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Zweites Kapitel Entwicklungshilfe
ОглавлениеIch denke, alle würden mir zustimmen, dass es Aufgabe der Könige ist, einen Staat, dem es schlecht geht, aus der Not zu befreien, einen, der blüht, so zu erhalten und einen kleinen groß zu machen; denn alles, was von Tag zu Tag sonst noch an Aufgaben anfällt, ist wegen dieser Ziele nötig.
Isokrates, An Nikokles 9
In die Zweifel, wie berechenbar oder gefährlich die persische Garantarmacht war, ging nur wenige Jahre nach dem Königsfrieden eine neue Komponente ein. Großkönig Artaxerxes II., an der Macht seit 404, hatte seine Herrschaft mit einem fast tödlichen Rückschlag angetreten: Ägypten hatte sich mehr als hundert Jahre nach seiner Unterwerfung der Zentralregierung entzogen. Die Rückeroberung war eine strategisch schwer lösbare Aufgabe. Schon Mitte der 380iger Jahre holte eine große Armee zum Schlag aus, scheiterte aber; das blieb in Griechenland nicht unbemerkt.
Makedonien, der politische Zwerg mit zu vielen Königsnachkommen, hatte seine eigenen Nöte. Die lynkestische Heimat seiner Frau und die Elimiotis standen zu Amyntas III., aber an der Stellung der Herrscher vor 399 fehlte ihm viel – nicht zuletzt die Region westlich des Axios rund um die Hauptstadt Pella, nach wie vor unter dem ‚Schutz‘ der Olynthier. Eine zweite Flucht – vor einer neuen Invasion der Illyrer um 383 – blieb dem König eventuell nicht erspart. Die Existenz der makedonischen Monarchie stand auf dem Spiel, wenn wir Diodor glauben; mit Amyntas’ gewaltsamem Ableben war so oder so zu rechnen. Spätestens jetzt adoptierte er Iphikrates, Athens Strategen, was einer Bitte um permanenten Schutz nahekam.1
Olynth überreizte jedoch seine Karten. An zwei unabhängige Städte, Akanthos und Apollonia, erging die ultimative ‚Einladung‘, dem Chalkidischen Bund beizutreten. Das verstieß gegen einen Bündnisvertrag, der ihre Unabhängigkeit garantiert hatte; es verletzte aber außerdem den Königsfrieden. Beide Städte wurden in Sparta vorstellig – mit ihnen Amyntas, der seine Chance witterte. 3000 Spartaner erschienen auf der Chalkidike und sorgten unterwegs für einen Regimewechsel in Theben, dessen Regierung zu Olynth hielt. So begann der Olynthische Krieg – später der Erste genannt. Gegen das mehrmals aufgestockte spartanische Kontingent und seine Verbündeten, darunter Amyntas und der Elymiotenfürst Derdas, hielten sich die Bundesmitglieder jahrelang sehr erfolgreich. Erst der fünfte Feldherr Spartas, Polybiades, erzwang schließlich 379 mit einer Belagerung Olynths Kapitulation. Der makedonische Beitrag zum Sieg liegt weithin im Dunkeln; wenig schmeichelhaft klingt die Forderung des spartanischen Generals Teleutias, Amyntas möge doch Söldner anwerben. Sparta – so empörte sich Isokrates in dieser Zeit – helfe dem Großkönig, Amyntas und Dionysios von Syrakus, lauter Barbaren, „ihr Reich so groß wie möglich zu machen“, und schade den anderen Griechen.2
Der Kriegsausgang konnte sich für Amyntas sehen lassen: Er gewann außer Pella die Oberherrschaft über zahlreiche Städte der nordwestlichen Chalkidike; Sparta selbst zwang Olynth in sein Bündnissystem und löste den Chalkidischen Städtebund auf. Doch Sparta war inzwischen wieder eine bloße Landmacht, die Märkte für den makedonischen Export lagen anderswo. So tat Amyntas viel, um sich auch mit Athen gut zu stellen. Zugleich streckte er Fühler nach Thessalien aus. Die dortigen Retter des Königs in der Krise um 393, die Aleuadendynastie aus Larissa, sahen sich seit Jahrzehnten mit einer aufstrebenden Familie konfrontiert, die in der Stadt Pherai die Tyrannis behauptete. Iason, ihr begabtestes Mitglied, verfolgte seit seinem Machtantritt um 390 Absichten, die über eine Einigung der reichen Landschaft weit hinauszugehen schienen.3
Für Sparta grenzte der Erfolg auf der Chalkidike – was niemand hatte absehen können – mittelfristig an Selbstmord. Nach dem Manöver von 382 blieb eine spartanische Garnison in der Zitadelle von Theben, auf der Kadmeia. Im Siegesjahr 379 vertrieben die Thebaner ihre einstigen Verbündeten; seitdem baute Theben den Boiotischen Bund – oft gegen den Widerstand der Beitrittskandidaten – in erstaunlichem Tempo zu einem Instrument aus, das ans Niveau Athens und Spartas herankam. Ein neuer, beängstigend talentierter Personenkreis lenkte die thebanische Politik, geschart um zwei Vordenker mit militärischen wie politischen Qualitäten, die noch dazu gute Freunde waren und blieben – Pelopidas und Epameinondas.4
Der spartanische Rückschlag zog weitere nach sich – auch Athen nutzte seine Chance, den Konflikt mit der alten Rivalin zu suchen und sich seiner verlorenen Führungsposition zu nähern. Wie vor Jahrzehnten lag der Schwerpunkt auf dem Wasser; angesichts der bösen Erinnerungen an den Attischen Seebund traten die Athener diesmal relativ partnerschaftlich auf, um ihre Werbewirkung nicht zu gefährden – eine teure Entscheidung, weil es den Verzicht auf die drückende Höhe der alten Bundesbeiträge bedeutete. So entstand 378/7 der Zweite Seebund und wuchs auf rund 70 Mitglieder, darunter Theben – beitragsfrei als Anerkennung für seinen Landkrieg gegen Sparta, das sich verbissen, aber ohne große Erfolge in mehrere Kampagnen in Boiotien stürzte.5
Unter den Bundesmitgliedern erscheint auch Amyntas, der sich offensichtlich umorientiert hatte; ein Grund war wohl die fortbestehende Drohung Olynth. Bei einem panhellenischen Friedenskongress in Athen stützte Amyntas gar den athenischen Anspruch auf Poteidaia. Damit vergab er sich wenig; nur ein heilloser Optimist konnte hoffen, an der Macht Athens oder auch Olynths vorbei die Stadt zu bekommen. Amyntas hatte ganz andere Sorgen; in Thrakien führte der Stamm der Triballer 375 einen Raubzug, der erst von einer Koalition der geplünderten griechischen Küstenstädte und mehrerer Thrakerstämme aufgehalten wurde. Jederzeit konnte so etwas auch Makedonien treffen. Die Wirtschaftskraft war so gering, dass immer weniger Silber in den Münzen steckte – der Außenhandel vollzog sich wohl mit den schweren, gehaltvollen Stateren von der Chalkidike; nur im eigenen Haus war Amyntas noch so sehr Herr, dass die schmächtigen Prägungen aus Aigai und Pella ohne weiteres akzeptiert wurden.6
Ebenfalls 375 unternahm die griechische Staatenwelt einen Versuch, in Sparta den Frieden wiederherzustellen. Nicht allein die Spartaner waren aktiv – auch Athen merkte nun, welch unheimlichen Verbündeten es vor der Haustür hatte. Prompt verweigerte Theben sich dem Friedensschluss; niemand war bereit, ihm ganz Boiotien als Einflußgebiet zuzugestehen. Wie aggressiv die neue Großmacht auftreten konnte, zeigte sich, als Theben das benachbarte Plataiai lieber dem Erdboden gleichmachte, als es ins athenische Bündnissystem zu entlassen. Athen selbst suchte – was Amyntas nicht recht sein konnte – den Ausgleich mit Olynth, das auf der Chalkidike wieder das Sagen hatte: Der neu formierte Chalkidische Bund trat als Mitglied in den Seebund ein.7
Auf Drängen des persischen Großkönigs – der schon 375 reges Interesse an innergriechischem Ausgleich gezeigt hatte, um der Entstehung neuer großer Bündnisse vorzubeugen – erneuerten die Poleis 371 ihre Verträge. Wieder fehlte Theben, wieder fehlte dem Vorgang dadurch die Substanz. Amyntas befürwortete bei dieser Gelegenheit den athenischen Anspruch auf Amphipolis in Konkurrenz mit Olynth, um nach Möglichkeit Keile zwischen beide zu treiben. Persiens Einwirkung litt unter einer neuen Schlappe bei der Rückeroberung Ägyptens.8
Statt die Lage zu beruhigen, trug der panhellenische Kongress zur Eskalation bei. Sparta beschloss, Thebens politische Isolation zu einem Todesstoß zu nutzen, und entsandte seine größte Armee seit langer Zeit. Bei Leuktra südwestlich von Theben stieß König Kleombrotos auf das deutlich unterlegene Aufgebot des Boiotischen Bundes, frisch verstärkt durch Iason von Pherai. Kleombrotos bekam seine Entscheidungsschlacht. Am Ende lag er mit viertausend toten Spartanern auf den Feldern von Leuktra, während die Reste seiner Armee, von Epameinondas verfolgt, in Panik der Peloponnes entgegenflohen, sobald Iason einen Waffenstillstand vermittelt hatte. Das Griechenland des 5. Jahrhunderts mit seinem Dualismus zwischen Athen und Sparta war unwiederbringlich Vergangenheit. Theben hatte freie Hand, sich den Rest Boiotiens zu unterwerfen; die vernichtende Niederlage Spartas erledigte die Bündnisse mit seinen Nachbarn. Argos, Arkadien, Elis und das vor einer kleinen Ewigkeit versklavte Messenien, die Geldquelle für den Lebensstil der spartanischen Militärelite, brachen unter tätiger Hilfe des Epameinondas weg und verwandelten sich in Todfeinde vor Spartas Haustür. Die Stadt selbst entging nur knapp der Zerstörung.9
Athen hielt aus Gleichgewichtsgründen zum Verlierer, jedoch mit halber Kraft – es kämpfte hauptsächlich um sein finanzielles Wiedererstarken, um Inseln und Küstenpositionen. Der Großkönig hätte wie einst im Peloponnesischen Krieg mit Geld und Diplomatie gegen die thebanische Hegemonie arbeiten können; doch Artaxerxes III. sah sich 370 mit einer Rebellion in seinen Westprovinzen konfrontiert. Datames, Satrap von Kilikien und vielleicht auch Kappadokien, hatte den Auftrag, Ordnung unter den aufsässigen Lokalgrößen zu schaffen. Statt dessen trat er angesichts einer Hofintrige die Flucht nach vorn an und wurde zum Rebellenführer; sein Kollege in Phrygien, Ariobarzanes, zog mit. Der lydische Satrap Autophradates, der beiden eine Lehre erteilen sollte, wechselte einige Jahre später die Seiten. So begann die Schwäche- und Altersphase des Großkönigs, den es fast ein Jahrzehnt kosten sollte, Kleinasien wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Da der Aufstand solche Ausmaße annahm“, resümiert Diodor, „fiel für den König die Hälfte seiner Einkünfte weg, und der Rest reichte nicht für die Kriegskosten.“10
Keine gute Zeit war und blieb es auch für Amyntas. Nicht nur drohten die Konflikte der drei hellenischen Vormächte auf ihn überzugreifen, er hatte obendrein einen gefährlichen neuen Nachbarn im Süden bekommen. Iason war es gelungen, sich zum Tagos, zum Kriegsherrn aller Thessaler, wählen zu lassen; sein steiler Aufstieg, gestützt auf eine Söldnerarmee, ließ bereits Ängste aufkommen, Thessalien werde zum vierten Anwärter auf die Macht über ganz Hellas. Schon hatte er „die Hegemonie über einige der angrenzenden Stämme“ errungen – und Amyntas sah sich gezwungen, ein ungleiches Bündnis zu schließen. Genauer betrachtet ging er wohl vor der Mischung aus Diplomatie, Drohungen und Gewalt in die Knie, mit der Iason agierte. Mehrere „Stämme“ waren identisch mit den Südregionen dessen, was Amyntas’ Vorfahren als ihr ureigenes Gebiet betrachtet hatten. Ein Verbündeter Iasons, der Molosserkönig Alketas, lauerte in der makedonischen Flanke. Beide waren 373 gemeinsam zu einem Staatsbesuch in Athen erschienen. Iason Mitglied im Seebund, war nominell Verbündeter der Thebaner … und nicht daran interessiert, sie zu mächtig werden zu lassen. So hatte er sich nach Leuktra umgehend aus der Kriegführung zurückgezogen und sich mit der Schleifung der Mauern von Trachis ungehinderten Zugang zu den Thermopylen gesichert, falls er in Mittelgriechenland zu intervenieren wünschte. Unter dem Kommando dieses Mannes zählte sein Zeitgenosse Xenophon 20.000 Hopliten, die Söldner sicher eingerechnet, und beängstigende 8000 Reiter – von den unerreichten Qualitäten der thessalischen Kavallerie abgesehen, konnte keine andere griechische Macht solchen Zahlen nahekommen.11
Amyntas III., der anpassungsfähige, aber nur zu deutlich schwächere Nachbar, starb wohl im Jahr 370. Sein Erbe Alexandros II. war kaum erwachsen, noch nicht weit aus der Kindheit heraus waren die jüngeren Brüder Perdikkas und der rund zwölfjährige Philipp. Makedonien hatte großes Glück. dass der erfolgreiche Iason zur gleichen Zeit ermordet wurde; sein Bruder und Nachfolger Polydoros hielt etwa ein Jahr durch, ehe nach weiteren Familienmorden mit Alexandros die nächste Generation der Dynasten von Pherai nach der Macht über Thessalien griff. Es war bewiesen, dass auch außerhalb der traditionellen Macht- und Kulturzentren eine Großmachtbildung möglich war; aller Selbstzerfleischung zum Trotz hatte sie über Iason hinaus Bestand.12
Philipp merkte sich die Lektion. Seine Kindheit verlief außerhalb des Blickfelds späterer Historiker. Einige seiner Jugendfreunde aus vornehmen Familien mögen sich unter den späteren Stützen seiner Macht befinden. Dennoch war er nichts als ein nachgeborener Königssohn, der eine – vermutlich ganz solide – Bildung erhielt, in den Lebensstil der Aristokratie hineinwuchs und mehr Zeit als seine älteren Brüder für eigene Zwecke verwenden konnte. Es gab reichlich Kraftsportarten, Konditionstraining und am Horizont die Aussicht auf erste Bewährung als Krieger. Unter den bedrohlichen Umständen, in denen Makedoniens Herrscherhaus steckte, lernten seine Mitglieder rasch die politischen Grundregeln; die hohe Intelligenz und Beobachtungsgabe dieses speziellen Vertreters waren besonders früh erwachsen – was an seinem eigenen Schicksal lag.
Der junge Argeade, der dritte in der ‚Thronfolge‘, wenn es nach seinem Vater ging, wurde angeblich fast noch als Kind als Geisel zu einem Illyrerstamm geschickt, gegen den Amyntas III. eine Niederlage erlitten hatte. Wir assoziieren mit diesem Wort Verschleppung, Kellergefängnisse und ständige Todesangst; unter vormodernen Verhältnissen bedeutete es einen ehrenvollen Status als Unterpfand für Frieden und Loyalität – einen Platz in der Nähe des Stammesfürsten, gemeinsame Waffenübungen, Jagden und Feste mit dessen Söhnen und der Aristokratie auf einer Ebene, die sich materiell mit dem makedonischen Hof beinahe messen konnte. Euripides wurde bei den Illyrern sicher nicht gespielt. Die unverwüstliche Kampfkraft und Ausdauer zu Pferd, zu Fuß und mit den Waffen, das Draufgängertum, das Philipp später so gute Dienste leistete, können ein Erziehungsergebnis dieser Zeit gewesen sein – und sie passten exakt zu dem, was von einem makedonischen Adligen erwartet wurde, inklusive der Alkohol- und Sexualprotzerei, bei der Philipp einstweilen nicht viel zu bieten hatte. Eine Geisel lernte noch mehr: Augen und Ohren offenhalten, seine Gedanken nicht verraten und die Passivität seiner Situation durch Wissen kompensieren.13
Doch das wilde Leben blieb Episode. Die Söhne Amyntas’ III. waren risikofreudiger als ihr Vater; Alexandros II. sah Makedoniens Hoffnung in Thessalien, näher am Kern der griechischen Welt. Die Ereignisse in Pherai hatten dem rivalisierenden Familiennetz der Aleuaden neuen Mut gegeben. Sie baten Alexandros, beim Wiedergewinn ihrer alten Hochburgen Larissa und Krannon zu helfen, und er ließ sich gern bitten. Nur knapp kam seine Invasion 369/68 einem Schlag des Namensvetters aus Pherai zuvor; anschließend behielt der Makedone beide Städte dreist für sich. Alexandros von Pherai legte sich gleich noch mit Theben an und setzte Pelopidas, die boiotische Nummer zwei, in Pharsalos gefangen, als der Politiker die Möglichkeiten seiner Polis in Thessalien sondierte. Die nächste Delegation bestand aus einer thebanischen Befreiungsarmee. Alexandros konnte sie mit Hilfe athenischer Verbündeter und dank unfähiger Führung auf der Gegenseite beinahe vernichten, ehe Epameinondas die Lage rettete. In der nächsten Feldzugssaison beugte sich der Tyrann dann doch und gab Pelopidas frei.14
Die Ereignisse veränderten Philipps Zukunft. Alexandros II. hatte mit seinem kleinen Verrat zwar nicht Thessalien bekommen, sah sich aber einer bedrohlichen Armee gegenüber, die neue Gefolgsleute zu rekrutieren wünschte. Vermutlich hätten beide Fraktionen der Thessaler liebend gern einen Vorstoß Thebens nach Norden begleitet. Notgedrungen brach der König das Bündnis mit Athen – was seine Küstenregionen in große, seine Gesamtherrschaft aber eben etwas weniger akute Gefahr brachte. Teil der Transaktion war, dass der Königsbruder Philipp aus Illyrien geholt und – zu einem ärgerlich umstrittenen Zeitpunkt – mit dreißig anderen Mitgliedern des Adelsnachwuchses Pelopidas übergeben wurde, der für die Weiterleitung der Geiseln nach Theben sorgte.15
Beinahe über Nacht fand sich Philipp in einer Großstadt, im Zentrum der griechischen Politik. Drei Jahre blieb der heranwachsende Königsbruder, mindestens einen Teil davon im Haus des Pammenes, eines nahen Freundes des Epameinondas, der sich zum kommenden Mann im Boiotischen Bund entwickelte, als die führenden Personen beim Verfolgen ihrer Expansionspolitik den Tod fanden. Wann genau die drei Jahre anzusetzen sind, wüßten wir gern; ebenso, ob er von Pammenes direkt nach Makedonien heimkehrte oder sich in Theben und anderswo noch etwas Zeit ließ.16
Es gab hier unendlich viel zu lernen, kulturell wie als Kundschafter – und ein wenig auch schon Botschafter – des eigenen Reiches. Demosthenes erdichtete später als Hauptlektion einen tiefen Hass auf die Demokratie: geblieben sei der Eindruck, „dass das Volk als politisches Entscheidungsorgan die unbeständigste und willkürlichste Sache auf der Welt ist, wie der unablässige Wellengang des Meeres, den der Wind aufwühlt, so wie es gerade kommt. Der eine kommt, der andere geht; keinem von beiden liegt am Gemeinwohl, zumindest erinnert er sich nicht daran.“ Auch habe sich in Philipp die Idee festgesetzt, Theben sei der natürliche Verbündete Makedoniens – von dieser Auffassung zumindest zeigte er sich reichlich unabhängig, so gern er später thebanische Hilfe und seine persönlichen Kontakte nutzte.17
Die Tischgespräche in den führenden Kreisen waren vielfältig. So sehr Theben auf einer Welle aus militärischen Erfolgen schwamm, Krieg und Waffen waren nicht das einzige Thema. Schon wucherten Legenden rund um die Rückeroberung der Kadmeia und Leuktra, die Geburtsstunde der thebanischen Macht; von Männern wie Pammenes war aber auch Pragmatisches über den Krieg zu erfahren, die Konzentration einer Übermacht an einer Stelle, die hinter der berühmten und bis heute etwas nebulösen ‚Schiefen Schlachtordnung‘ von Leuktra stehen dürfte, vielleicht auch die Kombination der Vorzüge verschieden ausgestatteter Truppenteile. Die alltäglichen Kampagnen waren wichtig, das Ringen um Stützpunkte, Vorräte und Geld, das Auskommen mit dem, was man an Soldaten gerade hatte. Mit Boiotien selbst lernte Philipp die strategisch wichtigste Region ganz Griechenlands kennen, darin viele klassische Orte, an denen das Terrain Angreifer oder Verteidiger begünstigte.18
Der kultivierte Epameinondas selbst war ein faszinierender Charakter; Plutarch lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, Philipp als unfähig hinzustellen, „Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit, Großmut und Milde“ auch nur zu heucheln – er habe in seiner Einseitigkeit nur den großen Feldherrn gesehen. Der junge Makedone interessierte sich aber offenkundig nicht nur fürs Zuschlagen. Verhandlungen, Angebote, Verträge, Prognosen kreisten in diesen Jahren um Theben. Gesandte gingen ein und aus. Die Perser erkannten 367 die thebanische Hegemonie über Hellas an und bekräftigten offiziell die traditionell guten Beziehungen. Diplomatie vollzog sich teils in öffentlichen Reden, teils am Rand von Abendgesellschaften; über besonders Vertrauliches gab es wenigstens Gerüchte. Gegner waren zu isolieren, deren Verbündete abzuwerben, das eigene Lager loyal zu halten – mit allen Mitteln, vom Einmarsch über Sympathiekundgebungen vor der Bundesversammlung bis zu Erpressung und Geldgeschenken.19
Das Innenleben der Polis Theben war die andere Seite. Ihre nach außen unaufhaltsamen Vordenker trugen schwer an der Last, sich vor der Bürgerschaft rechtfertigen und parallel Feldzüge führen zu müssen; auch ein Epameinondas wurde zuhause so kritisch beäugt, dass er nach 368 bei den Wahlen der sieben Boiotarchen durchfiel. Andererseits war der Vorteil unübersehbar, dass Thebens Exponenten die innenpolitisch durchgesetzten Entschlüsse auch persönlich ausführen konnten; eine Doppelrolle, die den Athener Politikern dieser Zeit mal selten, mal gar nicht offenstand. Die charismatische Seite – die Überzeugungsarbeit für wichtige Entscheidungen, der Wechsel von Argumentation und Imponiergehabe – ließ sich hier ebenfalls studieren … und die persönliche Loyalität, die sich zwischen den Feldzugsteilnehmern und ihren Heerführern aufbaute.
Philipps persönliche Rolle war in mancher Hinsicht bescheidener als bei den Illyrern. Er vertrat einen fernen Potentaten, der nach thebanischen Maßstäben schwächer war als manche kleine Polis des mittleren oder südlichen Griechenland. Sein eigenes Alter sorgte für Vorgaben und Erwartungen, die ganz anderer Natur waren, aber eine eigene Sorte Diplomatie verlangten. Die Paiderastie war in den Oberschichten Thebens, wo die aristokratische Tradition stark nachwirkte, fest verwurzelt; wenn Makedonien sie nicht schon länger kannte, dürfte sie spätestens in der Generation vor Amyntas mit der Hinwendung des Hofes zur griechischen Kultursphäre eingeführt worden sein. Philipp hatte jetzt das richtige Alter erreicht, sich umwerben zu lassen, und brachte einen sportlich trainierten, in selbstsicheren Bewegungen geübten Körper mit. Erwachsene Verehrer aus der thebanischen Führungsschicht konnten nicht ausbleiben. Bei der „Knabenliebe“ zwischen dem erwachsenen erastēs und dem pubertierenden erōmenos, „Liebendem“ und „Geliebtem“, kam es neben dem Einsatz persönlichen Charmes nicht zuletzt auf die richtige Kalkulation des eigenen Spielraums an. Aus der Sicht des umworbenen Jugendlichen – grundsätzlich definiert als passives‘ Objekt von Begehren, Liebesgefühlen und begleitenden Lektionen in richtigem Sozialverhalten – durfte man nicht jedem nachgeben, der mit Komplimenten und Geschenken kam, durfte die Sprödigkeit aber auch nicht übertreiben. Eine Kunst war es, die erwarteten sexuellen Gegenleistungen sehr dosiert zu erbringen, lieber verführerisch als verführbar, und nur nicht den Eindruck zu erwecken, als fühlte man sich in der ‚unmännlichen‘ Rolle – die man mit dem ersten Bartwuchs für immer hinter sich lassen würde – zuhause. So gesehen testete diese Übergangsphase die Formbarkeit durch die Normen der Oberschicht ebenso wie die Willensstärke als angehender Mann, der über Frauen, Sklaven und Untergebene aller Art zu kommandieren und sich unter seinesgleichen durchzusetzen hatte. In der Heiligen Schar – der kürzlich gegründeten boiotischen Elitetruppe, die bei Leuktra ihre Qualität bewiesen hatte – fungierte die Erotik als Element des Corpsgeistes, den kein anderer als Pammenes in Form eines Homerwitzes äußerte.20
Wie versiert Philipp in den Regeln dieses erotischen Wettbewerbs war, bleibt offen; der Rollenwechsel zum berufsmaskulinen Monarchen mit einer ganzen Reihe Frauen und etlichen Geliebten (junge Männer eingeschlossen) gelang ihm virtuos, garniert mit einer Portion sexueller Aggressivität, wie sie in Athen oder Theben schon wieder unanständig gewesen wäre. Im Bett erfährt man gelegentlich Geheimnisse; als Philipp später in der Position war, eigene auszuplaudern, scheint er ein Meister der Undurchschaubarkeit gewesen zu sein. Nebenbei wurde er ein versierter Redner: „Wie ein Sophist bildete er sich etwas auf seine Wortgewalt ein“, kommentierte Plutarch säuerlich. Auch hierin wirkte die Kombination, die Epameinondas vorlebte – vielseitige Bildung, körperliche Gewandtheit und das angeblich größte Rhetoriktalent von Theben – offenbar prägend. Mut im Kampf, ein Leben mit knappem Geldbeutel, das Wahren anvertrauter Geheimnisse und gutes Zuhören, „denn dadurch, meinte er, könne man am leichtesten Dinge erfahren“, waren ebenfalls Fähigkeiten, die der erwachsene Philipp schätzte; nur zur unbedingten Aufrichtigkeit, für die Epameinondas gelobt wird, sollte er ein wesentlich entspannteres Verhältnis pflegen.21
Es ist gut möglich, dass der heranwachsende Königssohn Makedonien vermisste – nicht zuletzt die Möglichkeit, endlich eine prominente Rolle zu spielen. Ganz undankbar für den Bildungsaufenthalt kann er nicht gewesen sein; so war er in Sicherheit, als es zu neuen Krisen kam. Eurynoë, eine Schwester Philipps, war zu Amyntas’ Lebzeiten mit einem hochstehenden Makedonen verheiratet worden, Ptolemaios von Aloros aus der Bottiaia. Dessen königlicher Schwager, Alexandros II., wurde nach nur etwa einem Jahr an der Herrschaft ermordet – auf Anstiften des Ptolemaios, so die Quellen, die aus der folgenden Entwicklung ihre eigenen Schlüsse zogen. Die Mutter des Königs, Eurydike, musste außerdem die Geliebte des Ptolemaios gewesen sein, denn sie vertraute ihm die Regierung an. Schon Pelopidas hatte zwischen Ptolemaios und dem König vermitteln müssen, die offen Krieg miteinander geführt hätten, behauptet Plutarch – vielleicht in der Spätzeit des Amyntas, vielleicht erst nach dem Machtwechsel.22
Nur durch einen Skandal erklärt sich aus griechischer Sicht, dass eine Frau erstens die politische Initiative ergriff und zweitens die Herrschaft in andere Hände als die ihrer Söhne spielte – offensichtlich war triebgesteuerte Unmoral am Werk, wie sie den makedonischen Herrscherfrauen mit schöner Regelmäßigkeit attestiert wird. Bei Justin darf Eurydike gleich noch ihren zweiten Sohn ermorden. Tatsächlich kam das weibliche Personal eines kriegerisch auftretenden Königtums wie der Argeaden – für die Nachbarvölker galt Ähnliches – gar nicht ohne militärische und politische Grundkenntnisse aus. Die real existierende Eurydike fürchtete offenbar um die Durchsetzungsfähigkeit ihrer beiden verbleibenden Söhne. Perdikkas (III.), der Nächstältere, war 368 vielleicht erst 15 oder 16. Ptolemaios, verstärkt durch eine Anzahl heimgekehrter Verbannter, brachte offenbar genug Thronfähigkeit mit, konnte ohne zusätzliche Hilfe aber nur Chaos stiften, nicht fest im Sattel sitzen. Das Angebot einer Regentschaft kam allen entgegen. Melodramatisch klingt Plutarchs Behauptung, die Alexandros-Anhänger hätten an Theben appelliert, worauf Pelopidas im Alleingang Ptolemaios zum Kompromiss gezwungen habe. Falls der Bericht einen wahren Kern hat, gesellten sich Philoxenos, Sohn des Ptolemaios, und fünfzig vornehme junge Makedonen zu Philipp und seinen dreißig Gefährten.23
Ruhige Zeiten brachen mit diesem Kompromiss nicht an. Im Gegenteil fiel nach Alexandros’ Tod der Thronprätendent Pausanias, „da Eurydike von ihren scheinbaren Freunden verraten worden war“, erneut ins Land ein und brachte große Gebiete an sich. Ein Glücksfall hatte Iphikrates in die Gegend geführt, wo er gegen die Chalkidier operierte, um endlich Amphipolis für Athen wiederzugewinnen. Gut zwanzig Jahre später will Aischines Philipp daran erinnert haben, wie Eurydike ihn dem Athener Feldherrn hilfesuchend auf die Knie gesetzt habe – angesichts des Alters „dieser kleinen Kinder“ hätte das an Prostitution gegrenzt, von Philipps Abwesenheit zu schweigen. Das Hilfegesuch an sich glückte: einmal mehr verjagte Iphikrates, natürlich nicht gratis, den lästigen Pausanias aus Makedonien, wohin ihn vielleicht der Chalkidische Bund – seit 383 mit den Argeaden zerstritten – eingeladen hatte. Einige Jahre lang herrschte Ptolemaios von Aloros als Vormund. 365, als Philipp etwa siebzehn war, hatte der junge Perdikkas eigene Pläne und ließ Ptolemaios beseitigen. Falls die Verwandten des Regenten sich wehrten, kamen sie nicht weit.24
Die Erosion der makedonischen Königsmacht hatte sich verlangsamt, war aber weiter vorangeschritten. Athens Hilfe hatte ihren Preis: die Seemacht brachte in diesen Jahren die wertvollen Küstenstädte Methone und Pydna an sich und schloss damit zwei weitere Tore zum Griechenlandhandel. Viel dagegen unternehmen konnte Perdikkas nicht – obwohl er in kleinen Mengen attraktive ‚Luxusmünzen‘ mit höherem Silbergehalt schlagen ließ, so als wären die guten Zeiten wieder da. Die 360iger Jahre standen im Zeichen des Konflikts zwischen Theben und Athen, die nach dem Ausfall Spartas so zügig wie möglich expandierten und dabei zwangsläufig aneinandergerieten. Auch Boiotien lag schließlich am Meer; so versuchte Theben 366 das wichtige Oropos auf Euböa zu übernehmen, was Athen auf den Plan rief. Ohne eigenes Flottenprogramm waren solche Kämpfe in Übersee für die Thebaner nicht zu gewinnen, also forderte Epameinondas erfolgreich den Bau von hundert Kriegsschiffen. Noch dazu konkurrierten die Hegemonialmächte auch als Unterstützer der aufständischen Satrapen in Kleinasien. 365 strich Athen einen Hauptgewinn in diesem Spiel ein, eroberte Samos von den Persern … und verjagte die Bevölkerung gnadenlos, um eigene Siedler an deren Stelle zu setzen. Begehrliche Blicke richteten sich auf die Nord- und Ostägäis, wo es vielleicht weitere Bausteine dieser Art herauszubrechen gab.25
Das hatten die Thebaner erkannt, die weder Thessalien vergessen hatten noch Athen das Meer überlassen wollten. 364 waren sie soweit. Eine Flotte unter dem Kommando – schon wieder – des Epameinondas war Chios, Rhodos und der wichtigen Festlandsstadt Byzantion behilflich, sich von Athen loszureißen. Der Sieg tröstete über den Verlust des Pelopidas hinweg, der zur gleichen Zeit im Kampf gegen Alexandros von Pherai fiel. Thebens thessalische Verbündete erreichten dank der Siege immerhin die Unabhängigkeit von ihrem bisherigen Oberherrn, Theben selbst die Erweiterung seiner Allianzen bis an den Fuß des Olymps.26
König Perdikkas war dadurch offenbar zu dem Eindruck gekommen, auf thebanischer Seite ließe sich von den stürmischen Zeiten am besten profitieren. Vergebens: 364/63 sah er sich in ein erneutes Bündnis mit Athen gezwungen und musste gegen die Chalkidier und Amphipolis marschieren, damit die Athener – deren Seebund sich durch die Eroberung von Poteidaia auf der Chalkidike festsetzte – endlich ihren wichtigen Exporthafen für Holz und thrakisches Edelmetall zurückbekämen. Sobald Perdikkas konnte, wechselte er wieder die Seiten und tat alles, um Amphipolis zu stärken. Was er zu gewinnen hoffte, ist unbekannt; vielleicht war es seine Hauptangst, als attischer Verbündeter zwischen eine thebanische Armee und das schlagkräftige Aufgebot des Chalkidischen Bundes zu geraten.27
Die Rache Athens hielt sich in Grenzen, wohl wegen der dramatischen Ereignisse weiter im Süden. Dort hatten 362 die Arkader – die Theben ihre Loslösung von Sparta verdankten – nun auch den Ausbruch aus der neuen Allianz versucht; ein bis dahin undenkbares Bündnis zwischen Athen und Sparta bot die vielleicht einzige Chance, Theben an der Unterwerfung der ganzen Peloponnes zu hindern. Im Vorfeld des großen Zusammenstoßes konnte man keine schwächenden Nebenkriegsschauplätze brauchen; so schloss der athenische Stratege Kallisthenes Waffenstillstand mit Perdikkas, sobald er den König besiegt hatte. Er wurde in Athen niemals ratifiziert – das Volk war von Kallisthenes’ politischer Linie so wenig überzeugt, dass es ihn statt dessen hinrichtete.28
Athens größter Gefahrenmoment war bis dahin schon vorbei. Bei Mantineia in Arkadien prallten die Armeen 362 aufeinander. Epameinondas errang einen triumphalen Sieg, bezahlte ihn aber mit seinem Leben. Das thebanische Jahrzehnt hatte geendet; die Militärmacht des Boiotischen Bundes war auf dem Höhepunkt, doch die Ideengeber für ihren Einsatz fehlten. Athen profitierte von einer unverhofften Atempause und konnte seine Interessen auf See weiterverfolgen; irreparabel zerstört war die Position Spartas, das auch jetzt keinen Vorsprung mehr gegenüber seinen Nachbarn auf der Peloponnes erzielen konnte. Wie benommen schlossen die Widersacher Frieden, die Spartaner ausgenommen, die einen Kurs der Selbstisolation einschlugen.29
Philipp erlebte den Umschwung von Mantineia schon wieder in Makedonien – wann genau er heimgekehrt war, ist ungewiss. Berichte, die seinen königlichen Bruder als aufgeklärten Monarchen hinstellen und nur auf Philosophen hören lassen, sehen die Macht des Intellekts am Werk. Euphraios von Oreos, ein Platon-Schüler aus Euböa, soll Perdikkas den – in seiner Echtheit umstrittenen – 5. Brief des großen Philosophen überbracht haben, garniert mit dem Rat, Philipp ein Fürstentum innerhalb des Königreiches zu geben. Dies steht im ebenfalls suspekten Brief von Platons Neffen und Nachfolger Speusippos an Philipp selbst. Der Verdacht liegt leider nahe, hier sei in der Überlieferung ein Versuch unternommen worden, vor und neben Aristoteles gleich auch noch Platon, den Freund und Ratgeber sizilischer Machthaber, in möglichst enge Beziehungen zum ‚Musenhof‘ von Pella zu setzen.30
Wo Philipps ‚Lehen‘ gelegen haben soll, wissen wir nicht; sein Bruder kann ihn ebenso gut mit regionalen Aufgaben betraut wie am Hof gehalten haben. Der außenpolitisch experimentierfreudige Perdikkas hatte nicht unbedingt für Philosophen, jedenfalls aber für das verwertbare Wissen anderer griechischer Gäste Sinn und Verwendung. 361/60 profitierte er von einem Wetterumschlag in Athen: Kallistratos, in der seltenen Doppelrolle des Strategen und Versammlungsredners seit Jahrzehnten eine feste Größe der athenischen Politik, hatte sich als Feind des thebanischen Aufstiegs hervorgetan. Zu seinem Pech wog nach Mantineia die Zahl der Gefallenen schwerer als der Erfolg; nur die Flucht rettete Kallistratos vor der Hinrichtung. Perdikkas nahm den Verurteilten auf, der sich angeblich bedankte, indem er die makedonischen Zolleinnahmen auf das bescheidene Ausmaß von 40 Talenten verdoppelte. Die Beziehungen zwischen Pella und Athen waren ohnehin belastet; 361 bat das zwischen Makedonien und Chalkidiern eingezwängte Poteidaia um die Entsendung athenischer Kleruchen als Versicherungspolice gegen die übermächtigen Nachbarn. Das Königreich blieb vor allem dank der athenischen Expansion weiterhin vom Meer ausgesperrt.31
Perdikkas hatte sich beeilt, seiner persönlichen Macht eine Zukunftsperspektive zu geben. 362 wurde sein Sohn und Erbe Amyntas (IV.) geboren. Das stufte Philipps Position empfindlich herunter, doch damit hatte er rechnen müssen. Unbekannt ist, wie entspannt die Beziehungen zu Perdikkas waren, und in der Familiengeschichte gab es eine Tradition der Verratsfälle und Präventivmorde. Besonders drückend wäre auch ein Leben als Privatmann nicht geworden. Seine Kontakte und Kenntnisse aus Griechenland waren unschätzbar, als Berater des Königs wie zur persönlichen Bereicherung. Auch er profitierte, wenn es seinem Bruder gelang, die vielen dem Zugriff der Dynastie entglittenen Territorien wiederzugewinnen. Womöglich durfte er auf ein Gebiet als Unterkönig hoffen, mit einigem Freiraum in Herrschaft und Verwaltung. Besonders ermutigend waren die früheren Experimente mit diesem Modell aus der Sicht des Souveräns allerdings nicht. Auch fällt auf, dass Philipp anscheinend keine Ehe eingehen durfte; allzu konkurrenzfähig sollte er nicht werden.
Dass Perdikkas nicht vorhatte, seine Macht schmälern zu lassen, zeigte er bald, nachdem Kallistratos sich in Makedonien häuslich eingerichtet hatte. Bardylis, ein aufstrebender Illyrerfürst, gehörte zur Familie: seine Schwester war eine Frau Amyntas’ III. gewesen. Dieser ‚Onkel‘ nahm regelmäßig Zahlungen aus Epeiros wie aus makedonischen Gegenden ein, die je nach Sichtweise als Abwehrhilfe gegen noch entferntere Stämme oder als Tribute aufzufassen waren. Perdikkas beschloss, diesen Zustand zu beenden und den Geldfluss nach Möglichkeit umzukehren. 359, vielleicht schon Ende 360, bot der König seine Truppen auf und zog gegen Bardylis. Ob Philipp im Heer war, bleibt offen; diese Details verblassten angesichts des Ergebnisses. Nicht nur verlor Perdikkas III. die Schlacht in katastrophaler Deutlichkeit, er fand – mittendrin kämpfend, wie es für Makedonenkönige unumgänglich war – auch selbst den Tod. Über viertausend Mann sollen mit ihm gefallen sein; für die bescheidenen Verhältnisse des Landes ließ er sein enthauptetes Reich damit fast wehrlos zurück. Jeder, der wollte, hatte es in der Hand, das Ende herbeizuführen.32