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2. HAMBURG – ZWANZIG JAHRE SPÄTER

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– Die Einladung –

Hanna Dohn eilte an diesem Montag schon um 07:30 Uhr in ihr Büro. Es würde eine hektische Woche für die langjährige Investigativ-Journalistin werden. Sie hatte mit einem Team zu den spektakulären Fällen sexualisierter Gewalt gegen Kinder in Lügde, Bergisch Gladbach und Münster eine überzeugende Story produziert, die die Redaktion des Nachrichtenmagazins bewogen hatte, den sexuellen Missbrauch von Kindern als Titelstory zu bringen. Dabei hatte sie besonderen Wert auf die psychologischen Hintergründe der Fälle gelegt.

Sie legte ihren Mantel ab und ging zum Schreibtisch. Wie konnte es möglich sein, dass in Lügde über zehn Jahre scheinbar unbemerkt von der lokalen Öffentlichkeit diese entsetzlichen Vergehen an Kindern stattfanden?

»Natürlich gab es Mitwisser«, dachte sie, als sie hinaus auf das Elbufer blickte.

»Was geschah wirklich im Polizeiapparat, in dem Ermittlungen verschleppt wurden und wichtiges Beweismaterial verschwand, obwohl eine Job-Center-Mitarbeiterin das Jugendamt schon zwei Jahre zuvor alarmiert hatte? … Warum duckte sich die Bevölkerung überwiegend weg, als die unbegreiflichen Vorgänge auf ihrem Campingplatz sowie die Produktion und Verbreitung von Kinderpornografie allen offenbar wurde?«

Hanna hatte im Artikel die Frage gestellt, was in Menschen vorging, wenn sie sich wie in einer Pandemie eine Gesichtsmaske überzogen, um sich gegen das Virus der Wahrheit zu schützen. Doch Lügde war nur ein kleiner „Hotspot“ für das Virus. Hanna musste erkennen, dass das Virus Missbrauch im ganzen Land zu Hause war, leise und unbemerkt von der Öffentlichkeit. Über eintausend Einzeltaten, begangen an Kindern von vier bis dreizehn Jahren, organisiert im Internet und durchgeführt von nur wenigen Menschen, deren Beziehungsgeflecht aus der Hölle jenes Wohnwagens bis in unzählige Haushalte der Republik hineinreichte. Ein idyllischer, westfälischer Ort, in dem unschuldige Menschen lebten, war durchwoben von Tätern und Mitwissern, wie es durch ihre Recherchen nach und nach ans Licht kam.

Über dem Ort lag plötzlich eine Scham, die mit der Verstärkung der kriminalpolizeilichen Ermittlungen wuchs und vor allem mit der Aussage des Innenministers, dass man offensichtlich erst die Spitze eines Eisberges berührt habe.

Hanna lehnte sich zurück, legte ihre Hände unter das lange, schwarze Haar in den Nacken, schloss die Augen und überdachte ihre Story. Als ausgebildete Psychologin fand sie die Erklärungen dafür, warum Menschen sich durch Wegschauen zu schützen versuchten und geradezu erleichtert waren, wenn ein anderer Missbrauch in einem anderen Ort bekannt wurde. In diesem Fall im knapp 300 Kilometer entfernten Bergisch Gladbach.

Dort – so hörte Hanna im Gerichtssaal – hatte sich ein Berufssoldat an seiner leiblichen Tochter, seinem Stiefsohn und seiner dreijährigen Nichte sexuell vergangen. Als den Richtern bekannt wurde, dass auch hier ein Netzwerk mit allein zwanzig Beschuldigten aus Nordrhein-Westfalen aktiv war, in dem 85 Terrabyte Datenmaterial sichergestellt wurde und nach ersten Ermittlungen dreißig Jungen und Mädchen missbraucht worden waren, fühlten sich einige in Lügde nicht mehr ganz so schlimm berührt, andere geradezu erleichtert, so war Hannas Eindruck.

Sie schrieb über den dicken Sockel eines Eisberges, der sich durch das ganze Land zog. Über Täter, die immer raffinierter und deutschlandweit in jährlich über fünfzehntausend Fällen Kinder missbrauchten. Das Dunkelfeld sei laut Behörden unbekannt, aber um ein Vielfaches höher. Die WHO schätzte die Zahl der Fälle in Deutschland auf eine Million pro Jahr. Hanna erkannte schnell, dass sie nicht in einem typisch deutschen Verbrechen recherchierte, sondern in einem internationalen. Sie konnte es kaum fassen, dass in den USA Internetfirmen in nur einem Jahr 45 Millionen Bilder und Videos meldeten, auf denen zu sehen war, wie Kinder missbraucht wurden.

Die Redakteurin zitierte den Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum in Ulm, dass „Missbrauch die Dimension einer Volkskrankheit“ erreicht habe. Sie schrieb, dass hinter diesen Zahlen Generationen von Opfern standen, deren stummes Leid auch nicht ansatzweise erfasst werden konnte, und von Opfern, die bereits als Kinder oder im Erwachsenenalter zu Tätern wurden.

Während die Staatsanwaltschaft zu oft die Verfahren wegen Verjährung einstellte, schrieb Hanna über den Mord an der Seele und folglich von dem Erfordernis, dass auch dieser Mord nie verjähren dürfe. So sollte auch ihre Titelstory lauten: Mord an der Seele. In der Redaktion hatten sie lange darüber diskutiert, ob man diese Bezeichnung angesichts der möglichen fatalen Wirkung auf Missbrauchsopfer überhaupt wählen dürfte. Welches Opfer möchte hören, dass die eigene Seele ermordet wurde?

Die Abstimmung für den spektakulären Titel ergab ein klares „Ja“. Man hoffte, dass Betroffene ihn als Wachrütteln der Öffentlichkeit verstehen würden.

Aber der Journalistin fehlte noch der Aufhänger. Etwas Spektakuläres. Sonst würde es schwer werden, das Material als Titelstory durchzubekommen. Es bräuchte eine Nachricht von Sprengkraft, mit der sie der Polizei möglichst voraus war. Etwas Exklusives, das die Stärke des größten deutschen Nachrichtenmagazins einmal ausgemacht hatte. Doch die Zeiten des Exklusiv-Status waren auch im Nachrichtenmagazin nahezu vorbei.

»Weitere Post für Sie, Frau Dohn.«

Hanna sah auf den jungen Kollegen, offensichtlich ein Volontär und dann auf die Anschrift:

Frau Hanna Dohn

PERSÖNLICH

Kein Absender. Natürlich nicht.

Hannas Herz klopfte plötzlich laut. Das war also die Sendung, die ihr gestern ein anonymer Absender mit einem Passwort angekündigt hatte! Der Absender hatte dafür eine E-Mail an die Investigativ-Adresse des Nachrichtenmagazins geschickt, die professionell mit einer Pretty Good Privacy (PGP)-Adresse verschlüsselt worden war. Passwort und ein Umschlag in zwei getrennten Sendungen, professionell adressiert, das klang vielversprechend.

»Mein Chef bietet an, dass wir die Post für Sie öffnen«, sagte der junge Mann.

Hanna prüfte den Briefumschlag. Der Poststempel ließ ad hoc keinen Aufgabeort erkennen, der Umschlag erschien ihr unauffällig. Da gab es zwar eine Verdickung in der Mitte, aber keinen Draht, keine Flecken, kein Loch oder irgendetwas, das auf eine Briefbombe hinwies. Diesbezüglich konnte sie sich auf die postalische Vorprüfung im Haus verlassen.

»Alles okay«, meinte sie dankend. »Ich warte bereits sehnlichst auf diesen Brief.«

Der Volontär sah sie sorgenvoll an, bevor er den Raum verließ.

Sie klappte ihr Schweizer Messer auf, das ihr Kurt drei Jahre zuvor mit seinem eingravierten Namen überlassen hatte, bevor er als Kriegsreporter in die Welt entschwand, sie mit ihrer gemeinsamen, mittlerweile sechzehnjährigen Tochter allein ließ, und von dem sie hörte, dass sein Alkoholproblem eher schlimmer geworden sei.

Sie zog sich Einweghandschuhe an, um mögliche Spuren nicht zu verwischen, setzte vorsichtig das Messer an die obere Kante des Umschlages, schnitt behutsam auf und zog ihn vorsichtig auseinander. Zwischen zwei zusammengelegten Pappstreifen sah sie einen USB-Stick. Sie musste sich eingestehen, dass sie nun doch erleichtert war. In ihrem Geschäft war sie auf alles gefasst, einschließlich auf bioterroristische Anschläge mit Substanzen wie Anthrax.

Sie verschloss die Tür, steckte den Stick in ihren privaten Computer und gab das in der E-Mail übermittelte Passwort Maria Hilf ein.

Schon als sie am Vortag die vorbereitende E-Mail gelesen hatte, fiel ihr jener Missbrauchsfall ein, an dem sie damals als junge Journalistin und noch mitten im Psychologie-Studium hatte mitarbeiten dürfen. Es war auch das erste Mal gewesen, dass ihr Name im Bericht als Mitautorin genannt worden war. Sie erinnerte sich, dass der Fall im Sauerland durch den Suizid eines jungen Schülers ins Rollen gebracht worden war. Die Polizei fand nach und nach Hinweise zu einem organisierten Missbrauch, der mindestens einige Jahre währte. Dann verloren sich die vagen Spuren. Offensichtlich waren die Täter abgetaucht oder, was viel wahrscheinlicher war, sie hatten sich neu organisiert.

Die Vernehmungen von Lehrern und Erziehern und auch die Befragung von Internatsschülern führten ins Leere, über dem katholischen Internat Maria Hilf hing eine einzige Glocke des Schweigens. Von dem befreundeten BKA-Beamten, Joe Jaeger, dort wegen seiner vielen Ermittlungserfolge auch Hunter genannt, wusste Hanna, dass die Verbindungen der Organisation ROSE, wie sie sich nannte, bis ins Ausland reichten und dass die damals noch amateurhafte Spurensuche keinen Treffer ergeben hatte. Auch Hannas Recherchen in der Umgebung des Internats waren erfolglos geblieben.

Aber Hanna und Hunter blieben fest davon überzeugt, dass sie in einem brisanten Fall recherchiert hatten, zumal am Bauch des Suizidenten Spuren von Sperma gefunden worden waren.

Hanna hatte sich sofort nach Erhalt der E-Mail bei dem Kollegen in der Rechtsabteilung informiert. Sie brauchte juristische Klarheit, wollte vorbereitet sein, denn es konnte alles sehr schnell gehen. Der Kollege hatte ihr nach einem Blick ins Strafgesetzbuch bestätigt: „Bei Straftaten, die vor dem 30.6.1994 begangen wurden, begann die Verjährung bei Beendigung der Tat, die Verjährung betrug damals zehn Jahre. Seitdem wurde eine Hemmung der Verjährung sukzessive bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers eingeführt. Leider sind viele Altfälle bereits verjährt. Je weiter der Fall zurückliegt, umso komplexer wird die Rechtslage. Es kann durchaus sein, dass in Ihrem Fall das sogenannte Tatzeitrecht gilt und der Missbrauch noch unter eine zehnjährige Verjährungsfrist fällt. Dann hat der Täter nach relativ kurzer Zeit nichts mehr zu befürchten.“

Hanna war sich fast sicher gewesen, dass der anonyme Informant aus der Verjährungsfrist herausgefallen war, sonst hätte er den Fall zur Anzeige gebracht und nicht das Nachrichtenmagazin informiert.

Sie hatte den Kollegen noch nach dem Strafmaß bei sexuellem Kindesmissbrauch gefragt. »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Frau Dohn, wir sprechen neuerdings von sexualisierter Gewalt gegen Kinder, nicht mehr von Kindesmissbrauch

»Warum das?«

»Damit soll das Unrecht der Taten schon in der Definition klar beschrieben werden. Der Gesetzgeber wollte in der Begrifflichkeit weg von Kindern als Gebrauchsgegenstand.«

»Das macht in der Tat Sinn«, meinte Hanna. »Sprache schafft Bewusstsein. Und wie steht es nun mit der Bestrafung?«

»Die Straftat wird künftig nicht mehr als Vergehen, sondern als Verbrechen mit einem Strafrahmen von einem Jahr bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe eingestuft. Außerdem wird jetzt auch die Verbreitung von Kinderpornografie als Verbrechen eingestuft und dementsprechend härter bestraft und – last but not least – Frau Dohn, es gibt jetzt auch eine Regelung zur Strafbarkeit bezüglich Sexpuppen mit kindlichem Erscheinungsbild.«

»Unglaublich, um welche Perversität sich der Gesetzgeber kümmern muss«, meinte Hanna. »Gleichwohl, immer wenn etwas passiert, werden die Gesetze verschärft, die Strafverschärfung allein bringt wenig.«

»Was meinen Sie, Frau Dohn?«, fragte der Jurist verwundert. »Das ist doch eine enorme und auch abschreckende Verbesserung.«

»Das ganze Vorfeld bis zur Verurteilung stimmt doch nicht, Herr Kollege! Wenn ich die Schwere der Fälle und die Urteile der Vergangenheit sehe, bezweifele ich, dass die zuständigen Richter pädagogisch und psychologisch so ausgebildet sind, dass sie das Thema überhaupt erfassen. Dasselbe gilt für die Qualifikation des Personals in Jugendämtern, die oft erste Anlaufstelle sind und bei denen die Ampel nicht oder zu spät auf ROT springt. Der Schutz der Kinder muss mit einer ganzheitlichen Prävention in dieser Gesellschaft beginnen. Der harte Richterspruch – wie in den jüngsten Fällen geschehen – darf die Politik und die Gesellschaft nicht beruhigen.« Das war gestern gewesen, danach hatte sie schlecht geschlafen, jetzt aber war sie hellwach, als sie das Passwort Maria Hilf eingab. Es funktionierte! Sie erkannte ein Word-Dokument und ein Video. Gespannt öffnete sie die Textdatei.

Guten Tag, Frau Dohn. Sie haben vor zwanzig Jahren wegen eines sexuellen Missbrauchs in dem Collegium Maria Hilf recherchiert. Sie haben nichts gefunden, die Polizei ebenfalls nicht. So wie Sie damals im Nachrichtenmagazin schrieben, hatten Sie geahnt, dass in diesem Internat etwas Furchtbares passiert sein müsse. Sie hatten recht. Dieses Etwas ist allerdings in einem Maße geschehen, das Ihre schlimmsten Vorstellungen übersteigt – und zwar über mehrere Jahre hinweg. Hinter dem sexuellen Missbrauch stand der internationale Ring ROSE, dem durch die Schulleitung sorgfältig ausgewählte Kinder alle vier Wochen in einem teuflischen Ritual sexuell zur Verfügung gestellt wurden. Alle Kinder zerbrachen daran in unterschiedlicher Weise. Einige brachten sich um oder verschwanden auf mysteriöse Art. Die ROSE-Täter tauchten bei Bekanntwerden der Ermittlungen ab, aber treiben vermutlich ihr Unwesen weiter. Mir sind inzwischen einige Namen des Ringes bekannt, und obwohl die Verbrechen am Collegium verjährt sind, möchte ich die Täter nicht davonkommen lassen.

Im beiliegenden Video sehen Sie Ausschnitte des Verbrechens. Dieser Clip wurde an acht Missbrauchstäter geschickt, mit der Aufforderung, sich am 13. Mai in St.-Jean-Pied-de-Port einzufinden und von dort aus über den Jakobsweg nach Burgos zu pilgern. Alle teilnehmende „Pilger“ sind auf dem Video zu sehen. Wer nicht kommt, wird öffentlich sanktioniert.

Sie sollten es als engagierte Journalistin nicht versäumen, an dieser etwa vierzehntägigen Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg teilzunehmen. Holen Sie nach, was Sie damals nicht entdecken konnten. 13. Mai, 18:00 Uhr im Hotel Pilgrim. Dort erhalten Sie weitere Informationen.

Machen Sie sich nicht die Mühe, herausfinden zu wollen, wer ich bin. Mich gibt es schon lange nicht mehr. Buen Camino!

Hanna blieb vollkommen ruhig, jetzt erst das Video, dann eine Beurteilung der Lage. Der Clip dauerte nur neunzig Sekunden. Aber was sie sah, reichte ihr. Menschen verließen vor dem ehemaligen Kloster ihre Autos, zogen sich Masken über. Schnitt. Klosterkapelle. Vergewaltigungen von Kindern, einzeln, als Gruppe. Die Täter zunächst maskiert und in einem Pilgergewand mit Kapuze, dann unbekleidet mit Maske. Die Kinder vor ihnen in der Hocke und auf dem Altar liegend. Eine Massenvergewaltigung zu den Klängen klassischer Musik. Hanna zitterte plötzlich am ganzen Körper. Das war es also, was hinter den kühlen Worten des Strafgesetzbuches stand. Beischlaf, Eindringen in den Körper, gemeinschaftlich, erhebliche Schädigung …

Sie hatte schon zuvor Fotos von geschändeten Kindern gesehen, aber nie Vergewaltigungen in bewegten Bildern mit den unsäglichen Lustschreien der Täter und den starren Gesichtern der Opfer, maskenähnlich wie die der Täter. Ihr war übel. Sie dachte an die aktuellen Prozesse, die zeigten, dass es nie aufgehört hatte. Im Gegenteil. Ein Bericht der WHO bestätigte, dass während der Corona-Virus-Pandemie-Krise die Gewalt gegen Frauen und Kinder in der Abgeschlossenheit der Wohnungen dramatisch zugenommen hatte.

Hanna goss sich ein Glas Wasser ein. Ihre Hand zitterte, als sie sich gegen die Fensterbank lehnte. Sie sah zur Speicherstadt hinüber, auf die Boote, auf den ruhig fließenden Straßenverkehr, Hamburg im Normalbetrieb. Sie aber war gerade in eine Welt hineinkatapultiert worden, die sie zutiefst ablehnte und doch zugleich eine Art Jagdfieber in ihr weckte.

Jakobsweg? Mit mir, die als einzigen Weg den Gang zum Fahrstuhl kennt … ohne vernünftige Wanderschuhe … Übernachten in irgendwelchen verlausten Herbergen … Wo lag dieses St. Jean … wie heißt das noch mal: Saint-Jean-Pied-de-Port?

Voller Schrecken stellte sie fest, dass der Ausgangsort des Jakobsweges auf der französischen Seite der Pyrenäen lag. Der Typ wollte doch nicht, dass sie die Pyrenäen überquerte? Sie googelte den Camino Francés und las als Erstes, dass nur zwanzig Prozent der Pilger die achthundert Kilometer lange Strecke zum Ziel Santiago de Compostela schafften, Dreiviertel der Pilger würden bereits auf dem ersten Teilstück in den Pyrenäen scheitern. Aber die gute Nachricht war: Nach Burgos waren es nur knapp 300 Kilometer, wenn man sich nicht verlief.

Je mehr sie darüber nachdachte, umso mehr faszinierte sie die Idee. Sie prüfte ihren Kalender, die wichtigen und weniger wichtigen Termine.

Die Redaktionsleitung würde angesichts dieser exklusiven Chance mit Sicherheit einverstanden sein. Sie beschloss, sich noch an diesem Tag eine Wanderausrüstung zu kaufen und sich ab jetzt jeden Tag ein bisschen warmzulaufen. Auf dem Handy erschien das Bild ihres Mannes.

»Kurt, du? Das letzte Mal war es vor einem halben Jahr. Gibt es ein Problem?«

»Nein, ich kann nur unsere Tochter seit Tagen nicht erreichen.«

»Mach dir keine Sorgen, sie hat ihr Handy zur Reparatur, das dauert zwei Wochen, sagt sie.«

Er schien beruhigt. Sie unterhielten sich über seine eher langweilige Arbeit im Irak.

»Es passiert nichts mehr, was die Medien interessiert. Ich brauche wieder eine Front. Vielleicht gehe ich nach Mali. Aber was treibst du?«

»Ich gehe auf den Jakobsweg – pilgern.«

»Du? Das glaube ich nicht!«

»Ja, jeden Tag mindestens fünfundzwanzig Kilometer.«

»Warum, hast du gerade eine Midlife-Krise?«

Sie lachte kurz.

»Vielleicht, ja, vielleicht. Ich muss raus, Abstand gewinnen. Das hier kann auf jeden Fall nicht alles gewesen sein.«

Er schwieg kurz.

»Haben deine Überlegungen vielleicht auch etwas mit uns beiden zu tun?«

»Möglich, Kurt, möglich. Denk‘ einmal selbst über die Sinnhaftigkeit unserer Beziehung nach.«

Über Hanna kreiste ein Luftschiff. Es fuhr über den Hafen und stoppte über der Elbphilharmonie. Sie nahm sich ihr kleines Fernglas, mit dem sie gern das Treiben in der Welt dort draußen betrachtete. Menschen beim Shopping, Liebespaare auf der Bank, Kirschbäume in der Frühjahrsblüte. Sie zoomte das Luftschiff heran und las: Lebe dein Leben – Jetzt! Sie überlegte: »Jakobsweg … Selbstfindung … Eine investigative Geschichte … Was suchst du wirklich, Hanna Dohn?«


Joe Jaeger war direkt am Telefon, nachdem sie die Nummer seines Wiesbadener BKA-Büros gewählt hatte. Er musste die Nummer erkannt haben, denn sie hörte sein Säuseln: »Was für ein Sonnenschein wärmt mich Bleichgesicht gerade in meinem tristen BKA-Büro? Guten Tag, Hanna, wie geht es in Hamburg?«

»Ehrlich, Joe? Ich bin vollkommen aufgedreht, wahrscheinlich Blutdruck 220 zu 160.«

»Klarer Fall von Notruf Hafenkante … Ich schicke dir sofort einen Notarzt … einen Hubschrauber direkt auf das Dach der Redaktion.«

»Im Ernst, Joe, ich bin in einer Ausnahmesituation und brauche den polizeilichen Rat eines Freundes.«

»Also, was ist passiert?«

»Du erinnerst dich an Maria Hilf und ROSE, nicht wahr?«

Auf der anderen Seite Schweigen.

»Bist du noch da, Joe?«

»Bin ich, ja, ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen.«

»Gut, in Kurzform. Ich habe gerade anonym einen Brief und ein Video über einige Missbrauchstäter von damals bekommen und soll mit denen, jetzt halte dich fest, in vierzehn Tagen den Jakobsweg in Spanien wandern.«

Sie erwartete nun die Frage nach den Einzelheiten hinter dieser Einladung.

Doch Hunter sagte nur trocken: »Ich auch.«

Jakobs Weg

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