neuen Möglichkeiten zu deren Auswertung sowie der Begleitung einzelner Therapien in Form von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) führen zu einer zunehmend differenzierten Optimierung der medizinischen Versorgung. Digitalisierung ist somit die Basis für eine wünschenswerte Personalisierung bzw. individualisierte Optimierung von Diagnostik und Therapie. Damit tritt die Medizin in eine neue Entwicklungsphase: War medizinische Qualität über lange Zeit vor allem vom unterschiedlichen Können einzelner ÄrztInnen determiniert, folgte in den 70er-Jahren eine Phase zunehmender Standardisierung. Die rasch voranschreitende Entschlüsselung der biologischen Grundlagen menschlichen Lebens schafft nunmehr die Basis für ein differenziertes, durch die Biologie des einzelnen Patienten determiniertes Optimum.

Die damit einhergehende Aufbruchsstimmung erfasst nicht nur BiologInnen und ÄrztInnen, sondern auch IT- und Daten-SpezialistInnen. Denn für eine individualisierte Diagnostik und Therapie müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein: Neben einem vertieften Verständnis der biologischen Grundlagen und dem Instrumentarium, diese zu entschlüsseln, muss der Zugriff auf erhebliche Datenmengen unterschiedlichen Ursprungs ebenso wie deren Weiterverarbeitung gewährleistet sein. In einem weiteren Schritt können Diagnostik sowie Therapie über Apps oder andere digitale Gesundheitstools, z. B. DiGA, gesteuert und überwacht werden.

Die Verwirklichung dieser spannenden Entwicklung bedarf umfassender regulatorischer Anpassungen. Dabei geht es um eine Balance zwischen medizinischem Nutzen auf der einen, sowie Datensicherheit und Schutz der Privatsphäre auf der anderen Seite. Die tatsächliche Bereitschaft des Gesetzgebers, sich dieser Aufgabe zu stellen, hat der digitalen Transformation der Medizin eine zumindest in Deutschland bislang unbekannte Dynamik verliehen. Dabei wird die Digitalisierung der Medizin neben einem besseren Verständnis der biologischen Lebensgrundlagen vor allem von zwei zentralen, voneinander unabhängigen Entwicklungen angetrieben:

1. Einem deutlich gestiegenen Souveränitätsbedürfnis der PatientInnen auf Basis zunehmender Transparenz und digitaler Information,

2. technologischen Quantensprüngen bei Computing und Datenspeicherung gepaart mit dem ubiquitären Zugang zu Daten über Smartphones.

Gestiegene Patientensouveränität

Angst und Sorge vor Krankheit und Tod haben das Thema „Gesundheit“ über Jahrhunderte mystifiziert. PatientInnen „begaben sich in Behandlung“, oftmals im blinden Vertrauen auf ihre ÄrztInnen. Durch den Einsatz einer eigenen Sprache trugen die MedizinerInnen nachhaltig zur Mystifizierung der eigenen Heilkunst bei. Transparenz war von PatientInnen nicht gefordert und von den ÄrztInnen nicht gewollt. Der „mündige Patient“/die „mündige Patientin“ ist somit ein eher neues Phänomen – ein Phänomen, das sich nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung in vielen Lebensbereichen rasch weiterentwickelt.

Diesbezüglich hat die Corona-Pandemie den Veränderungsprozess erheblich beschleunigt. Das Informationsmonopol der ÄrztInnen wird durch Apps, Bots und andere Tools immer mehr infrage gestellt. PatientInnen sind zunehmend besser informiert. Befragen und Hinterfragen behandelnder ÄrztInnen wird zur Regel. Gleichzeitig erleben die Menschen die Vorzüge der Digitalisierung im Alltag. Die digitale Terminvergabe beim Arzt wird ebenso zum Standard wie Online-Banking oder andere Alltagshandlungen. Direkte Kommunikation mit dem Arzt/der Ärztin, ohne die eigene Wohnung zu verlassen, die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, das digital erneuerbare Rezept – auf viele dieser in der Pandemie erlebten digitalen Versorgungsangebote wollen die Menschen auch nach der Krise nicht verzichten. Für medizinische Leistungserbringer bedeutet diese Entwicklung ein deutliches Mehr an „Online“-Angeboten.

Dank digitaler Optionen wird sich die Medizin in den kommenden Jahren grundlegend verändern. Doch, wie andere Technologien derer sich die Medizin bedient, ist auch die Digitalisierung lediglich das Mittel zum Zweck – die technische Grundlage für eine bessere Gesundheitsversorgung der Menschen, durch ein Mehr an Qualität und Effizienz in der Medizin. Ohne das enorme Potenzial der personalisierten Medizin hinsichtlich einer qualitativ besseren Versorgung, und dem Verlangen der Menschen nach Transparenz, Effizienz und Bequemlichkeit wären digitale Technologien reiner Selbstzweck. Der Nutzen für die Menschen prägt den „digitalen Humanismus“ bei dem weiterhin der Mensch und nicht die Technologie im Mittelpunkt steht.


Mit dem breiten Einsatz digitaler Technologien wird den berechtigten Ansprüchen informierter PatientInnen auf Sicherheit und Transparenz in Kombination mit einer für den Einzelnen optimierten, also personalisierten Medizin, Rechnung getragen. So tragen digitale medizinische Angebote dazu bei, dass die Menschen im Umgang mit dem Gut „Gesundheit“ souveräner und anspruchsvoller werden. Digitalisierung der Gesundheitsversorgung ist kein Selbstzweck.

Quantensprünge in der Digitaltechnologie

Das Cloud-Computing hat eine neue Grundlage für die Nutzung digitaler Technologien geschaffen. Für AnwenderInnen auf der ganzen Welt sind beinahe unbegrenzte Rechenleistung und Speicherkapazitäten verfügbar. Hinzu kommt der ubiquitäre Zugang zu Daten in der Cloud über eine flächendeckende Verbreitung mobiler Endgeräte. Damit ist jeder Einzelne in der Lage diese Technologien für sich und andere zu nutzen.

Für die Dokumentation und Speicherung medizinischer Daten ermöglicht diese technologische Innovation einen fundamentalen Paradigmenwechsel: Hatten medizinische Daten bislang immer einen direkten Bezug zu ihrem Entstehungsort an dem sie in der Regel auch gespeichert wurden, können medizinische Daten nun zentral, unabhängig von ihrem Entstehungsort, also patientenspezifisch gespeichert und verarbeitet werden. Nicht mehr der Ort der Datenakquisition ist ausschlaggebend, sondern die Identität des einzelnen Individuums, von dem die Daten stammen. Sofern berechtigt, ist über mobile Endgeräte zudem jeder in der Lage, diese Daten abzurufen, zu analysieren und weiter zu verarbeiten. Dies schafft die Datenbasis für individuell konfigurierte Apps und weitere digitale Unterstützungstools zur Steuerung und Überwachung personalisierter diagnostischer und therapeutischer medizinischer Interventionen.


Die Cloud-basierte Explosion von Computing Power mit schier unbegrenzten Rechen- und Datenspeicherkapazitäten, gepaart mit ubiquitärem, dezentralem und mobilem Datenzugang sind die technologischen Treiber der anstehenden digitalen Transformation in der Medizin.

Digitale Gesundheitsanwendungen in der medizinischen Regelversorgung

Gestiegenes Souveränitätsbedürfnis der PatientInnen gepaart mit technologischen Quantensprüngen bei Computing und Datenspeicherung und dem ubiquitären Zugang zu Daten haben die Entwicklung digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) ermöglicht. Im Rahmen einer umfassenden Digitalstrategie des Bundesministeriums für Gesundheit, die die Einführung einer nationalen elektronischen Patientenakte (ePA) ebenso umfasst wie das elektronische Rezept (eRezept), hat der deutsche Gesetzgeber die Möglichkeit geschaffen, DiGA systemkonform in die Regelversorgung gesetzlich versicherter PatientInnen zu integrieren. So werden in Deutschland seit Mitte Oktober 2020 erste DiGA von ÄrztInnen verschrieben und von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet.

Um der dynamischen Entwicklung digitaler Innovationen Rechnung zu tragen, wurde eigens ein Fast-Track-Evaluationsverfahren entwickelt. Administriert vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), beruht die Beurteilung nicht zwingend auf einem vollendeten Nutzennachweis, sondern kann sich zunächst auf die Evaluation einer mit systematischen Datenauswertungen unterfütterten Nutzenhypothese beschränken. Da eine Zertifizierung der DiGA nach der Medizinprodukterichtlinie (Medical Device Directive – MDD) bzw. der Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation – MDR) ebenso vorausgesetzt wird wie strikte Vorgaben zu Cyber Security und Datenschutz, ist eine schädliche Wirkung der Anwendungen so weit wie möglich ausgeschlossen. Darüber hinaus wurde das Fast-Track-Verfahren zum Ausschluss weitergehender Risiken auf DiGA der medizinprodukterechtlichen Klassen I und IIa beschränkt.

Die konsequente Integration von DiGA in die Regelversorgung in Deutschland ist weltweit einzigartig. Entsprechend aufmerksam wird die Entwicklung von vielen Seiten, nicht zuletzt vom deutschen Gesetzgeber selbst, verfolgt. So geht es in den kommenden Monaten und Jahren vor allem darum, Erfahrungen mit digitalen Gesundheitstools in der medizinischen Versorgung zu sammeln. Im Vordergrund stehen dabei zunächst der tatsächliche medizinische Nutzen der DiGA und die damit verbundene Akzeptanz bei PatientInnen, ÄrztInnen und TherapeutInnen. Kosten-Nutzen-Analysen werden ebenso Teil einer umfassenden Beurteilung sein, wie die Frage nach Adhärenz und Compliance aufseiten der PatientInnen.


Weitere Schritte, wie die Ausweitung des Zulassungsverfahrens auf DiGA der MDR Klassen IIb und III sowie der Fortbestand des Fast-Track-Verfahrens insgesamt werden direkt von den dokumentierten Erfahrungen abhängen.

DiGA VADEMECUM

In den kommenden Monaten und Jahren steht die Einführung der DiGA als „App auf Rezept“ im vorgesehenen gesetzlichen Rahmen im Vordergrund. Die Breite der gesammelten Erfahrungen wird sehr direkt von der Anzahl der entwickelten und letztlich zugelassenen DiGA abhängen. Und das bringt uns zum Sinn und Zweck dieses Buches.

Verfasst als schlanke Anleitung von Konzept über Zulassung bis zum erfolgreichen Produkt, ist das DiGA VADEMECUM als Unterstützung für die Entwicklung und Verbreitung digitaler Gesundheitsanwendungen konzipiert. Es ist eine Anleitung für Anwendungsentwickler von Start-ups bis etablierten Unternehmen. indem die notwendigen Schritte von der Idee bis zur erfolgreichen Markeinführung klar umrissen sind, schafft das DiGA VADEMECUM auch wertvolle Einblicke für Finanzierungspartner aus dem Venture Capital und Private-Equity-Bereichen sowie mögliche Vertriebspartner aus den Pharma- und Medizintechnikbranchen. Interessant ist das Werk auch für VertreterInnen der Krankenkassen, die sich mit der Abwägung von Nutzen und Kosten befassen. Letztlich schafft das DiGA VADEMECUM wertvolle Einblicke für ÄrztInnen und TherapeutInnen, die nicht nur lernen wollen DiGA sinnvoll zu verschreiben, sondern auch mit deren digitalen Output im Interesse einer besseren Gesundheitsversorgung ihrer PatientInnen umzugehen.

Das Vademecum, lateinisch für „Geh mit mir!“, ist ein seit dem Mittelalter etabliertes Format. Es steht für ein handliches Buchformat, das als praktischer Begleiter mitgeführt werden kann. im Mittelalter zunächst für theologische und liturgische Schriften verwendet, etablierte sich das Format vor allem für medizinische Handbücher. Vom Vademecum der speziellen Chirurgie und Orthopädie (Ziegner 1919), über das Vademecum für Pharmazeuten (Schmidt-Wetter 1975) bis hin zum Vademecum für die Onkologie (Schleucher et al. 2015) hat das Format nicht an Relevanz verloren. Wo im Mittelalter Aderlass, Harnschau und heilsame Kräuter thematisiert wurden, ist heute die digitale Medizin Gegenstand des Vademecums.

DiGA VADEMECUM

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