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3. WIESBADEN

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– Cybergrooming –

»Können wir ihr wirklich vertrauen, Hunter?«, fragte Heiner Mönch, Chef des Bundeskriminalamtes, seinen besten Analytiker für Missbrauchsfälle. »Am Ende bleibt sie eine Journalistin, die dafür bezahlt wird, erfolgreich zu recherchieren.«

Joe Jaeger, genannt Hunter, schüttelte den Kopf. »Sie hat mehrmals bewiesen, dass sie schweigen kann, auch gibt sie mir gelegentlich vorab ein kleines Signal, wenn wir als Amt im Nachrichtenmagazin stehen. Das ändert zwar nichts am Ergebnis, aber es hat uns, wie Sie vom letzten Mal wissen, einen Zeitvorsprung für die Rechtfertigung beim Minister verschafft.«

»Ach, das war auch die Dohn? Hmm. Dann drehen wir das doch in eine Win-Win-Situation! Machen Sie mit ihr einen Deal, Hunter. Sie erhält einige Informationen wie kein anderer Journalist zuvor. Zeigen Sie ihr unseren Cybergrooming-Raum, sie soll wissen, wie hart das Aufklärungsgeschäft ist. Wären Sie damit einverstanden?«

»Gute Idee, Herr Mönch, sie wird sogar eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben. Es wird natürlich keine Bildoder Tondokumentationen geben.«

»Perfekt, Hunter. Aber mein wichtigster Wunsch ist ein anderer. Sensibilisieren Sie Frau Dohn für unseren aussichtslosen Ermittlungskampf, wenn wir nicht die Daten unserer Verbündeten nutzen können. Reden Sie mit ihr über das juristische Fiasko der Datenvorratsspeicherung. Wenn darüber etwas Ausgewogenes im Nachrichtenmagazin erscheint, dann hat sich der Deal bereits gelohnt.«

»Ich bin da sehr zuversichtlich«, meinte Hunter, der wusste, dass sich Hanna natürlich nicht manipulieren ließ, aber sich auch einen einmaligen Informationsvorsprung nicht entgehen lassen würde.

»Und passen Sie während Ihrer Pilgerwanderung auch auf Frau Dohn auf. Sie weiß womöglich gar nicht, in welche Gefahr sie sich in dieser Gesellschaft begibt.«

»Wir sind darüber natürlich im Gespräch, Herr Mönch. Wenn die Lage zu brisant werden sollte, ist sie draußen. Das sehe ich derzeit nicht.«

»Wer leitet in Ihrer Abwesenheit die Sonderkommission Camino

»Kriminalkommissarin Heike Rauch, sie prüft gerade die Bilder aus dem anonymen Video auf Treffer, bisher negativ.«

»Okay, Hunter. Ich wünsche Ihnen einen guten Camino und für uns natürlich neue Erkenntnisse.« Hunters Chef zögerte einen Augenblick und setzte nach: »Sind Sie auch kirchlich unterwegs, wenn ich das fragen darf?«

Joe wunderte sich in der Tat über die sehr persönliche Frage. Es gab seit dem Tod seiner Frau kaum jemanden, dem er sich öffnete, schon gar nicht im Dienst. »Der Kirche stehe ich kritisch gegenüber. Ich glaube aber, dass unser Schicksal – durch wen auch immer – vorbestimmt ist und wir uns am Ende fügen müssen. Aber bis dahin vertraue ich auf meine Ermittlungsarbeit.«

BKA-Chef Mönch kannte Hunter als einen zähen Kämpfer, der nie freiwillig aufgab. Doch den Kampf gegen den Krebs seiner Frau, die er drei Jahre lang gepflegt hatte, hatte er nicht gewinnen können. Man sah ihm, der kleinen, rheinländischen Frohnatur auf den ersten Blick nicht an, dass dahinter eine Persönlichkeit steckte, die viel über die Menschen wusste. Hunter musste starke innere Leitplanken haben, sonst könnte er das schmutzigste aller Aufklärungsgeschäfte im Polizeiapparat innerlich gar nicht bewältigen. Er würde trotzdem auf ihn aufpassen lassen, dort unten auf seiner seltsamen Pilgerreise. Mönch mochte diesen Hunter, der leider nur noch drei Jahre bis zu seiner Pensionierung hatte. Er hoffte, dass er tatsächlich Spuren finden würde, die die Täter von Maria Hilf aufgrund neuer Straftaten doch noch hinter Gitter bringen könnte. Im BKA geschah kaum etwas, was es nicht schon einmal gegeben hatte. Dieser Einsatz als verdeckter Ermittler auf dem Jakobsweg, in Begleitung des Nachrichtenmagazins, war allerdings ein Novum im Bundeskriminalamt. Er schaute auf das Foto seiner Frau und sinnierte:

»Ich sollte auch einmal diesen Jakobsweg ins Auge fassen … aber nicht zu zweit … Den Jakobsweg geht man auf der Suche nach sich selbst besser allein.«


»Ihr Besuch ist eingetroffen«, meldete der Pfortendienst.

»Bin gleich unten«, sagte Joe.

Auf dem Weg zu ihr dachte er dankbar über die willkommene Abwechslung nach, dienstlich den Jakobsweg zu pilgern und dann mit dieser attraktiven Begleitung, in der beide so eine Art Joint Venture sein würden.

»Willkommen beim FBI«, begrüßte er sie.

»Danke für die Einladung, Joe, ich fühle mich wirklich geehrt.«

Sie überragte ihn um eine Kopflänge. Überhaupt waren beide sehr unterschiedlich. Er in seiner verwaschenen Weste und einer Nickelbrille vor seinem rundlichen, bärtigen Gesicht, dessen verschmitzter Blick so gar nichts von Staatsgeheimnissen verkörperte, sondern eher von einer Einladung zum Kölsch, das es glücklicherweise auch in Wiesbaden gab. Sie trug ein blaues Kostüm unter ihrem grauen Regenmantel und hatte ihre dunklen Haare zu einem Zopf gebunden.

»Ich bin enttäuscht, Hanna, wir hatten dich in Wanderkleidung und Pilgermuschel am Rucksack erwartet.«

Sie lachte. Das war typisch Joe. »Du bist gar nicht so weit von dieser Vorstellung entfernt. Ich laufe in Hamburg bereits meine neuen Trekkingschuhe ein und – ich habe bereits eine dicke Blase.«

Er sah besorgt auf ihre Füße. »Hast du dir auch Wandersocken gekauft? Wandersocken, Hanna, sind sehr wichtig! Die haben zwei unterschiedliche Lagen und verhindern die Blasenbildung.«

»Das sagst du mir erst jetzt«, lächelte sie ihn an, als sie sein Büro betraten.

»Wie viel Zeit hast du mitgebracht, Hanna?«

»Abflug um 19:15 Uhr … also«, sie blickte auf die Uhr, »in fünf Stunden.«

»Wunderbar, das reicht für unser Strategiegespräch. Komm, setz dich, Hanna. Kaffee, Saft oder Wasser?«

»Gern ein Wasser, Joe.«

Sie sah sich in seinem kühlen Dienstzimmer um, das sich kaum von ihrem Hamburger Büro unterschied, von einigen Blumen und persönlichen Bildern bei ihr abgesehen. Er hatte als einziges Bild ein schwarzes Plakat einer alten NDR-Kriminal-Hörspielserie an der Wand hängen. Sie fand, dass der dort abgebildete Kommissar mit ernstem Gesicht, schwarzem Schnurrbart, Hut und grauem Mantel dem kleinen, fröhlichen Joe überhaupt nicht ähnlichsah. Aber der Titel stimmte. Die Jagd nach dem Täter.

Joe Jaeger, genannt Hunter, wollte also ein Strategiegespräch. Natürlich war ihr klar, dass das Bundeskriminalamt ein Eigeninteresse haben musste, wenn sie, die bekannte Journalistin, in die Höhle der Löwen eintreten durfte.

»Wirst du den Fall Maria Hilf neu aufrollen, oder geht es um mehr?«, fragte er, als er ihr das Wasser reichte.

»Um sehr viel mehr, Joe, um das ganze Thema mit allen gesellschaftlichen, juristischen und polizeilichen Facetten. Der Arbeitstitel lautet Mord an der Seele.«

»Auf Mord steht lebenslänglich«, meinte er. »Willst du auch darauf hinaus?«

»Bedingt, Joe, eine hohe Bestrafung ist schon aus Abschreckungsgründen wichtig. Mir sind allerdings die Ermittlungsarbeiten wichtiger. Ich will mehr darüber lernen, wie der sexuelle Missbrauch von Kindern und Kinderpornografie verhindert werden kann. Deswegen bin ich auch bei euch. Danke, Joe, dass ihr das gestattet.«

Joe schaute sie prüfend an. Er wusste, dass ihre Erwartungshaltung hoch war.

»Hintergrundwissen können wir reichlich liefern, du wirst nicht enttäuscht sein. Überhaupt sehen wir das Gespräch und unseren gemeinsamen Einsatz als eine Win-win-Situation.« »Ich bin gespannt, Joe, aber bitte keine falschen Erwartungen.«

»Keine Sorge, Hanna, du kennst mich. Wir beide haben immer auf Augenhöhe zusammengearbeitet, und das soll sich auch bitte nicht ändern. Doch lass uns zunächst über unsere Wanderung reden. Bist du einverstanden?«

»Gern, Joe. Hast du irgendeine Vorstellung, was uns erwartet?«

»Nicht im Mindesten. Ich habe keine Ahnung, wer der Einladende ist, noch weniger, wer da erscheint. Wir wissen auch nicht, wer wen kennt, und ob die sich untereinander kennen.«

»Vielleicht kennen die sich wirklich nicht, Joe. Damals operierten sie doch mit Decknamen, wenn ich das richtig erinnere.«

»Richtig, so war das, Hanna. Aber ich bin sicher, dass alle eine Motivation gemeinsam haben …«

»… sie wollen wissen, wer der Einladende ist«, hakte sie ein, »und wer eventuell etwas Belastendes über den anderen weiß.«

Joe nickte bestätigend: »Das einzig wirklich Offensichtliche an dieser Sache ist die Einladung an uns beide …«

»Natürlich. Mister X möchte, dass du im Bereich Kindesmissbrauch ermittelst und ich dazu eine neue Story bringe.« »So wird es sein. Vielleicht hofft Mister X, dass wir auf ein aktuelles Täternetzwerk stoßen, in dem Verjährungsfristen noch nicht abgelaufen sind, exakt auch mein Ziel.«

»Das hätte Mister X mit einer Anzeige einfacher haben können«, sinnierte sie.

»Wir wissen noch zu wenig, Hanna. Das wird sich aber hoffentlich in den zwei Wochen ändern. In der Gruppe dürfte viel Dynamit sein. Interessant wird die Frage sein, wie das Ganze überhaupt ablaufen soll. Ich nehme nicht an, dass es ein Namensschild Gruppe Missbrauchstäter geben wird.«

Sie nickte.

»Wie gehen wir beide dort unten miteinander um, Joe? Ich unterstelle einmal, dass die anderen nicht wissen, wer wir beide sind.«

»Kann ich mir auch nicht denken. Ich habe die Vernehmungen im Internat nicht selbst durchgeführt damals, und du warst denen als Gesicht ebenfalls nicht bekannt, richtig?«

»Stimmt.«

»Außerdem sind wir alle ein bisschen älter geworden. Kurzum, für die sind wir ebenfalls Mitglieder der Organisation ROSE. Wie auch immer, Hanna, wir beide dürfen auf keinen Fall als Zweierteam erkannt werden.«

»Das heißt?«

»Wir beide werden dort unten eine neue Identität haben. Mein Deckname ist Gerd Ballhaus, deiner Maria Feldmann

Dabei schob er ihr schmunzelnd ihren neuen Personalausweis hinüber. »Frau Feldmann, Sie sind jetzt für den Zeitraum dieser vermutlich interessantesten aller Pilgerwanderungen eine Vertrauensperson des BKA.«

Hanna sah ihn verblüfft an. »Du meinst es wirklich ernst. Dafür brauche ich die Genehmigung meines Chefs … oder nicht?«

»Das kann ich nicht beurteilen. Aber du musst dir darüber im Klaren sein, dass das kein Spaziergang ist. Du läufst auf eigenes Risiko, das dir auch dein Chef nicht abnehmen kann. Wir beide suchen kriminelle Hintergründe. Du für deine Story, ich für den Staatsanwalt.«

»Deswegen werde ich daraus auch in Hamburg einen dienstlichen Einsatz machen.«

»Wie auch immer, Hanna, für unseren Einsatz gilt, wir operieren zusammen, aber gehen getrennt. Wir kennen uns nicht. Das wird eine große schauspielerische Herausforderung. Wäre das für dich in Ordnung?«

»Aber ja, Joe. Ich würde auch ohne dich in dieser Gruppe unter einer Legende laufen. Mit dir fühle ich mich natürlich viel sicherer – auch wenn wir getrennt pilgern. Ich denke aber, dass wir über einen Messenger-Dienst Kontakt halten?« »Natürlich – und nicht nur darüber.« Er öffnete eine Schublade und reichte ihr ein kleines, schwarzes, rundes Teil, kaum größer als eine Zwei-Euro-Münze. »Das ist ein handelsüblicher GPS-Tracker mit dem Unterschied, dass er deinen Standort permanent ins BKA zu Heike sendet.«

»Heike?«, fragte Hanna.

»Ja, Kriminalkommissarin Heike Rauch. Sie koordiniert die Task Force Camino, versorgt mich mit Informationen und hat auch deine Mobilnummer – und zwar diese hier …«

Hanna, alias Maria, wunderte sich über nichts mehr und legte die neue SIM-Karte zum GPS-Tracker. »Worauf lasse ich mich hier ein, Joe?«

»Auf nichts, Hanna. Von dir wird nichts erwartet. Diese Dinge dienen allein deinem Schutz – Weisung von höchster Stelle«, fügte er vielsagend hinzu.

»Das heißt, du – ich meine wir – wir werden permanent getrackt und hoffentlich auch mit wichtigen Informationen versorgt?«

»Richtig, Hanna. Hinter uns steht der Informationsapparat des BKA und auch dessen Schutz. Ich habe auch so einen GPS-Tracker. Anschalten bitte bei deiner Ankunft in Saint Jean.« »Jawoll, Herr Jaeger!« Sie legte militärisch grüßend die Handfläche an die Stirn.

Er ging darauf ein.

»Personalausweis und das Modul hiermit richtig übergeben!« »Richtig übernommen, Herr Kriminalhauptkommissar! Ich fühle mich jetzt wirklich geborgen«, sagte sie lachend. »Im Ernst, danke für eure Fürsorge.«

»Das ist das Mindeste, Hanna. Wie wäre es jetzt mit einem Kaffee? Ich brauche einen.«

»Danke, sehr gern, Joe.«

Während er den Kaffee-Automaten bediente, meinte er: »Ich möchte noch einmal unser Thema von eben ansprechen, Hanna. Haben wir bei diesem Projekt alles bedacht?«

»Worauf willst du hinaus, Joe?«

»Auf unser Rollenspiel, Hanna. Versetzen wir uns einmal in die Situation der anderen. Was wäre deine Reaktion, wenn du als Missbrauchstäterin, die du aus der Wahrnehmung der anderen ja auch bist, diese Einladung zum Pilgern bekommen hättest?«

Sie überdachte einen Moment diese absurde Vorstellung.

»Meine Reaktion wäre die furchtbare Angst, nach so vielen Jahren der Ruhe doch noch an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Obwohl ich nicht mehr verurteilt werden kann, wäre da die Sorge, meinen Job, meine Familie, eben alles zu verlieren. Das will ich auf keinen Fall. Also werde ich mich als Missbrauchstäterin von damals nicht verstecken, sondern die Einladung annehmen.«

»Gut, du hast sie angenommen und erscheinst. Was hast du dann vor?«

»Ich möchte als Erstes wissen, wer hinter der Einladung steckt und zum anderen, ob es jemanden in der Gruppe gibt, der mir schaden könnte.«

»Wenn du auf dem Jakobsweg fündig würdest, wie ginge es dann weiter?«

Sie sah ihn entsetzt an. »Das willst du nicht wissen.«

»Doch.«

»Ich glaube, dann wäre meine kriminelle Energie gefragt.«

»Das heißt?«

»Ich weiß nicht …«

»Würdest du so weit gehen, jemanden auszuschalten? Du bist Missbrauchstäterin, aber keine Mörderin.«

»Wer will das wissen, Joe? Hanna könnte natürlich niemanden umbringen, aber Hanna ist auch keine Kinderschänderin. Die Welt, über die ich hier schreibe, ist mir zutiefst fremd.« Joe ließ nicht locker.

»Du bist aber nicht Hanna, sondern Maria, die Triebtäterin, die kleine Kinder sexuell missbraucht und unter ihresgleichen wandert.«

»Ich weiß nicht, wie weit ich als Missbrauchstäterin in meiner Not auf diesem Weg gehen würde und möchte es mir ehrlich gesagt auch nicht vorstellen.«

»Leider sind nicht alle Menschen wie du, Hanna. Unser Job ist es, uns in jeder Minute in die Gedankenwelt der anderen zu versetzen und uns entsprechend zu verhalten. Wie gesagt, das wird auf dem Camino hohe Schauspielkunst am Limit werden. Wenn einer von uns auffliegt oder gar beide, ist die Reise beendet.«

»Ich denke, Joe, das packe ich. Ich war mir der Herausforderung bewusst, als ich die Einladung erhielt. Mit konspirativer Polizeibegleitung wird es allerdings komplexer.«

»Vielleicht denken wir auch zu kompliziert, Hanna, und das Ganze löst sich als ungefährliche Luftblase auf, die schon nach wenigen Etappen verpufft.«

»Das sagst du als Kriminalist? Nein, Joe, mein Bauch signalisiert mir und zwar jetzt noch mehr als vor diesem Gespräch, wir müssen wirklich sehr aufpassen. Wir pilgern hier in etwas Ungewisses. Es kann uns tatsächlich an den Kragen gehen, falls wir entlarvt werden.«

»Wir werden nicht entlarvt, Maria Feldmann, dafür sind wir zu gut.«

Sie goss sich etwas Milch in den Kaffee, nahm einen Schluck und sagte mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck: »Ich bin von Natur aus nicht ängstlich, Hunter, aber wenn mir der Druck inmitten dieser kriminellen Gruppe zu stark wird, bin ich draußen, trotz des BKA an meiner Seite.«

Er nickte und schwieg. Hanna hatte die Gefahr richtig erkannt. Gut so. Sie würde nicht naiv in dieses Wanderabenteuer gehen, von dem beide zudem nicht wussten, ob sie die Überquerung der Pyrenäen überhaupt physisch bewältigen würden. Er war zum letzten Mal in seiner Ausbildung zehn Kilometer gelaufen. Das war vor vierzig Jahren gewesen. Danach hatte er am Schreibtisch oder im Dienstwagen gesessen. »Komm, Hanna, wir gehen eine Etage höher.«

Auf dem Weg dorthin fragte er sie: »Du kennst die Klassifizierungen im Netz?«

»Ich kenne nur das Internet, also Google und Co.«

»Genau, Hanna, das ist das sogenannte Clear Web. Es macht aber nur einen Bruchteil vom gesamten Netz aus.«

»Und der Rest?«

»Es ist das Deep Web und nimmt etwa neunzig Prozent im Internet ein. Darin befinden sich Firmendatenbanken, Streaming-Server sowie Online-Speicher.«

»Also auch die schmutzigen Seiten, um die es uns beiden geht?«

»Nicht wirklich, Hanna. Grundsätzlich steht das Deep Web allen offen. Viele Inhalte sind jedoch geschützt, um zum Beispiel Unternehmensgeheimnisse oder auch Journalisten in kritischen Ländern zu schützen. Ich kann mir vorstellen, dass auch dein Arbeitgeber diese Option nutzt. Die schmutzigen Inhalte findest du in der dritten Kategorie, im Darknet, ein vergleichsweise kleines Teilstück des Deep Webs. Es ist nicht auf herkömmliche Weise auffindbar, die Kommunikation wird verschlüsselt. Die Urheber der Inhalte und die Besucher wollen anonym bleiben.«

An der Tür im Obergeschoss stand Cybergrooming – Zutritt nur für Autorisierte.

Joe öffnete mit seiner Datenkarte. »Willkommen in den schlimmsten Ecken des Darknet, Hanna.«

Vor mehreren Bildschirmen saßen paarweise ein Mann und eine Frau unter Kopfhörern mit Mikrofon. Einige drehten sich kurz um und nickten freundlich.

Hanna erschrak augenblicklich, als sie über den Schultern zweier Kommissare gezoomte Geschlechtsteile eines Mädchens in endoskopischer Deutlichkeit sah. Ein anderer Bildschirm zeigte die Penetration von einem Jungen an einem Baby. Auf dem Monitor gleich daneben war eine Frau zu sehen, die sich an einem Jungen verging.

Hanna erstarrte angesichts der unfassbaren Widerlichkeiten. Sie wusste, worauf sie sich in diesem Investigativprojekt eingelassen hatte, aber visuelle Details brauchte und wollte sie nicht, sie würde sie nie ertragen können. Sie stoppte. Am liebsten hätte sie den Raum verlassen, doch sie atmete tief durch und zwang sich, ihre Aufmerksamkeit dorthin zu verlagern, wo es gerade noch erträglich war.

Ein Team zoomte auf eine Tapete, dann auf eine Lampe. Offensichtlich waren da Anhaltspunkte für wiederkehrende Taträume. Auf einem anderen Monitor erschien eine Karte mit Kirche. Die Audiospur der Glocken wurden mit der in einem Tatraum verglichen. Bei Übereinstimmung hätte man den Tatort des Grauens. Die Kommissarin schüttelte verneinend den Kopf, wieder Fehlanzeige, wieder falscher Ort. Zahlenreihen flogen über einen weiteren Monitor, Suche nach Zugängen zu einem Portal, in dem Bilder, Videos oder Kinder angeboten wurden. Als Untertext die menschlichen Daten der Ware und die Preise.

Joe sah Hanna an und schwieg. Er wusste, was sie gerade durchmachte, das ging jedem so, auch den Neuankömmlingen in seinem Team. Sie musste sich fühlen wie in einer unwirklichen Welt, die für seine Mitarbeiter im Raum allerdings sehr real waren. Sie suchten Spuren mit dem Ziel, den nächsten Missbrauchsring zu zerschlagen und doch wissend, dass man dem Verbrechen nur hinterherlief. Gefahrenabwehr war in diesem digitalen Geschäft so gut wie nicht möglich. Man war froh, wenn es einmal zu einer Strafverfolgung kam. Selbst dann war die Beweislage schwierig.

»Wer macht das?«, fragte Hanna mit entsetztem Blick auf einen alten Mann, der sich an einem Jungen verging. Sie wandte sich sofort ab. »Sind das Pädophile?«

»Nicht unbedingt. Nicht jeder, der Kinder sexuell missbraucht, ist ein Pädophiler. Mehr als die Hälfte der sexuellen Übergriffe auf Kinder und Jugendliche werden von nicht-pädophilen Menschen begangen.«

»Ich dachte, es wäre die Mehrheit.«

»Nein, Hanna, viele sind ‚Gelegenheitstäter‘, die Kinder keineswegs als einziges Objekt ihrer sexuellen Begierde sehen.

Oftmals geht es diesen nicht-pädophilen Tätern ausschließlich darum, ihr Macht- und Manipulationsbedürfnis zu stillen.«

»Das heißt?«

Sie kannte die Antwort aber wollte sie von einem Polizeibeamten bestätigt wissen.

»Das Kind zu unterdrücken und für die eigenen Bedürfnisse auszubeuten. Die Sexualität kann dabei nachrangig sein, sie gehört dazu, um diese ungeheure Macht an einem wehrlosen Objekt auszuüben.«

Hanna nickte und blickte über die recherchierenden Beamten.

»Wie können deine Leute das nur ertragen?«

»Ausbildung ein halbes Jahr, bereit sein, das Undenkbare zu ertragen, lernen, Pornos im Team zu sehen und dabei die Emotionen erst gar nicht an sich heranzulassen oder sie zu mindestens unter Kontrolle zu halten.«

»Und wenn das nicht gelingt?«

»Wir bieten Supervision an, sie wird vermehrt und mit Erfolg in Anspruch genommen. Darüber hinaus gilt der Grundsatz der Freiwilligkeit, niemand wird zu diesem Dienst gezwungen.«

»Gibt es angesichts der Bilderflut im Netz genügend Beamte für die Auswertung?«

»Klares Nein. Einige Bundesländer weichen bereits auf ehemalige Polizeibeamte oder geschulte Freiwillige aus, anders ist das inzwischen auch nicht mehr zu bewältigen. Aber in diesem Raum geht es nicht nur ums Betrachten und Suchen, Hanna, denn die Gesetzeslage hat sich gerade geändert.« Sie sah ihn fragend an.

»Draußen an der Tür hast du Cybergrooming gelesen. So heißt das, wenn Erwachsene im Internet Kontakt zu Minderjährigen mit dem Ziel des möglichen Missbrauchs aufnehmen.«

Er erläuterte ihr, dass Minderjährige den Kontakt über Chatplattformen wie Knuddels, KIK oder Social-Media-Apps wie Instagram, Likee oder WhatsApp aufnehmen können. Oder bei Onlinespielen wie Fortnite, Clash of Clans, Quizduell oder Moviestarplanet.

»Jedes Kind, Hanna, das digital unterwegs ist, jedes Kind kann irgendwann damit konfrontiert werden und dabei selbst zum Täter werden – und die Eltern ahnen nichts.«

»Darüber solltet ihr die Eltern in dieser Republik informieren«, meinte sie.

»Das tun wir – aber du bitte auch in deinem Artikel.«

»Das werden wir, Joe. Aber es geht nicht nur um die Eltern, sondern auch um die Wahrnehmung der Erzieherinnen in den KITAS, Veränderungen an Kindern festzustellen, die auf Missbrauch schließen lassen. Wir werden auch über das neue Gesetz informieren, das schon den Versuch unter Strafe stellt, sexuelle Kontakte zu Kindern im Internet anzubahnen, dass die Zeit des straffreien Posings endgültig vorbei ist.«

»Das wäre ganz in unserem Sinne, Hanna. Damit wären wir bei dem, ich sage einmal, revolutionären Teil der neuen Gesetzeslage. Der Gesetzgeber hat verstanden, dass wir nur in die Portale hineinkommen, wenn wir in der Lage sind, einen sogenannten Vertrauensbeweis zu liefern, also in Form von Bildern und Videos. In der Szene heißt das Keuschheitsbeweis

»Klingt zynisch, Joe. An der Stelle war bisher Schluss, nicht wahr?«

»Richtig. Schluss, weil wir dazu selbst eine Straftat hätten begehen müssen. Mit realen Bildern, so viele wir davon haben, darf per Gesetz nicht gearbeitet werden, obwohl das für uns die einfachste Möglichkeit wäre, zumal es sogar Angebote von missbrauchten Opfern gibt, die ihren Beitrag zur Aufklärung leisten wollen. Aber auch das ist uns nicht möglich.«

Einen Moment glaubte Hanna so etwas wie Bedauern herauszuhören, doch sie schwieg.

Er erklärte weiter: »Wenn sich also die Taten nicht anders aufklären lassen, ist es künftig erlaubt, pornografische Videos und Fotos am Computer herzustellen und mit Zustimmung eines Gerichts zu veröffentlichen.«

»Wie weit seid ihr hier technisch? Ich stelle mir das ungeheuer schwierig vor.«

Joe führte sie zu einem Arbeitsplatz, an dem nicht geprüft, sondern gestaltet wurde.

»Das ist einer unserer Deep-Fake-Arbeitsplätze, über die wir mit unseren Kollegen in Köln verbunden sind. Die haben dort den größten Wissensvorsprung. Deep Fake ist das Lernen von künstlicher Intelligenz mit der Absicht, eine gezielte Fälschung zu erstellen. Die Maschine lernt, indem man sie mit den Bildern real existierender Menschen füttert. Aus diesen Daten erstellt sie dann künstlich generierte Körper und Gesichter.«

»Klingt gar nicht so schwer«, meinte Hanna, die die Umsetzung aber nicht sehen wollte. Realer und künstlich gestalteter Missbrauch hatte für sie den gleichen Schrecken.

»Weit gefehlt, Hanna. Echte Gesichter als Bilddateien zu erzeugen ist inzwischen in der Tat keine Magie mehr, du kennst das aus Kinofilmen. Kinderpornografische Fake-Bilder zu generieren, ist noch einmal eine ganz andere Hürde. So weit sind wir noch lange nicht. Der nächste Schritt ist dann die Produktion von kinderpornografischen Fake-Videos. Also dreißig Einzelbilder pro Sekunde zusammengeführt zu einem täuschend echten Endprodukt, so lautet die Herausforderung. Das schaffen die Studios noch nicht einmal realitätsnah bei künstlichen Fußballspielen.«

»Du weißt schon, Joe, dass es Gegenstimmen zu dieser neuen Möglichkeit gibt. Man fürchtet, dass durch die Nutzung von computergeneriertem Missbrauchsmaterial die Eintrittsschwelle in illegale Foren erhöht wird, mit der Folge, dass für die sogenannten Keuschheitsproben immer drastischere Darstellungen gefordert werden. Ich fürchte, es wird für die Keuschheitsprobe dann härteste Kinderpornografie gefordert, auch mit Säuglingen.«

»Noch schlimmer, Hanna, wir sehen ein neues Genre, die Hurt-Core-Filme, in denen Kindern absichtlich Schmerzen zugeführt und wenige Wochen alte Babys vor der Kamera gefesselt, missbraucht, geschlagen, gequält und gefoltert werden. Du willst das hier nicht sehen, denke ich.«

»Keinesfalls, Joe, erspare mir das! Über die Hurt-Core-Szene kann ich auch ohne Bilderkenntnis schreiben. Unseren Lesern wäre das auch nicht zuzumuten. Wir wollen informieren und Bewusstsein schaffen, aber im Rahmen des Zumutbaren, sonst geht der Schuss nach hinten los.«

Joe nickte. Das gleiche Problem hatte die Staatsanwaltschaft bei jeder öffentlichen Bekanntgabe eines Missbrauchsfalles. »Weil wir all das hier niemals akzeptieren werden, Hanna, kämpfen wir um jede einzelne IP. Allein darum geht es, um die begehrte Kinokarte.«

»Meinst du, dass die digitale Herausforderung überhaupt zu schaffen ist?«

»Welche Wahl haben wir?«

Er führte sie von einer Arbeitsstation zu anderen. Hanna sah flüchtig über die Bildschirme und war froh, dass der Ton nicht hörbar war, sondern nur die Ohren der Auswerter traf. Die Teams wechselten und wiesen sich kurz ein. Hanna blickte Joe fragend an.

»Wir tauschen nach zwei Stunden aus, dann reicht es.«

»Ich glaube, mir reicht es auch, Joe. Welche anderen Möglichkeiten hat das BKA, um einen Kinderporno-Ring auffliegen zu lassen?«

Er nickte und sah auf die Uhr. »Wenn du keine Fragen mehr zu dem Geschehen hier hast, dann lass’ uns in die Cafeteria gehen. Dort berichte ich dir gern, was unser drängendstes Problem ist.«

Während er in der Cafeteria zwei Cappuccinos organisierte, versuchte sie Abstand von dem Erlebten zu gewinnen. Die Erkenntnisse waren immens wichtig für die Story. Jedoch waren es nicht so sehr die gewonnenen Informationen, sondern, die Menschen dort oben, die versuchten mit künstlicher Intelligenz und unglaublicher Motivation die Bösen im Darknet zu fassen. Nicht für alles Geld der Welt hätte sie mit den Kommissaren im Cybergrooming-Raum tauschen mögen. So etwas konnte man wohl nur leisten, wenn man zutiefst von der Sinnhaftigkeit dieser Art der digitalen Strafverfolgung überzeugt war.

In der Cafeteria saßen die meisten Menschen allein und kommunizierten mit ihrem Handy. Wären nicht einige Bilder mit Polizeirelevanz an der Wand gewesen, hätte man glauben können, man sei in der Cafeteria eines Unternehmens. Hanna fühlte, dass sie nicht besonders wahrgenommen wurde. Vielleicht glaubte man, sie sei eine von ihnen.

Joe stellte die dampfenden Getränke auf den Tisch.

»Zu deiner Frage, Hanna. Wir haben glücklicherweise Vereinbarungen mit anderen Staaten zum Datenaustausch. Der wichtigste Partner sind die USA. Da liegen die größten Server dieser Welt, und von dort blickt die NSA in die Welt. Die US-amerikanischen Internet-Anbieter und auch große Netzwerke wie Facebook haben sich verpflichtet, kinderpornografisches Material an das National Center for Missing and Exploited Children (NCEMC) zu liefern. Stellt diese Behörde nun fest, dass ein Täter aus dem deutschen Internetraum kommt, meldet sie es an uns in Wiesbaden. Im letzten Jahr erreichten uns 62.000 Meldungen, das ist immerhin eine Verdreifachung innerhalb von drei Jahren …«

»Wobei man allerdings konzedieren muss«, warf Hanna ein, »dass inzwischen mehr Fälle digital erfasst werden, die absolute Zahl also nicht zwingend höher sein muss.«

»Vollkommen richtig, aber wie auch immer die wahren Fallzahlen sind, bis die Informationen hier verarbeitet werden können, sind die IP-Daten in der Regel gelöscht, und die Ermittlungen verlaufen im Sand. Warum? Weil wir sie nicht speichern können!«

»Womit wir bei der Vorratsdatenspeicherung wären.«

»Ja, Hanna, du kennst natürlich die aktuelle juristische Auseinandersetzung in der EU darüber. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten mit EU-Recht nicht vereinbar ist. Nach nationalem Recht könnten wir zehn Wochen speichern, aber wegen des juristischen Durcheinanders sind wir blockiert. Jeden Tag verlieren wir greifbare Chancen.«

»Wie viele, Joe?«

»Auf das Jahr gerechnet um die zehntausend. Das klingt nach banaler Statistik, aber hinter jedem Bild oder Video steht ein realer Missbrauch. Uns wird die IP aus den USA sozusagen auf dem Silbertablett präsentiert, und bevor wir dran sind, ist sie vom Netzanbieter gelöscht.«

»Das wäre nach welcher Zeit?«

»Geh‘ mal von drei Tagen aus – wenn wir Glück haben. Eine juristische Entscheidung zu diesem Thema sehen wir angesichts der vielen Klagen auf absehbare Zeit nicht mehr. In diesem Europa geht Datenschutz vor Kinderschutz. Also werden wir weiter in mühseliger Kleinarbeit selber versuchen, an eine IP heranzukommen.«

»Unglaublich, Joe, was für ein Aufwand.«

»Was Kleinarbeit heißt, das hast du heute bei uns als erste und einzige Journalistin gesehen.«

»Danke, Joe, das weiß ich zu schätzen.«

»Gern geschehen, Hanna. Die Welt dreht sich durch das unkontrollierte Internet in eine schlimme Richtung, wir kommen nicht nach. Die Provider müssen uns nicht einmal kinderpornografische Inhalte melden, es ist hoffnungslos!«

Dabei blickte er sich in der Cafeteria um. BKA-Chef Mönch war eingetreten und saß etwas weiter im Gespräch. Er zeigte Hunter diskret an, dass er keinen persönlichen Kontakt mit der Besucherin haben wolle.

»Vielleicht gelingt es dir in deiner Recherche, Hanna, die Leidensfrage der Deutschen zwischen dem Verhältnis von Grundrechten und der Sicherheit von Menschen mit einem neuen Blick zu betrachten, insbesondere, wenn es um die Schwächsten geht, um unsere Kinder.«

Hanna schwieg. Dann fragte sie unvermittelt. »Wie viel Zeit in der Vorratsdatenspeicherung braucht ihr?«

»Andere europäische Staaten speichern sechs bis zwölf Monate. Sechs Monate, Hanna, wenigstens einhundertachtzig anlassbezogene Speichertage, und wir hätten viele an der Angel.«

Als er sie zum Ausgang des Amtes führte, zog er verlegen einen Reiseführer über den Camino Francés aus der Jackentasche.

»Du willst den nicht wirklich ganz lesen«, meinte er. »Aber denk’ wenigstens an die Wandersocken. Achte auf einen Strumpf mit Fersenlasche, sie verhindert, dass die Socke im Schuh rutscht.«

Sie gab ihm die Hand.

»Natürlich werde ich ihn durcharbeiten. Du bist lieb, Joe, danke für diesen Tag.«

»Wir sehen uns in Saint-Jean-Pied-de-Port, Frau Feldmann.«

Jakobs Weg

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