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Erster Teil: Ein achtbarer Aufstieg Erstes Kapitel Am Rande der Barbarei

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Philipp übernahm euch als notleidende Nomaden, von denen die meisten – mit Fellen bekleidet – ein paar Schafe auf den Bergen weideten und zu deren Schutz glücklos gegen Illyrer und Triballer und die benachbarten Thraker kämpften; er aber gab euch Mäntel statt Fellen als Kleidung, führte euch aus den Bergen in die Ebenen … und machte euch zu Herren statt zu Sklaven und Hörigen …

Alexander der Große in Arrians Anabasis 7,9,2f.

Wer zur Zeit Philipps II. das dringende Bedürfnis hatte, die Könige der Makedonen verbal aus der griechischen Welt auszuklammern, hatte leichtes Spiel. Schon der erste Blick schien den Fall zu entscheiden. Aus der Sicht des durchschnittlichen Polisbürgers war die Vorstellung eines Monarchen zumindest exotisch – ob der Betrachter nun aus einer Bürgerschaft mit eher weitgespannter politischer Partizipation kam oder eine enger begrenzte Führungsschicht gewohnt war (die Begriffe „demokratisch“ und „oligarchisch“ waren weiter nicht fest definiert, selbst innerhalb derselben Bürgerschaft, und gaben viel Diskussionsstoff). Es lag nahe, das ganze Modell von Königsherrschaft als antiquiert, ja unmoralisch bis würdelos zu empfinden – mit Rückschlüssen auf diejenigen, die sich das gefallen ließen. Bis zu den Makedonen war sozusagen die Aufklärung nicht vorgedrungen. Die rustikalen Methoden, mit denen die Makedonen unter sich die Nachfolge klärten, kannte man aus Süd- und Mittelgriechenland ebenfalls nicht; anders als Bürgerkriege und Aufstände waren ‚Hofintrigen‘ Barbarensache, so wie Palasteunuchen, Konkubinen, Meuchelmorde und andere Pikanterien – der Stil irgendeines Thrakerfürsten oder gar des Erbfeindes und Königs schlechthin, des persischen Monarchen.

Noch ähnlicher war die makedonische Situation den Thrakern oder Skythen, betrachtete man die Geographie. Von den großen, starken Poleis der klassischen Zeit aus gesehen lagen sie an der Peripherie. Bei Homer kamen sie nicht vor – auch das keine Kleinigkeit, da seit Jahrhunderten mit dem Mythos und seinen Familienverhältnissen argumentiert wurde. Dafür führte einer der wichtigsten Handels- und Kommunikationswege, die Schiffahrtsroute ins Schwarze Meer und zum Nordwesten Kleinasiens, an Makedoniens Küste vorbei. Nur war ‚vorbei‘ hier im Wortsinn zu nehmen: Am Ägäisufer reihten sich autonome griechische Städte – Amphipolis, Methone, Pydna, die Städte auf der chalkidischen Halbinsel – und dominierten die Exportwirtschaft, als wären sie Kolonien im Barbarenland.1

Und Makedonien mit seinen wenigen jungen Städten, seinen Weiden und der wachsenden Bevölkerung hatte allerhand zu exportieren – darunter einen strategischen Rohstoff: Schiffbauholz. Das dichtbevölkerte klassische Griechenland war, wenn es um gerade, hochgewachsene Baumstämme ging, praktisch entwaldet. Besonders die Wirtschafts- und Seemacht Athen konnte auf den Nachschub an makedonischen Nadelhölzern so wenig verzichten wie auf das skythische Getreide, das durch Bosporus und Dardanellen nach Süden transportiert wurde. Und für die Athener war es ein Glücksfall, dort im Norden keine einheimische Flotte zu wissen, die ihre Lebensader abdrücken konnte. Es war Element ihrer Politik, es dabei zu lassen.2

„Dass diese von Perdikkas Abstammenden Griechen sind, wie sie selbst sagen, weiß ich persönlich zufällig ganz genau …“ erklärte Herodot mit Bestimmtheit. Es handelte sich eher um persönliches Überzeugtsein des Historikers von der Herkunftsgeschichte, die er vom makedonischen König Alexandros I. selbst hatte hören können. Die Anerkennung als Griechen garantierte der Ursprungsort Argos auf der Peloponnes, nach dem wir die Herrscherdynastie als Argeaden bezeichnen. Mehr noch: mit dem Anspruch, Nachkommen des Argiverkönigs Temenos zu sein, adelten sie sich zu Nachfahren des Herakles. Die Königsliste weist verdächtig lange Herrschaftszeiten und lauter bruchlose Machtübergänge vom Vater auf den Sohn auf – alles, damit das Etikett „Temeniden“ an den Argeaden haften blieb, ihre Vergangenheit nicht geschichtslos und ihre Hellenizität ebenso anerkannt war wie die ungebrochene Herrschaftstradition. Der Mythos erklärte, weswegen die Makedonen eher wie Illyrer oder Thraker lebten, ihre Könige aber dennoch Griechen waren, und warum es nur richtig wäre, ihre wohltätig zivilisatorische Macht bis ans Meer auszudehnen. Perdikkas I., „der Gründer der Linie“ laut Isokrates, „ließ das von Griechen bewohnte Land ganz in Ruhe, sondern setzte allen Ehrgeiz daran, das Königtum in Makedonien zu erreichen“; „er allein unter den Griechen maßte sich nicht an, über seinesgleichen zu herrschen“. Die gute Nachbarschaft als Gründungsidee dürfte auf die Argeaden des frühen 5. Jh. zurückgehen, vielleicht sogar die These ‚naturgegebener‘ Herrschaft von Griechen über (mutmaßliche) Barbaren, so gut sie dem gealterten Denker Isokrates, Zeitgenosse eines ganz anderen Makedonien, ins Konzept paßte.3

Auch Herodots großer Kritiker Thukydides übernahm die argeadische Geschichtsdeutung anstandslos. Dabei hatte gerade Herodot seinen Rivalen Hekataios von Milet durch den Mund ägyptischer Priester verspottet, als der Ionier auf kurzem Weg von den Göttern abzustammen prahlte. Die sechs Königsnamen vor den Perserkriegen reichen mit gutem Willen bis 650 hinauf, und auch das nur, falls Rivalen und Verdrängte entfallen sind; die Lücke in der mythischen Chronologie von rund 500 Jahren war damit so oder so nicht zu füllen. Schlimmstenfalls ist möglich, dass mehr als die bloßen Herrschernamen vor Alexandros’ Vater gar nicht mehr bekannt waren, schriftliche Aufzeichnungen noch nicht lange existierten und die Familie erst seit rund drei Generationen – grob gerechnet seit ungefähr 550 – Könige stellte.4

Was die Argeaden regierten, läßt sich mit einem modernen Begriff am ehesten als „Personenverbandsstaat“ bezeichnen. Einerseits beanspruchten sie die Herrschaft über „die Makedonen“, als echte oder fiktive Abstammungsgemeinschaft (ethnos), verbunden durch gemeinsame Sprache, Lebensweise und Mythologie – eine Verbundenheit, die für griechische Begriffe schütter ausgeprägt war und sich um das Königshaus und einen Zeuskult zentrierte. Ein klar umrissenes geographisches Territorium ‚Makedonien‘ gab es nicht; längst nicht alle Untertanen in den – stark fluktuierenden – räumlichen Grenzen der Königsmacht waren Makedonen. Feste Strukturen, die eine intensive Machtausübung erlaubt hätten, existierten ebenso wenig.5

Die politische Organisation bestand damit hauptsächlich in einer Vielzahl persönlicher Bindungen an den König und sein Haus: Verwandtschaften, Loyalitäten, ererbte und erzwungene Dienst- und Herrschaftsverhältnisse. Eine Schicht finanziell privilegierter, gut bewaffneter Personen stand über der Mehrheit kampf- und waffenfähiger Männer mit ihren Familien – also eine Art Adel. Unangenehm vage (und der Herrschaftssage widersprechend) gestaltete sich der Anspruch aufs Königtum überhaupt. Eine Erbfolge kraft Gesetz oder Tradition gab es nicht; zumindest in Krisenzeiten reichte immer wieder die genealogische Zugehörigkeit zum Familienkreis der letzten paar Herrscher, um Machtansprüche anzumelden und oft auch durchzusetzen. Die Instanz, die sie anerkannte, war die Heeresversammlung, die waffentragenden Makedonen.

Mit der Anerkennung eines Königs begann dessen eigentlicher Machterwerb aber erst. Wie stark er war, entschieden Macht und Zahl seiner Unterstützer; wo er wie intensiv herrschte, ergab sich aus der Kombination seiner militärischen, persönlichen und ökonomischen Möglichkeiten. Die Zugehörigkeit bestimmter Gegenden zum ‚Reich‘ hing nicht an ‚der Krone‘, sondern bestätigte sich für den überzeugenden König X, nicht aber für den schwächeren König Y. Er hielt oder verlor sie dank seiner Kontakte zur regionalen Führungsschicht, ‚zahlte‘ durch die Mehrung des Prestiges seiner Bezugspartner ebenso wie durch materielle Vorteile, etwa Land- und Rechtevergaben. Ein privilegiertes Mittel war die Heiratsallianz – und das erklärt, weswegen die Argeaden, vielleicht auch die führenden Adelshäuser eine in Griechenland unerhörte Familienform pflegten. Die Könige gingen regelmäßig mehrere gleichberechtigte Ehen nebeneinander ein, ohne Unterschied zwischen Haupt- und Nebenfrauen, thronfähigen und sonstigen Nachkommen. So ließen sich mehrere Machtgruppen zugleich – oder Gebiete an der Peripherie des Königtums – eng binden. Diese Heiratspraxis brachte im selben Zug jedoch eine Fülle königlicher Halbgeschwister, Cousins und Cousinen hervor, dazu Serien von Schwägern und Schwiegervätern mit eigenen Machtinteressen. Drei, vier Generationen Ehebündnisse mit Territorialfürsten und Nachbarstämmen – Thrakern, Illyrern, Dardanern – sorgten für eine riesige Streuung der potentiellen Thronfähigkeit.6

Die Ansammlung prinzipiell gleichgestellter Königsfrauen verhinderte, dass es so etwas wie eine Königin mit festen Funktionen geben konnte, und schürte die Rivalität um den faktischen Vorrang. Territorien permanent gewinnen, indem er Erbansprüche in der weiblichen Linie erwarb, konnte ein Argeade offenbar ebenfalls nicht. Was er dafür in der Hand hatte, waren lebende Unterpfänder der Freundschaft oder, je nachdem, des Gehorsams. Weil die Frauen am ‚Hof‘ in Aigai nicht einfach Vehikel dynastischer Ansprüche waren, wirkten sie als eine Art Botschafterinnen ihrer Heimatregionen und -familien. Interessant ist, wie regelmäßig seit der Generation vor Philipp die Namen der Königsgattinnen bei der Heirat geändert wurden – teils vielleicht, um sie weniger ‚barbarisch‘ wirken zu lassen, vor allem aber als Verweis auf die Kontinuität der Herrscherfamilie und der sie stützenden Mythologie. Die verschiedenen Eurydikes etwa sind ein Vorgeschmack auf die Scharen von Antigones, Laodikes, Kleopatras, Arsinoës und Berenikes, die in den hellenistischen Herrscherhäusern folgen sollten.

All diese Umstände mussten das Königtum in den Augen eines Polisgriechen romantisch bis barbarisch erscheinen lassen. Imposant war es nicht. Eine nicht besonders zahlreiche Gefolgschaft aus Vornehmen diente (das kannte man von daheim) im Krieg als Kavallerie; Makedonien hatte sogar den Ruf, sehr tüchtige Reiter hervorzubringen. Die Heeresversammlung umfasste eine beachtliche Menschenmenge – nach Abzug der finanziellen Grenzen, der Erfordernisse von Landwirtschaft und Handwerk war das militärische Nettoergebnis kümmerlich und unprofessionell. Wenige Makedonen zu Fuß hätten über Schild und Speer hinaus das Geld für die teure Vollrüstung eines Hopliten gehabt, mit Helm, Panzer und Schwert. Das nötige Training, um dicht geschlossen auf der Höhe der Zeit in der Phalanxtaktik zu kämpfen, hatten sie schon gar nicht. Bereits das zog der Königsmacht enge Grenzen, wo es gegen technisch überlegene Gegner ging – sprich, gegen jede griechische Ansiedlung ringsum. Das Meiden bestimmter Unglückszeiten dagegen ähnelte den Bräuchen im Süden: die Könige schlugen keine Schlachten im Frühlingsmonat Daisios.7

Wer König war, setzte sich durch dank einer Kombination aus genealogischer und persönlicher Nähe zum Vorgänger, Rückhalt in der Führungsschicht sowie dem richtigen Auftreten. Gefordert war eine derbe, gesellige Sorte Monarch, die handgreiflich Stärke zeigte: schlagkräftig und einschüchternd kampffreudig, trinkfest, sexuell potent und spendabel. Menschenkenntnis und diplomatische Fähigkeiten hatte der König ebenfalls nur zu nötig. Die erwartete Großzügigkeit setzte ihn unter ständigen Druck. Wenn er seinen Landbesitz nicht nach und nach an die Krieger verschenken wollte, musste er geldwerte Geschenke oder Funktionen austeilen. Bargeld war knapp – die Steuern fielen hauptsächlich in Naturalien oder als Leistungen an. Es gab kaum Städte im Königsbesitz, also fehlten ein spezialisiertes Handwerk, Schlüsseltechnologien, eine ‚Bildungsschicht‘. Städte säumten die Küstenzone, doch sie waren entweder unabhängig oder standen unter dem Schutz der großen Poleis Griechenlands. Aus makedonischer Sicht waren sie Tore in einer Sperrmauer, die Königreich und Fernhandelswege trennte. In ihnen blieb ein Großteil der Profite hängen, die das Binnenland überhaupt erzielen konnte. Umgekehrt waren Prestige- und Importgüter ohne Vermittlung der städtischen Häfen und Kaufleute kaum zu haben. Die leichten, nicht immer sehr silberhaltigen Münzen, die im Alltagsgebrauch umliefen, waren verglichen mit anderen so kümmerlich, dass die Könige des frühen 5. Jahrhunderts eigens schwerere Prägungen auflegten, die ein auswärtiger Händler zu akzeptieren bereit war.8

Importiert werden mussten Rüstungen und hochwertige Waffen ebenso wie der Bedarf der Oberschichten: Tafelgeschirr, kostbare Textilien und sonstige Luxusgegenstände. Der vornehme Makedone stand im Wettbewerb zu seinesgleichen, hatte aber ebenso wie der Skythe oder Thraker von Welt eine gute Vorstellung, was zu einem mit der sonstigen Mittelmeerkultur konkurrenzfähigen Haushalt gehörte. Sein Land schnitt ihn von der Welt nicht ab, erschwerte aber den Zugang beachtlich. Dadurch wiederum sanken die Handelsmöglichkeiten der Lokaladligen – alle außer den mächtigsten hingen für ihren Lebensstil in weiten Teilen von königlichen Zuwendungen und Kontakten ab, wie es typisch für ‚barbarische‘ Völker war. Der König aber konnte seinen Schatz seinerseits fast nur durch – benachteiligten – Handel oder durch Beute auffüllen. Genau deswegen waren die Makedonen – ebenso wie die illyrischen oder thrakischen Herrschaftsgebilde ringsum – regelmäßig mit Kriegszügen oder der Durchsetzung von Tributforderungen an die Nachbarn beschäftigt. Der klassische innergriechische Konflikt zwischen zwei Territorien um Fruchtland und strategische Positionen spielte hier keine Rolle; sowohl an Land als auch an Menschen hatten die Argeaden mehr, als sie brauchen konnten.

Die Geographie stellte sich dem Handel und Verkehr spürbar, dem Zugriff einer Zentralgewalt ganz entschieden entgegen. Schiffbare Wasserwege gab es reichlicher als im Süden – aber häufig waren ihre Täler und Zuflüsse von Bergzügen dermaßen eingezwängt, dass sie zu eigenen Landschaften wurden. Das Wegenetz war für lokale Bedürfnisse und Raubzüge der Nachbarn hinreichend, mehr aber auch nicht. So ergaben sich unbequem viele Regionen, „die den Makedonen verbündet und untertänig sind, aber selbst Königtümer haben.“ Jede davon war für griechische Verhältnisse sehr weitläufig, doch unproduktiv, fernab vom Geschehen der Küstenebene und gegen die Einheimischen schwer zu gewinnen, noch schwerer zu behaupten. König in ‚ganz Makedonien‘ zu sein war anstrengend.9

Die Zentrallandschaft in klassischer Zeit, Niedermakedonien, war im wesentlichen der Küstensaum rund um den Thermaischen Golf mit dem fruchtbaren Schwemmland des Axios, des Haliakmon und weiterer Flüsse. Leider hatte Makedoniens ‚Tor zur Welt‘ keine wirklich guten Häfen zu bieten, so verletzlich es für Piraten oder Invasionen war – und oft genug reichte die Königsmacht nicht über den Lauf des Axios hinaus. Aigai und das wichtige Beroia am Rand des Hochlandes im Westen waren sozusagen das makedonische Memphis – sie hatten die Aufgabe, Binnenregionen und Tiefebene zu verklammern –, aber leider ein Memphis ohne Nil: der Kontakt zum Meer war von hier aus mühsam. Nach Süden versperrte das Gebirgsmassiv des Olymp den direkten Landweg nach Griechenland; sein Nordausläufer trennte die Küstengegend östlich des Haliakmon ab, die Pferde- und Viehzuchtregion Pierien mit den – unabhängigen – Städten Pydna und Methone. Es blieb eine schmale Uferpassage ins östliche Thessalien, die einzige Alternative zu den Bergpässen. Jenseits des Axios lag Mygdonien, eine hügelige Landbrücke zum Thrakergebiet im Osten, zugleich die Grenzregion zur chalkidischen Halbinsel südlich davon. Die dreifingrige Halbinsel Chalkidike mit ihren wohlhabenden, wehrhaften Poleis schob sich zwischen Makedonien und das Meer. In Mygdonien selbst siedelten bis ins frühe 5. Jahrhundert die Edonen, ein Vorposten der stärkeren ‚eigentlichen‘ Thraker östlich des Nestos. Auch als Alexandros I. sie bis hinter den Strymon verdrängte, wurde der Landweg bis zu den großen Meerengen nicht viel sicherer. Am Oberlauf des Axios wohnten die kampfstarken Paionen, die aus ihrem labilen Tributverhältnis öfter ausbrachen; obendrein konnten die Illyrer den Fluss entlang einfallen. So herrschte an Bedrohungen aus dem Osten kein Mangel.

Wohl erst nach 480 rückte Obermakedonien, wo die Dynastiesage den Ursprung der Herrschaft ansiedelte, in den Blick der Argeaden und in den Bereich ihrer Möglichkeiten: Die gebirgige Elimiotis mit ihrer Hauptstadt Aiane, westlich vom Massiv des Olymps am mittleren Haliakmon gelegen, bot Übergänge in den Nordwesten Thessaliens – eine weitere Brücke in die griechische Welt, die den Ansässigen viel Unabhängigkeitsstreben verlieh. Noch weiter den Haliakmon hinauf lag die Orestis, fast genau westlich von Aigai. Zwischen beide schob sich die von Gebirgsketten umschlossene Eordaia. Weiter nördlich, den illyrischen Stämmen im Nordwesten gefährlich nah, entwickelte die Lynkestis ein starkes Eigenleben und bot einen mühseligen Weg zur Adria. Kleinere und kleinste Regionen ergänzten das Bild. Sie zusammenzuhalten und, schwerer noch, zu schützen hatte mit den politischen Spielregeln der dichtgedrängten Staatenwelt im Süden wenig zu tun.10

Die jüngste große Erschütterung vor Philipps Geburt hatte den Norden Griechenlands und die Nachbarregionen nur gestreift. Der Peloponnesische Krieg war hier nur eine Erweiterung der gewohnten Rivalitäten und Gefahren. Im Empfinden der Hauptbeteiligten dagegen hatte er Züge eines gesamtgriechischen Bürgerkriegs, nicht zuletzt deshalb, weil Athener und Lakedaimonier in nie gekannter Systematik die Differenzen zwischen und innerhalb Dutzender Städte und Poleis in die Sprache ihres Gegensatzes ‚übersetzt‘ hatten.

Dabei unterlief allen Beteiligten ein leicht begreiflicher Irrtum. Zu Kriegsbeginn schien es in gewohnter Weise und mit gewohnten Mitteln um ein altvertrautes Ziel zu gehen: die gewaltsame Feststellung, wer die Vormacht auf der hellenischen Landkarte war. Der Begriff der Hegemonie einer Polis – möglichst der eigenen – war im Denken so fest verwurzelt wie das Bedürfnis, sich anderen nicht zu fügen (die Bedeutungsvielfalt von „Freiheit“, eleutheria, reichte von diesem schlichten politischen Ziel bis zum Grundwert eines würdigen Menschenlebens schlechthin).

Nicht Athen führte und verlor jedoch den Peloponnesischen Krieg, sondern der Attisch-Delische Seebund mit all seinen Mitgliedern auf den Inseln und entlang der Küsten; ebenso kämpfte und siegte keineswegs die Landmacht Sparta, sondern der Peloponnesische Bund, dessen Bestandteile, voran Korinth, zum Losbrechen des Gewitters beigetragen hatten. Die beiden Rivalen waren und blieben mal Herren, mal Gefangene ihrer Bündnisse. Gleich nach dem Kriegsende 403 sah sich Athen umgehend von allen verlassen, die seine Niederlage nicht zu teilen wünschten, während Sparta mit einer gewissen Ratlosigkeit vor dem allgemeinen Bedürfnis stand, die Bäume des Siegers nicht in den Himmel wachsen zu lassen. Mochte die Hegemonie auch wie eine natürliche Ordnungsweise der griechischen politischen Landschaft behandelt werden, die Hegemone wurden es nicht.

Wieviel der Krieg für das Aufkommen der Sehnsucht nach einer friedlicheren Zukunft getan hatte, ist diskutabel. Beide Seiten waren mit einer vorher selten erlebten Härte gegen Widerstand vorgegangen und hatten bis hin zur Zerstörung, Versklavung und Vertreibung ganzer Poleis alle Mittel ausgeschöpft. Spätestens ihr koloniales Abenteuer auf Sizilien zeigte den Athenern in aller Grausamkeit die Grenzen des technisch Möglichen und moralisch Akzeptierten auf.11

Ob solche Mittel – oder auch nur die Stärke der Bündnisse – sich wirklich auszahlten, war schon damals fraglich. Die spartanische Flotte, die Athens Schiffe am Ende überrumpelt hatte, war mit persischem Gold gebaut worden; der Krieg selbst hätte schneller enden können, hätte es nicht im persischen Interesse gelegen, die Abnutzung beider Seiten zu fördern. So spielte das ‚Reich des Bösen‘ im Osten eine wirksame, destruktive Rolle im innergriechischen Machtkampf, ohne ein weiteres Mal seine Truppen zur Invasion sammeln zu müssen.

Bei dieser Demütigung blieb es nicht. Wer die Lektion der drei mörderischen Jahrzehnte bis 403 nicht verstanden hatte, bekam 395 Gelegenheit, sie zu wiederholen. Wieder stand das geschwächte Athen gegen Sparta, nur hatte der Hegemon nun auch seine mächtigsten Alliierten von gestern gegen sich – Argos, Korinth und Theben. Der Korinthische Krieg zog sich acht Jahre hin, ohne mit innergriechischen Mitteln beendbar zu sein. Parallel aber kämpfte Sparta gegen das Achaimenidenreich, dem es den vereinbarten Preis für die Unterstützung gegen Athen, die Auslieferung der griechischen Küstenstädte Kleinasiens verweigert hatte, die quer durch die griechische Welt als Beweis der Überlegenheit über die Barbaren galten. Mit anhaltendem Misserfolg revidierte Sparta seine Meinung und unterschrieb erneut die Forderungen des Großkönigs; so wechselte Persien die Seiten. Noch einmal wurde Athen zum Frieden gezwungen, doch jetzt diktierte ihn ‚der Meder‘ und persische Blockadeschiffe lagen neben spartanischen. Der Königsfriede von 387 vereinnahmte die Griechenstädte östlich des Bosporus und garantierte allen übrigen die Autonomie, mit Kriegsdrohungen gegen jeden, der weiter unter Waffen stand. Man ließ es darauf nicht ankommen.12

Die Demütigung war empfindlich, die Schwächung der Beteiligten auch. Sparta hatte die Auflösung der gegen es wirksamen Bündnisse erzwungen, aber Bündnisse ließen sich erneuern; der Raubbau an Schlagkraft und Demographie der spartanischen Gesellschaft dagegen war nachhaltig. Die Parolen der Freiheit und Autonomie, mit denen man schon gegen den Attischen Seebund Alliierte geworben hatte, verfingen nach dem Ausverkauf der Küstengriechen an die Fremdherrschaft nicht mehr. Der ausgerufene „allgemeine Friede“ (koinē eirēnē) mochte in der seit 479 immer wieder befürchteten persischen Intervention oder Unterwerfung enden. Man musste – und sollte wohl besser – dem übermächtigen Großkönig dankbar sein.13

Andererseits – waren die Perser so stark? Die Anzeichen waren widersprüchlich. Für das Vertiefen der Misere Griechenlands hatten Militär- und Finanzkraft der Achaimeniden spielend gereicht. Doch zugleich konnten die Satrapen der Randprovinzen scheinbar machen, was sie wollten – wenn der Statthalter in Sardeis oder im phrygischen Daskyleion private Außenpolitik trieb oder einen Feldzug gegen seine Kollegen führte, kam er damit oft durch. Mehr noch beschäftigte die Phantasien der ‚freien‘ Griechen der „Zug der Zehntausend“, der dank Xenophons klarem Stil die Erstlektüre und der Schrecken des Griechischunterrichts geblieben ist. Der Vizekönig Kleinasiens, Kyros der Jüngere, hatte für einen Aufstand gegen seinen Bruder, den Großkönig Artaxerxes II., ein großes Kontingent griechischer Söldner angeheuert; Kyros fiel in der Entscheidungsschlacht bei Kunaxa 401, den überlebenden Griechen jedoch gelang es, sich durch feindliches Gebiet von Mesopotamien bis zur Schwarzmeerküste zurückzuziehen. Die abenteuerliche Operation gab dem alten Glauben Auftrieb, Barbaren könnten nur gewinnen, wenn sie auf kampfstarke Griechen zählen konnten – und stützte sich nicht auch die fatale Wirtschaftsmacht der Perser auf zahllose griechische Untertanen? Wenn ja, war es mit der von Artaxerxes – dem um ein Haar Gestürzten – ausgehenden Drohung nicht weit her. Im Gegenteil, man durfte dann von der Rache für alte und neue Gewaltakte träumen und hoffen, „den Wohlstand aus Asien nach Europa zu verpflanzen.“14

Makedoniens Rolle in den Auseinandersetzungen der vorausgegangenen Jahrzehnte war bemerkenswert wechselhaft gewesen und hatte den Argeaden überhaupt erst die Aufmerksamkeit des übrigen Griechenland verschafft. Amyntas I. (ca. 540? – 495), der sechste überlieferte König, hielt Kontakt mit Athens Tyrannendynastie der Peisistratiden und bot ihrem 510 verjagten Mitglied Hippias einen Zufluchtsort an. Er sah sich 490 erstmals mit persischen Unterwerfungsforderungen konfrontiert und fügte sich prompt; eine starke persische Armee stand drohend an seinen Grenzen und verschleppte Teile des renitenten Stammes der Paionen. Die rituelle Übergabe von Erde und Wasser lohnte sich; Gygaia, seine Tochter, wurde mit einem Verwandten des Großkönigs Dareios verlobt, Amyntas selbst rückte in eine satrapenartige Stellung „über das ganze Gebiet zwischen Olymp und Haimos“ auf. 480 befand sich sein Sohn Alexandros I. (498 – nach 460) genau auf dem Anmarschweg des großköniglichen Heeres. Dem griechischen Bündnis beizutreten lag ihm fern, schon weil er dann als erster gestorben wäre; niemand konnte die Freiheit Griechenlands am Axios verteidigen, als die Armee des Xerxes in Thessalien überwinterte und – von der Niederlage bei Salamis ungebrochen – zur Jahreswende 480/79 monatelang auf der Halbinsel Chalkidike Städte belagerte. Folgerichtig hielt sich Makedonien – obwohl Alexandros mit Athen in Proxenie, einer offiziellen Gastfreundschaft auf Gegenseitigkeit, stand – fest auf persischer Seite und stellte Truppen, die unter anderem als Garnisonen im propersischen Boiotien dienten und in der Entscheidungsschlacht bei Plataiai den Athenern gegenüberstanden. Alexandros trat sogar als Gesandter des Großkönigs auf, um Athen zur späten Einsicht zu bewegen.15

Bemerkenswerterweise nahmen die Sieger ihm diese Rolle nicht übel – im Unterschied zum Strafgericht über persische Verbündete wie Theben. Ganz im Gegenteil mutierte Makedonien zum ersten europäischen Opfer des Perserreiches. Herodot beteuert, der König habe als eine Art Doppelagent fungiert und entscheidende Hinweise auf die persischen Kriegspläne gegeben, die zum Landsieg von Plataiai 479 beitrugen. Man kann sich fragen, woher Athen das Bauholz für sein ehrgeiziges Flottenprogramm der vorausgehenden Jahre genommen hatte – fest steht, dass Makedonien schnell und konsequent die Seiten wechselte, sobald Xerxes gescheitert war. Alexandros’ Auftritte als Olympiateilnehmer und Kunstförderer – oder sein Setzen einer Goldstatue in Delphi – drückten das geschärfte hellenische Profil bestens aus. Die großen Landgewinne aus seiner perserfreundlichen Zeit behielt er natürlich. Ein Silberberg am Prasias-See, der damaligen Landesgrenze, soll Alexandros täglich ein Talent dieses Metalls eingebracht haben, also genug für 6000 Silberdrachmen nach athenischem Maß. Gleichwohl nahm der frischgebackene Perserhasser Alexandros sich die Freiheit, Themistokles um 471 bei der Flucht zum Großkönig zu helfen. Auch sonst verschwanden mit dem Wechsel der Blickrichtung nicht einfach die persischen Einflüsse: die erstaunlichen Handlungsspielräume der makedonischen Königsfrauen, wie wir sie seit Philipps Mutter erleben, erinnern durchaus an den Achaimenidenhof in Persepolis.16

Die Unbedenklichkeitserklärung in Perserfragen bedeutete keineswegs, dass die starken Poleis des Südens Alexandros wie ihresgleichen behandelten. 465 eroberte Kimon für Athen sowohl die Insel Thasos als auch deren Festlandsbesitz. „Von dort, dachte man, hatte er die Möglichkeit, leicht in Makedonien einzufallen und viel davon loszureißen, doch er wollte nicht und wurde daraufhin angeklagt, durch Geschenke von König Alexandros dazu bewegt worden zu sein …“ 463, als Kimon ein Prozessopfer seiner politischen Widersacher wurde, war die Logik, Athens Interessen bei der erstbesten Gelegenheit rücksichtslos durchzusetzen, so offensichtlich, dass sie gar nicht verhandelt wurde. Mit dieser Einstellung musste jeder Makedonenkönig rechnen.17

Nicht ganz geklärt ist, unter welchen Umständen Alexandros’ Sohn und Nachfolger Perdikkas II. (ca. 450–413) seine Macht festigte. Zwei ältere Brüder wurden mit Teil- und Unterherrschaften abgefunden, zwei noch jüngere gingen leer aus. Philippos, einer der Abgespeisten, ließ sich das nicht lange gefallen. Vereint mit den Lokalfürsten der Elimiotis, seinem Rückzugsort, schloß er sich 433/32 einer Athener Strafexpedition an, nachdem Perdikkas das gleichzeitige Losbrechen der Chalkidier, der korinthischen Gründung Poteidaia und des Küstenstrichs Bottiaia aus dem Attischen Seebund mit eingefädelt hatte. Weder wurde Philippos dadurch König noch konnte Perdikkas seinen Machtbereich erweitern. Makedonien sah sich noch während der athenischen Belagerung von Poteidaia in eine komplizierte Schaukelpolitik aus Vertragsschlüssen und -brüchen getrieben, weil es in einer Zwickmühle steckte – zwischen dem starken Chalkidischen Bund einerseits, den athenischen Besitzungen und Gebietsansprüchen andererseits, bedroht von benachbarten Thrakerfürsten (die von den Kriegsparteien rege umworben wurden), den Illyrerstämmen und den widerspenstigen Fürsten der Lynkestis, die 423 einen Unterwerfungsversuch zum Desaster für Perdikkas machten. Sooft ein athenisches Heer oder dessen thrakische Verbündete vor der Tür standen, hielt Perdikkas zu Athen, das Erscheinen spartanischer Kontingente hatte notgedrungen die gegenteilige Wirkung. So oder so: Athen brauchte makedonisches Holz und Pech für seine Seemacht, und wenn Perdikkas nicht lieferte, holte man es sich mit Gewalt. Der reiche Thrakerkönig Sitalkes verwüstete 429/28 das Land des vom Wechselfieber geschüttelten Herrschers und drohte mit der Einsetzung von Philippos oder dessen Sohn Amyntas. Plündernde Exilmakedonen verlängerten die Problemliste.18

Mit Perdikkas’ Tod und dem Herrschaftsantritt Archelaos’ I. (413–399) änderte sich dieses Muster abrupt. Archelaos setzte auf die athenische Karte – und das demonstrativ nach der Katastrophe in Sizilien, als die Demokratie kaum noch Schiffe auf dem Wasser hatte. Zwanzig Kriegsschiffe „aus Makedonien“ – athenische, die dort sichere Häfen gefunden hatten – verstärkten 411 die Flotte am Hellespont. Athen revanchierte sich 410 mit entscheidender Waffenhilfe gegen das rebellische Pydna; den angeblichen Mord am in Athen lebenden Onkel Philippos nahm man nicht schwer. Archelaos war laut Thukydides ein Planer und Systematiker; er dachte geographisch und in Begriffen der Infrastruktur. Neue Straßen entstanden, die das eigensinnige Obermakedonien enger mit dem Kernbereich der Argeadenherrschaft verbanden. Gleichzeitig entschied sich der König, Aigai als Hauptstadt aufzugeben – religiöses Zentrum und die Grablege der Dynastie blieb es weiterhin – und mit Pella einen wenn auch noch so schlechten Hafenort zu beziehen.19

Von Pella aus ergab sich weitaus engerer Kontakt zur griechischen Kultur. Spektakulär war der Entschluss, den neuen Königspalast von Zeuxis ausmalen zu lassen und Euripides nebst einer Handvoll kleinerer Lichter der Kulturszene nach Makedonien zu ziehen. Ihr Dank war unter anderem die Verfeinerung und Verlängerung des Gründungsmythos: Ein neuer, noch älterer Temenide namens Karanos habe eine ganze Menge Griechen ins Barbarenland geführt, das also nicht länger barbarisch heißen konnte. Die unangenehm kurze Genealogie war damit glaubhafter geworden. Dion in Pierien mit seinem Heiligtum des Zeus und der Musen wurde nun in eine Art makedonisches Olympia samt Zeustempel und regional wichtigen Spielen verwandelt, die zahlreiche Athleten aus dem Süden anlockten. Umgekehrt glänzte Archelaos 408 selbst als Olympionike im Wagenrennen, hatte sich also – wie die Potentaten Siziliens und Nordafrikas vor ihm – einen teuren, prestigeträchtigen Rennstall zugelegt.20

400 oder 399 wurde Archelaos während einer Jagd getötet; über Nacht stürzte das Königreich in Krisen und mörderische Thronwirren. Orestes, der nominelle Erbe, führte bis 396 ein Schattenkönigtum unter Anleitung des Aëropos, eines engen Verwandten. Am Ende beseitigte Aëropos seinen Schützling vielleicht einfach; jedenfalls regierte er bis etwa 394/93 – nach einer Theorie später unter dem ehrgeizigen Namen Amyntas II., doch üblicherweise wird in diesem „kleinen Amyntas“ sein kurzlebiger Nachfolger gesehen. Die Kampfhandlungen des Korinthischen Krieges griffen bis ins Vorfeld Makedoniens aus. Erst zog im Sommer 394 der Spartanerkönig Agesilaos II. aus Kleinasien nach Süden durch, ohne sich von Aëropos aufhalten zu lassen, später operierte Iphikrates, athenischer Feldherr und ideenreicher Stratege, in Thrakien. Seine Stärke lag nicht zuletzt in einer Neuinterpretation der traditionellen Kriegführung: Iphikrates’ Hopliten waren nicht so schwer gerüstet wie die bisheriger Armeen, dafür aber deutlich mobiler – seit etwa 400 erprobte er die Wirkung leichterer Schilde in Kombination mit Speeren der anderthalbfachen Normallänge. Umgekehrt hatten die Leichtbewaffneten, die Peltasten, eine ungewohnt robuste Ausstattung, wodurch sie unter günstigen Umständen auch schwerer Infanterie gefährlich werden konnten. Die Folgen waren überzeugend: die ‚leichten‘ Schwerbewaffneten waren beweglicher, ausdauernder und hielten gerade unter den Bedingungen des Söldnerkriegs gegen Nichtgriechen gut mit. Eine reguläre Feldschlacht gegen gepanzerte, gut geführte Hopliten wäre eine kitzligere Sache geworden, hätte man denken können … nur hatte Iphikrates mit seinen Peltasten etwa 390 bei Lechaion einen Erfolg erzielt, der seit Jahrzehnten die spektakulärste Niederlage der schier unbesiegbaren Spartaner war.21


Athen mit seinem Kriegs- und Handelshafen Piräus, verbunden durch die Langen Mauern. Auch nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg blieb es die größte See- und Wirtschaftsmacht im Konzert der griechischen Poleis, allerdings mit deutlich bescheideneren Möglichkeiten.

Auf Aëropos folgte sein Sohn Pausanias – aber eben nicht sofort. Den Vater beseitigte Amyntas, vermutlich ein Sohn des Menelaos; anscheinend hatte sich Aëropos tödlich verkalkuliert, was die Kooperationsbereitschaft dieses Zweigs der Argeaden anging. Ein falsches Wort an den jungen obermakedonischen Fürsten Derdas II. von Elimiotis beendete bald darauf auch die kurze Herrschaft des zweiten Amyntas. Pausanias, der sich nun durchsetzte, lebte nicht viel länger; übrigens besagt sein Name so sehr wie der des Menelaos, welcher Polis das Königshaus bei ihrer Geburt wohl gern schmeicheln wollte.22

Unter etwas nebulösen Umständen gelangte nun der als Amyntas III. gezählte König auf den Thron, Sohn des Arrhidaios und Enkel eines weiteren Amyntas, eines der leer ausgegangenen Söhne Alexandros’ I. Nichts deutete an, daß es sich um mehr als einen weiteren Eintagskönig handeln könnte. Im Gegenteil, das Abbröckeln des Argeadenreiches beschleunigte sich. Fast sofort überrannten die Illyrer das Territorium, in ihrem Gefolge einen neuen Prätendenten – Argaios, vielleicht ein Sohn des Archelaos. Zwei Jahre lang lebte Amyntas seinerseits im Exil, ehe ihm mit Hilfe der Aleuaden aus Larissa in Thessalien die Rückeroberung des westlichen Reichsteils gelang, während der Chalkidische Bund den Osten gegen die Illyrer gehalten hatte – und jetzt nicht herausgab. Auch die Hauptstadt Pella war verloren. Argaios (II.) kam obendrein mit dem Leben davon und blieb eine ständige Bedrohung. Isokrates im – relativ – fernen Athen machte um 366 eine Helden- und Mutmachgeschichte daraus: der seines Reichs beraubte Amyntas „eroberte einen winzigen Vorposten, holte von da aus Verstärkungen zusammen, brachte binnen drei Monaten ganz Makedonien in seine Hand, war König sein restliches Leben lang und starb an Altersschwäche.“23

Sowohl die Macht als auch das Prestige des Amyntas waren anfangs so labil wie nur möglich. Die königlichen Silbermünzen, auf denen der Kopf des Herakles prangte, enthielten – wie schon unter Pausanias – ein unedles Innenleben aus allem, was sich nur einschmelzen ließ. Keine zehn Jahre nach dem Tod des Archelaos schien die Argeadenherrschaft kaum Zukunft zu haben. Die Ehe mit Eurydike, Tochter des Sirr(h)as aus dem lynkestischen Königshaus, sollte Legitimation und dynastisches Kapital bringen, schuf aber Gegenteil zusätzlich böses Blut sorgen, indem sie die Bedeutung von Gygaia, Mutter dreier Söhne, schmälerte. Auch ein Defensivbündnis mit den Chalkidiern unter Olynths Führung kam Makedonien teuer zu stehen; es schloss nachteilige Handelsbedingungen ein, die den asymmetrischen Zuschnitt des Vertrags überdeutlich machten.24

Der bedingt souveräne König tat, was er tun konnte, für eine hoffentlich erwartbare Zukunft seines Hauses und Herrschaftsgebietes. Zumindest an Söhnen hatte er mehr, als ihm lieb sein konnte. Von Gygaia stammten Arrhidaios, Archelaos und Menelaos (mit einem homerischen Namen, der auf einen weiteren Bruder Perdikkas’ II. verwies). Eine einzige Tochter, Eurynoë, ist aus dieser Verbindung überliefert – weniger, als sich für dringend benötigte Bündnisse mit Stammesführern der Nachbarschaft (oder den eigenen Adelsfamilien) empfohlen hätte. Für die Söhne aus der neuen Ehe griff Amyntas tiefer in die Familienhistorie zurück. Alexandros, der älteste, trug den Königsnamen des Urgroßvaters, Perdikkas, der Zweitgeborene, den von dessen Nachfolger. Um 382 erblickte ein dritter Sohn Eurydikes das Licht der Welt. Für ihn blieb der Name des von Perdikkas verdrängten Bruders und Rivalen: Philippos. Mehr als eine zusätzliche Komplikation der Erbfolge konnte der Vater offenkundig nicht in diesem Zuwachs erkennen – als wäre das Leben für Amyntas III., Herrscher des „schäbigen und unbedeutenden“ Makedonien, nicht kompliziert genug gewesen.25

Philipp II. von Makedonien

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