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Einleitung

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Jeder Altertumswissenschaftler wusste, dass Aigai, Aigeai oder Edessa, die makedonische Königsstadt, verschollen war; jeder wusste auch, dass es nicht mit der modernen Stadt Vergina identisch sein konnte, wo seit 1861 französische Grabungen in einer mutmaßlich hellenistischen Stadtanlage mit einem Palast liefen: Wenn überhaupt, musste man sich an jenes Edessa halten, das woanders lag und bekannt war.1

Manolis Andronikos wusste es nicht – oder meinte es besser zu wissen. Andronikos, lange Jahre mit der Grabung in Vergina verbunden, jetzt Professor für Archäologie an der Universität Thessaloniki, vermutete mehr hinter dem nahen Fundort mit seinem ausgedehnten Feld aus Grabhügeln, ermutigt durch akademische Zweifel, ob die Städte wirklich richtig identifiziert waren. Ein Erdhügel stach unter den Hunderten kleinerer durch sein Volumen hervor; schon seit 1861 war in ihm ein repräsentatives, aber geplündertes Grab bekannt. Die Verlockung, hier Königsgräber zu suchen und damit die Identität von Vergina mit Aigai zu beweisen, war groß.

Von 1952 an begann Andronikos darin zu graben, mit Unterbrechungen wurde der „Große Tumulus“ im Lauf der Jahrzehnte Stück für Stück eliminiert und in eine große Suchzone verwandelt. Nach und nach fand man gleich vier Grabanlagen in ihn eingelassen; nur eine davon erwies sich als geplündert. Das inzwischen kanonische Datum für die bei weitem spannendste Entdeckung, der 8. November 1977, brachte die Öffnung des unversehrten Grabes II. Andronikos selbst hat sie in einer Form beschrieben, deren Bewegtheit bis in die Vokabeln mal an Heinrich Schliemanns Fundbericht über den „Schatz des Priamos“ am 31. Mai 1889 erinnert, mal an Howard Carters Beschreibung, wie er im November 1923 in die Vorkammer von Tutanchamuns Grab spähte. Nur arbeitete der Entdecker hier weniger am eigenen Mythos als seine Vorgänger, während er die Überzeugung vermittelte, sich samt allen, die davon hörten, aus Legende und Vermutungen in die Geschichte hineingegraben zu haben.2

Alle Überlegungen kreisten bald um eine goldene Kiste, eine Larnax, auf der ein Stern- oder Sonnensymbol mit sechzehn Strahlen prangte; drinnen lagen ein Goldkranz, der Eichenblätter imitierte, und die Gebeine eines Mannes, die man nach dessen Verbrennung aufgelesen und in ein purpurnes Tuch gehüllt hatte. Der Gedanke an ein Königsbegräbnis lag nahe. In der Vorkammer fanden sich die Überreste einer Frau in der gleichen Bestattungsform. Der Tote in der Hauptkammer, dem Skelett nach ein Mann zwischen 35 und 55 Jahren, hatte längere Zeit vor seinem Tod eine schwere Verletzung am rechten Auge erlitten. Andronikos zögerte nicht, seine geheimen Wünsche bestätigt zu sehen: Er konnte niemand anderen gefunden haben als „Philippos, den Sohn des Amyntas“, König Philipp, durch den Makedonien zur stärksten europäischen Macht seiner Zeit aufgestiegen war. 1982 stieß er auch noch auf das Theater von Aigai, wo das Leben Philipps mit nur etwa 45 Jahren abrupt geendet hatte. Der Ausgräber selbst dachte an etwas wie Fügung.3

Ob Philipp in Grab II bestattet wurde oder nicht, ist bis heute umstritten – zu dieser Zeit jedenfalls konnte es unmöglich anders sein. Das moderne Griechenland hatte bis 1974 im Griff der Obristendiktatur die jüngste von mehreren Ohnmachtserfahrungen durchlebt. Ein solcher Fund in einer solchen Lage bewies zumindest die Wiedergewinnung der Verfügungsmacht über die eigene Geschichte. Nach dem Nationalismus der Militärjunta hatte die wiederhergestellte griechische Demokratie ein potentielles Nationalsymbol in die Hand bekommen, das sofort zum Politikum wurde. Vor der ersten Presseerklärung informierte Andronikos den Staatspräsidenten und den Premierminister, Konstantinos Tsatsos und Konstantinos Karamanlis. Die Emotionen schlugen höher, als ein simples Kulturgut es hergab; die Wiederkehr Philipps des Zweiten symbolisierte Zusammenhalt und neue Stärke, sie schien der Freiheit den historischen Segen zu geben. Nicht zufällig erhob Andronikos die Grabungen zur Gemeinschaftsleistung von geborenen Einwohnern der Region mit Flüchtlingen und Zwangsumsiedlern aus der Katastrophe, mit welcher der Griechisch-Türkische Krieg geendet hatte.4

Je nach Blickwinkel war die historische Ironie perfekt. Fast sofort tauchte die Gegenthese auf, nicht der Vater Alexanders des Großen,5 sondern Philipps Sohn Arrhidaios sei gefunden worden – auch ein Philippos, aber nicht der Ersehnte.6 Fast geschlossen hatte sich nicht nur die griechische Öffentlichkeit auf einen Mann festgelegt, der in der antiken Geschichtsschreibung und weit über sie hinaus als der Inbegriff eines skrupellosen Politikers, vor allem aber als Zerstörer der griechischen Freiheit galt: Philipp, der Erzfeind in Worten und Schriften des berühmtesten Redners von Athen. Daneben hatte und hat er vielfach nur Komplimente dafür bekommen, der Weltgeschichte einen gern als Übermensch betrachteten Sohn geschenkt zu haben. Alexanders Grab in der bekanntesten der nach ihm benannten Städte ist bis heute nicht gefunden und wird, wenn es je freigelegt wird, leer und geplündert sein; von Philipp II. bleibt ein Skelett, vielleicht im wortwörtlichen Sinn – das Feld der Mitbewerber ist klein –, jedenfalls aber, was die Quellenlage angeht. Der Wettbewerb, wer höher einzuschätzen sei – Philipp oder Alexander – ist so alt wie die politische Existenz des Weltreichseroberers; frei nach Goethe kann man den Griechen und ihren Erben dazu gratulieren, ein paar Kerle gehabt zu haben, über die sie streiten können. Demosthenes hätte gern auch weniger als diese zwei genommen.7


Die goldene Larnax aus Grab II des Großen Tumulus bei Vergina. Mit Schnüren, die man um die zwei Paar Knäufe vorne links legte, konnte der Klappdeckel versiegelt werden. Ob in dieser Kiste tatsächlich Philipp II. beigesetzt wurde, ist in der Forschung weiter umstritten – und ein Politikum.

Von Anfang an wurden die Funde von Vergina mit zusätzlichen Beweislasten überhäuft: dass die Makedonen beispielsweise Griechen waren – antiker und moderner Wortsinn waren gleichgesetzt –, denn Barbaren hätten ‚der Welt‘ nie den kulturellen Impuls des Hellenismus vermitteln können. Das Sonnensymbol der Argeadendynastie ist als „Stern von Vergina“ zum Politikum geworden, seit mit dem Zerfall Jugoslawiens auch der gewaltsam unterdrückte Nationalismus samt allen Grenzproblemen und Kriegserinnerungen des Balkans ‚aufgetaut‘ ist. Auf der Flagge der Former Yugoslav Republic of Macedonia sorgt der Stern für Empörung auf griechischer Seite; territoriale, ethnische, kulturelle Argumente, wer wie exklusiv die Tradition von Philipps Makedonien für sich beanspruchen darf, werden bis heute hitzig in Internetforen wie auf höchster diplomatischer Ebene gewechselt. Fürchtet man in Skopje, sein Existenzrecht als Staat mit einem eigenen Staatsvolk bestritten zu sehen, so geht in Athen und Thessaloniki die Angst vor einer Anfechtung der Grenzen aus den Balkankriegen um.8

Zum Streitgegenstand wird damit ein Mann, der wie kaum ein zweiter ungeeignet ist, als Berufungsinstanz für unverrückbare Grenzen und harte Kerne nationaler Identität zu dienen: Wo er die Grenzen seines Herrschaftsgebiets verschieben konnte, tat Philipp das ausgiebig, und das Selbstverständnis aller ‚richtigen‘ Makedonen – einer schwammig definierten Vielzahl von Teilstämmen in halbisolierten Regionen – hat er je nachdem mal bedient, indem er makedonischer als alle anderen war, und mal strapaziert, indem er die gewohnte Lebensweise aufbrach. Aber die gesamte griechische Welt wurde von Philipp ebenso auf den Kopf gestellt und reagierte mit heftigen Gefühlen auf den möglicherweise vielseitigsten, sicher aber beunruhigendsten Mann, den sie bis dahin erlebt hatte. Die Kombination eines der schärfsten Intellekte seiner Zeit mit einem fast beängstigenden Vergnügen an allen körperlichen Betätigungen und besonders am Kampf in der ersten Reihe verblüfft noch heute. Philipps Leben im beinahe permanenten Eroberermodus verband sich mit beachtlicher Geduld im Konsolidieren, Organisieren, Intrigieren, Umwerben und Versöhnen, und zwar meistens alles zur selben Zeit, nur auf verschiedenen Schauplätzen; er präsentierte sich je nach Lage der Dinge urwüchsig-impulsiv, weitsichtig, gnadenlos, berechnend oder entwaffnend herzlich. Einzelne Schlagwörter wie ‚Machtmensch‘, ‚Spielernatur‘, ‚Energiebündel‘ und dergleichen erfassen diese bemerkenswerte Figur niemals vollständig, und vielen ideologiegeleiteten Anläufen zum Trotz hat die moderne Geschichtsschreibung ihn ebenso wenig auf eine einzelne Hauptdimension oder Leiteigenschaft reduzieren können wie auf ein festes Programm. Ersatzweise hat sie es immer wieder mit der Reduktion auf die Vaterrolle versucht, aber auch dem entzieht Philipp sich bei näherem Hinsehen souverän. Als komplexe Schlüsselfigur einer komplizierten politischen Landschaft, die er unwiderruflich veränderte – so gewaltsam und willkürlich wie seine Mit- und Gegenspieler, nur effizienter, dabei aber noch erstaunlich konstruktiv – ist er am besten aufgehoben.

Dieses Buch hätte ohne viele stützende Hände – manche wissen bis heute nicht, wieviel Halt sie gegeben haben – die letzten Jahre nicht überstanden, mag es auch ähnlich viele Blessuren aufweisen wie sein Protagonist. Die fernsten Wurzeln seiner Entstehung reichen bis unter den handgezeichneten, wandfüllenden Stammbaum der hellenistischen Herrscherhäuser im Bonner Seminar für Alte Geschichte, das bekanntermaßen nicht nur für Alexander viel Aufmerksamkeit hat und hatte. Vor allem hat das tägliche Gespräch mit den immer geduldigen Philhellenen des Aachener althistorischen Lehrstuhls – Klaus Freitag, Christoph Michels und Klaus Scherberich – die Identität der werdenden Biographie um einiges geschärft, rheinauf und rheinab die wie immer gern missbrauchte eruditio von Jens Bartels. Dem Rotstift von Manfred Clauss gebührt ebenso viel Dank wie der tatkräftigen verlagsseitigen Unterstützung durch Julia Rietsch bei der unverdient schweren Geburt.

Für den Autor selbst hätte es in einer Zeit der Zerstörung und zu vieler erzwungener Abschiede keinen passenderen Wegbegleiter geben können als einen polarisierenden, wiederholt ramponierten Mittvierziger, der ermutigend oft auf die Füße fiel … womit das Identifikationsbedürfnis auch schon aufhört. Den großen Unterschied – zugunsten der Gegenwart – machen nicht zuletzt Alexander (non rex), Barbara und Martin aus, meine dankbar getragenen „Fesseln Griechenlands“ und samt ihrem Großvater mein ganz persönlicher Gemeinsamer Friede.

Aachen, im April 2014 J.F.

Philipp II. von Makedonien

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