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7. SAINT-JEAN-PIED-DE-PORT

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– Camino –

Die internationale Pilgerschar strömte aus dem Bahnhof der französischen Stadt Bayonne. Das nächste Ziel, Saint-Jean-Pied-de-Port, lag eine Stunde Zugfahrt entfernt. BKA-Kriminalhauptkommissar Joe Jaeger, genannt Hunter, blickte missmutig nach oben. Es schüttete wie aus Kübeln. Dabei hatte er sich auf den Anblick der nahen Pyrenäen gefreut. Der Himmel gab einen Vorgeschmack auf das, was ihn erwarten könnte.

Endlich! Ende der langen Anreise. Das Bahnhofsschild von Saint-Jean-Pied-de-Port nahm er unter seiner runden und wieder einmal beschlagenen Nickelbrille nur verschwommen wahr. Er überlegte, ob er sich einen Augenblick unterstellen sollte. Doch der kleine, kompakte weiße Bahnhofsbau mit seinen roten Türen und Fensterläden bot nicht den geringsten Schutz. Der Bau strahlte regelrecht aus: Pilger mach‘ dich auf den Weg, auch wenn es ungemütlich wird.

Hunter zog seinen dunkelgrünen Poncho über und die Kapuze eng an das Gesicht. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass der Wind den Regen in den Nacken drückte. Er würde nass sein, bevor die Pilgerreise überhaupt begann. Doch die aufgekratzten Menschen um ihn herum lachten, als gehörte diese Flut zur ersten Prüfung des Heiligen Jakobus. Eine Frau, offensichtlich aus den USA, rief ziemlich hysterisch in die Menge „Buen Camino!“ Das stand wohl so im Reiseführer für die Ankunft in Saint-Jean-Pied-de-Port, dachte er.

Auf der einundzwanzigstündigen Zugfahrt von Frankfurt nach Bayonne hatten sich die Wanderer schnell gezeigt. Man erkannte sie natürlich am Rucksack, doch einige Pilgerwanderer vor allem an deren Mitteilsamkeit. Sie erzählten ungefragt ihre Lebensgeschichte, so als wäre ein öffentliches Bekenntnis im Zugabteil über persönliche Schicksalsschläge die zwingende Voraussetzung für das Betreten des Jakobsweges. Wenn einer zu Ende gesprochen hatte, verstanden andere das als eine Aufforderung, sich ebenso zu outen. Tod in der Familie, Berufswechsel, Gottsuche, Ehekrisen, Selbstfindung und so weiter. Ein Mann im mittleren Alter meinte, seine einzige Motivation für die Pilgerfahrt sei es, eine Lebenspartnerin zu treffen: »Wenn es jemand mit mir über achthundert Kilometer aushalten wird, dann auch für den Rest des Lebens.« Einige lachten.

Hunter hatte gelesen, dass der Jakobsweg längst auch ein Weg für die Partnersuche sei und auf Apps wie Tinder eingesetzt wurde, um das Kennenlernen von Menschen in der näheren Umgebung zu erleichtern. Das Hobby-Wandern hatte man bereits gemeinsam, für das Kennenlernen gab es Zeit auf dem Weg und in den Herbergen.

»Ja«, meinte eine kleine, kompakte Frau mit kurzgeschorenem, grauem Haar und einem riesigen Rucksack: »Es ist ein wunderbares Wandern, wenn einer ist Kamerad des andern.« Hunter gehörte zu den wenigen Verschlossenen. Er wäre nie auf die Idee gekommen, über die schwere Zeit mit seiner sterbenskranken Frau hier zu unbekannten Menschen zu reden. Anderen Pilgern ging es offensichtlich ähnlich.

Er versuchte herauszufinden, ob unter den Verschlossenen ein Teilnehmer der Pilgergruppe ROSE, wie er sie für sich getauft hatte, sein könnte. Doch er wurde nicht fündig. Missbrauchstäter hatten keine spezifischen Wesenszüge, an denen man sie erkennen konnte, wusste er. Sie lebten perfekt getarnt in der Mitte der Gesellschaft und zeigten ihr wahres Gesicht erst im Gericht, wo ihnen der Spiegel über das durch sie verursachte Leid vorgehalten wurde.

Er erinnerte sich an den Kinderschänder aus Würzburg, der als Logopäde in 64 Fällen des Missbrauches für schuldig befunden wurde, dafür mehr als elf Jahre Haft bekam, und von dem der Richter gesagt hatte: »Der nach außen so angenehme Mann hat ganze Familien pulverisiert.« Erst am Ende des Prozesses zeigte der Täter eine gewisse Reue, aber wohl mehr um das Strafmaß zu senken.

Oder jener 27-jährige Mann, der im Kindermissbrauchsfall von Bergisch Gladbach gestanden hatte, vier kleine Kinder im Alter zwischen einem und fünf Jahren in über dreißig Fällen zum Teil schwer missbraucht zu haben, wofür er zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Immerhin hoffte auch der, »dass die Kinder das verarbeiten könnten.«

Was für eine verzerrte Wahrnehmung! Hunter kannte zu viele geschändete Kinder, die den physischen Missbrauch zwar überstanden hatten, aber nicht die Gewalt an ihrer Seele. Kinder, denen für immer etwas Zentrales genommen worden war, was ihnen die so wichtige Bodenhaftung gab. Kinder, die später im Leben privat oder beruflich scheiterten. Immerhin wurde jener Soldat in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen und würde nie wieder Kindern Schaden antun können.

Und was ist mit denen, die ihre Strafe abgebüßt haben und vielleicht sogar vorzeitig wieder freikommen? Hunter kannte die hohe Rückfallquote bei Triebtätern. Er dachte an seine dreizehnjährige Enkeltochter Marta in Wiesbaden, die ihm angesichts seiner überbordenden Sorge, sie vor Missbrauch im Netz und auf der Straße zu schützen, inzwischen vorhielt, dass er sie nerve. Wie sollte sie auch wissen, was er täglich erlebte. Er konnte nicht einmal ermessen, ob und wie tief sie mit ihren vielen Chat-Gruppen auch über Sexthemen im Gespräch war.

Hunter verließ den Bahnhofsbereich, marschierte in den Ort hinein und tat so, als würde ihm der Dauerregen nichts ausmachen. Er besah seine ledernen Wanderschuhe, sie schienen dicht zu sein, trotzdem vermied er die tiefen Pfützen. Die Jeans waren durch den Poncho einigermaßen geschützt wie auch der Rucksack, von dem es hieß, dass er regendicht sei, was allerdings noch zu beweisen war. Hunter konnte sich nicht erinnern, dass er jemals so penibel seine Ausrüstung geprüft hatte. Aber der Jakobsweg war auch seine erste größere Wandererfahrung, die auf keinen Fall an einer falschen Ausrüstung scheitern sollte.

Plötzlich rannten die Menschen los. Sie hatten das Pilgerbüro entdeckt, in dem es die begehrten Pilgerpässe gab. Hunter nahm das belustigt zur Kenntnis und folgte dem Weg zum vorgegebenen Treffpunkt, dem von ihm reservierten Hotel Pilgrim. Seine Hand glitt wieder einmal prüfend nach rechts unten. Die Dienstwaffe saß fest im Holster. Er fasste auf seinen Gürtel, aus dem das dort versteckte GPS-Modul stets seine Position an Heike Rauch in Wiesbaden meldete. Er hatte nun – ein Tag vor dem anberaumten Treffen – genügend Zeit, sich auf den Jakobsweg einzustimmen.

»Monsieur Ballhaus, willkommen in Saint-Jean-Pied-de-Port.« Der Portier gab Hunter die Nummer für sein Bett und führte ihn mit anderen Pilgern in den Schlafsaal. Hunter hatte auf ein Einzelzimmer gehofft, aber die schien es gar nicht zu geben. Das Hotel war für Pilger ausgelegt, die täglich in großer Zahl an- und abreisten.

Er überflog den Raum und schätzte ihn auf dreißig Schlafplätze. Auf vielen war bereits Gepäck gelagert. Er registrierte ein Kommen und Gehen in einem internationalen Sprachmix. Hunter beließ es bei einem freundlichen Bonjour. Er sah sich um. Vermutlich war er nicht der Einzige der Gruppe ROSE, der bereits am Vortag anreiste. Der mit Stockbetten gefüllte, große Raum machte einen sauberen Eindruck, der sich durch einen kurzen Blick in die sanitären Anlagen bestätigte.

Neben ihm unterhielt sich ein Paar auf Deutsch. Der Mann stützte sich auf seinem Gehstock ab und sah ihn unvermittelt interessiert an.

Hartmann … »Das musste Dr. Johannes Hartmann sein, der Internatsleiter von Maria Hilf«, dachte Hunter. Der Mann sah kränklich aus, aber kein Zweifel: Er war es.

Hunter lächelte freundlich zurück, legte seinen Rucksack ab und verließ das Hotel. Auf keinen Fall Kontaktsuche heute! Seine Mission würde morgen Abend um 18:00 Uhr als Gerd aus Deutschland starten. Allerdings gab er die Nachricht über das Eintreffen von Hartmann in Begleitung einer von ihm präzise beschriebenen Frau an Wiesbaden durch.

»Augenblick, habe ich gleich«, sagte Heike.

Wenig später sah er das Foto auf dem Handy.

»Ja, Treffer, Heike, das ist sie.«

»Christiane Hartmann, Verwaltungsangestellte im Internat, seine Schwester. Unverheiratet, keine Kinder, nicht vorbestraft, keine Besonderheiten. Was will die denn auf eurem Ausflug?«

»Das wird sich zeigen, Heike. Doch so wie er ausschaut, braucht er wohl eine Krankenschwester.«

Der Regen war einer warmen Nachmittagssonne gewichen, die das Nass auf der Straße zum Dampfen brachte. Auf einer Informationstafel lernte er, dass die kleine französische Stadt am Fuße der Pyrenäen für den Endpunkt des Französischen Jakobsweges Via Podensis und für den Beginn des Camino Francés stand.

Hunter verfolgte auf der Informationstafel den anstehenden 27 Kilometer langen Weg auf der Route Napoleon über den Ibañeta-Pass in das spanische Roncesvalles. Die Legende der Karte gab dafür eine Wanderzeit von sechs Stunden und siebzehn Minuten an. Dabei hatte Google wohl die achthundert Höhenmeter nicht berücksichtigt, dachte er.

»Wollen Sie auch die Pyrenäen überqueren?«, fragte ihn plötzlich eine Stimme von hinten.

Hunter ließ sich nichts anmerken, als er in Hartmanns Gesicht sah. Der Mann war allein.

»Ja, wenn das Wetter mitspielt. Sonst marschiere ich wohl auf der N 135. Das Pilgerbüro soll angeblich wissen, ob der Pass gesperrt ist.«

»Ach, das ist gut zu wissen. Wussten Sie, dass Karl der Große im Jahr 778 den Pass auf seinem Feldzug nach Spanien erreicht hat? Also sollten wir es auch schaffen. Ich starte übermorgen und Sie? Mein Name ist übrigens Johannes.«

»Angenehm, ich bin Gerd. Dann werden wir uns sicherlich sehen. Ich starte auch übermorgen früh – mit einer Gruppe.« Hunter bemerkte, wie Hartmanns Augen ihn noch stärker fixierten. Er spürte förmlich, wie sein Gegenüber seine Wiedererkennungserinnerung bemühte. Doch das war vollkommen aussichtslos. Hunter war für ihn kein Gesicht aus Maria Hilf und schon gar nicht als Ermittler im Fall. Das schien ihn äußerst nervös zu machen. Das Psycho-Spiel Wer-Ist-Wer hatte begonnen, bevor es offiziell anlaufen sollte.

»Also, dann, Buen Camino, Johannes!«

»Buen Camino, Gerd, bis übermorgen!«

Im Weggehen sah Hunter, wie Hartmann telefonierte. Auch schien der besser zu Fuß zu sein, als es zunächst im Hotel den Anschein hatte.

Hunter folgte den mittelalterlichen Gassen bis zur hölzernen Markthalle, wo die Lebensmittelprodukte der unteren Navarra angeboten wurden. Er genoss es, in einem Ort ohne die bekannten Einkaufsketten zu sein. Die Türen zu den kleinen Werkstätten standen offen. In einem Werkstattladen nähte eine Frau Espadrilles. Er sprach mit ihr und lernte, dass es regelmäßig Pilger gab, die mit diesen traditionellen baskischen Alltagsschuhen tatsächlich den Jakobsweg erwanderten.

Der ganze Ort war auf Pilger ausgerichtet. Pilger-Herbergen, Pilger-Menüs, Pilger-Ausrüstung. Verärgert stellte Hunter fest, dass die Schuhe, Wanderstöcke und Textilien preislich deutlich günstiger lagen als zu Hause, einschließlich der Pilgermuschel, auf die er allerdings verzichtet hatte. Wer auf dem Jakobsweg wanderte, der musste sich nicht noch öffentlich mit dem Erkennungszeichen der Pilger dekorieren, war sein Standpunkt.

Doch seiner Enkeltochter Marta, die in der Zeit seiner Abwesenheit von seiner Haushälterin in deren Wohnung betreut wurde, hatte er einen Pilgerpass mit vielen Stempeln versprochen – ein kleiner Ersatz dafür, dass sie ihn nicht begleiten durfte.

»Sie wissen, warum Sie den benötigen?«, fragte ihn der Leiter des Pilger-Büros.

»Nun, damit ich in Santiago de Compostela eben die Compostela-Pilgerurkunde bekomme, als Nachweis, dass ich den Weg wirklich gepilgert bin.«

»Richtig, und zwar die letzten einhundert Kilometer auf dem Camino zu Fuß, zu Pferd oder im nicht motorisierten Rollstuhl oder zweihundert Kilometer per Rad.«

»Die Kirche hat tatsächlich an alles gedacht«, meinte Hunter lachend.

»Die Stempel bekommen Sie in den Unterkünften und Kirchen am Jakobsweg. Vergessen Sie nicht: Auf den letzten einhundert Kilometern benötigen Sie dann täglich Stempeleinträge von zwei Orten.«

»Warum diese Stempelwut?«, fragte Hunter.

Der Baske lächelte.

»Damit Jakobus nicht zu leicht betrogen wird … Oder wollen Sie eventuell gar nicht bis nach Santiago pilgern?«

»Stimmt, ich wandere nur bis nach Burgos. Mir geht es, offen gestanden, auch nicht um die Urkunde in Compostela. Meine Enkeltochter hat sich einen Pilgerpass mit den Stempeln meiner Wanderung gewünscht.«

»Dann erzählen Sie ihr auch von Ihren Erlebnissen und Selbsterfahrungen.«

»Sofern ich mich überhaupt selbst erfahre«, meinte Hunter freundlich, den leeren Pilgerpass durchblätternd.

Der Baske lächelte ihn von oben bis unten musternd an. Er kannte offensichtlich Pilger jeglicher Herkunft. Immerhin starteten jedes Jahr über sechzigtausend von hier.

»Wer wandert, wird sich verwandeln, auch du.«

Hunter nahm diese Weisheit nur nebenbei zur Kenntnis und sah sich im Pilgerbüro um. Tatsächlich interessierte er sich mehr für die Menschen. Er war froh, dass seine konspirative Mitarbeiterin und Journalistin, Hanna Dohn, morgen am 13. Mai, dem Tag der allgemeinen Anreise, eintreffen würde. Hunter lachte in sich hinein, als er an die gemeinsame Doppelrolle dachte. Für ihn, alias Gerd Ballhaus, war der Gebrauch eines Pseudonyms gelebter Alltag. Aber für Hanna Dohn, nun Maria Feldmann, keineswegs. Gerd und Maria, inhaltlich bestens vorbereitet und durchgehend mit dem BKA verbunden, waren das erste Pilgerpaar des Amtes auf dem Jakobsweg.

Als er das Büro verließ, wurde er von einem kleinen Hund begleitet. Nachdem der auch einige hundert Meter weiter nicht von ihm abließ, blieb Hunter stehen und schaute sich nach dem Besitzer um. Niemand suchte ihn. Der mittelgroße Hund mit glattem, braunem Fell trug kein Halsband. Hunter schüttelte den Kopf, der Hund wackelte mit dem Schwanz und fixierte ihn mit seinen tiefbraunen Augen, wobei ein Ohr leicht hochstand, das andere lag flach an.

»Ich habe nichts für dich, lauf nach Hause!«

Der Hund stand weiterhin wie angewurzelt vor ihm, hielt den Kopf leicht schräg und wedelte weiter mit dem Schwanz. Aus seinem Gebiss ragte leicht ein seitlicher Zahn heraus, was ihm den Anschein eines ständigen Lachens gab.

Hunter wandte sich ab und suchte den Weg zur Brücke über den Fluss Nive.

Der Hund folgte ihm.

Hunter blieb erneut stehen und wies ihm nun energisch den Weg in die entgegengesetzte Richtung. Der Hund blickte ihn wedelnd an.

»Dich werde ich gleich los«, murmelte Hunter, als er die Kirche Notre-Dame betrat und sich vergewisserte, dass sich der Hund nicht an seine Ferse geheftet hatte. Tatsächlich blickte der kurz zu ihm, gab auf und verschwand.

Als Hunter die Kirche verließ, sprang der Hund erfreut auf ihn zu.

Sie liefen gemeinsam auf der Wehrmauer entlang, sodann zur Zitadelle, wo der Hund wieder auf Hunter wartete. Es war Zeit, das Tier endgültig loszuwerden.

»Wissen Sie, wem der Hund gehört?«, fragte er den Leiter des Pilgerbüros.

Der Baske sah sich den Hund an.

»Nein, er scheint herrenlos zu sein. Eine typische Promenadenmischung, etwas Ratonero, etwas Galgo, davon gibt es hier einige. Sehr hübsch, vielleicht ein Jahr alt und offensichtlich sehr aufgeweckt.«

»Gibt es hier ein Tierheim?«

»Soviel ich weiß, nein.«

»Und nun? Der weicht nicht mehr von meiner Seite.«

»Dann hat er sich Sie ausgesucht, Pilger.«

»Das wüsste ich aber! Tun Sie mir bitte einen Gefallen. Ich gehe jetzt hier hinaus, und Sie halten bitte einen Moment die Tür geschlossen, bis ich verschwunden bin.«

»Wie Sie mögen, Monsieur.«

Hunter eilte die Rue de la Citadelle hinunter, sodann in die Rue de France, drehte sich um – seinen Begleiter war er los – und suchte sich einen Platz im baskischen Restaurant Chez Dédé, das von der Hauptstraße aus nicht sichtbar war. Das einfache Menü mit liebevoll zubereiteten Qualitätsprodukten und einem trockenen Hauswein entschädigte ihn für die Strapazen der Anreise und der lästigen Begegnung mit dem Straßenhund.

Das Lokal war inzwischen gut mit Pilgern gefüllt, die ihr Abendessen einnahmen, bevor es am nächsten Tag auf den Camino ging. Das Leben in diesem malerischen baskischen Städtchen war so ganz anders, als er es in Deutschland gewohnt war. Es waren nicht die warmen Mai-Temperaturen, die hier mittags in Saint-Jean-Pied-de-Port schon bei 28 Grad Celsius lagen, auch nicht das internationale Stimmengewirr, das die Stadt beherrschte oder das Klappern der Wanderstöcke.

Er kam aus einer Welt der Ordnung und Perfektion, der Eile und Unverbindlichkeit. Hier in Saint-Jean-Pied-de-Port atmete er eine Atmosphäre ein, die er von Beginn an als zutiefst positiv empfand. Das war wohl den Pilgern geschuldet, die alle ihren individuellen persönlichen Traum verwirklichen wollten. Noch waren die Pyrenäen nicht überquert, noch gab es keine physischen Beschwerden, noch war die Ausrüstung nicht getestet. Eine oft monatelange Vorbereitung würde sich jetzt beweisen. Diese leise Vibration, so spürte er, zog sich durch die schmalen Gassen bis in die Unterkünfte, Tag für Tag mit immer neuen Gesichtern. Hier machte man nicht Urlaub, hier war man in einer Art Pole-Position. Das Ziel war auf dem Pass die französische Pilgerherberge Orisson oder die spanische Herberge in Roncesvalles.

Routinemäßig griff Hunter wieder an sein Bein zur Waffe, als seine Hand von etwas geleckt wurde. Erschrocken zog er sie zurück. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«

Der verdammte Straßenköter lag an seinem Fuß, blickte ihn an und wedelte mit dem Schwanz.

»Oh my God!«, rief eine junge Frau vom Nachbartisch. »Was für ein schöner Hund und so lieb! Wie alt ist Ihr Hund?«

Hunter sah sie achselzuckend an. »Ich habe keine Ahnung. Das Tier gehört mir nicht, ist ein Straßenhund von hier … Er passt übrigens gut zu Ihnen.«

»Nein, nein, ich komme aus New York! Aber sehen Sie nicht, er hat Durst und wahrscheinlich auch Hunger.«

»Meinen Sie?«, fragte der mit Hunden vollkommen unerfahrene Hunter.

Der Kellner beobachtete grinsend das Geschehen und kam mit einer Schale Wasser zum Tisch. Hunter bedankte sich. Er zögerte, bevor er dem Hund mit spitzen Fingern ein Fleischbällchen reichte. Nicht weil er Angst vor einem Zuschnappen hatte, der Hund agierte sehr behutsam, sondern weil in ihm eine Alarmglocke schrillte: Tue es nicht!

Andererseits würde sich das Problem mit der anstehenden Wanderung ohnehin lösen. So nahm er in Kauf, dass der Hund ihn zum Hotel begleitete und sich dort brav in Sichtweite der Tür hinlegte. Hunter drehte sich noch einmal um, wies mit ausgestrecktem Arm die Straße hoch: »Jetzt mach, dass du nach Hause zu deinen Geschwistern kommst!«

Der Hund sah ihn mit seinen großen, braunen Augen an und legte seinen Kopf auf die übereinander gekreuzten Vorderpfoten.

Bevor Hunter zu Bett ging, schaute er noch einmal auf die Straße. Sehr gut! Der Hund war verschwunden.

Nur für Heike hatte er diesen Ping-Ton auf seinem Handy eingerichtet, der sich gerade meldete. Längst hatte er darauf gewartet, denn heute war Entscheidungstag.

Bevor er Wiesbaden verlassen hatte, hatte er grünes Licht für eine gezielte Penetration in eine vielversprechende Darknet-Seite gegeben. Die Computersimulation mit einer Reihe pornografischer Bilder war nach langer Arbeit perfekt gelungen, der richterliche Beschluss beantragt. Heute sollte der digitale Zugriff sein. Er wusste, dass sein Star-Team von anderen Kolleginnen und Kollegen umgeben sein würde. Sie alle würden gebannt mitverfolgen, ob das BKA auf diese neue Weise erstmals in die Welt des Grauens eintreten konnte, um dann zuzuschlagen. Wahrscheinlich war sogar der Chef selbst anwesend.

»Schlechte Nachrichten, Hunter. Unser Cyberprojekt ist aufgeflogen!«

»Wie ist das passiert, Heike?«

»Die NSA hat uns unterrichtet, dass wir von mindestens vier Hackern getrackt worden sind. Unsere Bilder waren zwei Minuten im Portal, dann war Feierabend. Das Portal ist unerreichbar für uns, unsere Bilder sind verloren.«

»Und damit sechs Monate Arbeit«, stöhnte Hunter. »Wie geht es meinen Leuten?«

»Die waren zunächst vollkommen geknickt. Der Chef höchstpersönlich hat ihnen Sonderurlaub angeboten, keiner hat ihn angenommen. Sie arbeiten nach dem Motto: Jetzt erst recht!«

Hunter hatte sich nach diesem Schock wieder gefasst.

»Gibt es Erkenntnisse, wer der Kopf im gegnerischen System ist?«

»Die Amis berichten, dass die Warnung vor polizeilichen Fake-Bildern an einen Zeus gegangen sei. Anschließend sei wohl ein Bitcoin-Transfer erfolgt. Absender und Adressat sind unbekannt.«

»Also so läuft das, wer uns erwischt wird belohnt. Das wird doch immer verrückter! Wir jagen uns gegenseitig. Also gut, unsere Jagd auf den Typen, wie heißt der noch …?«

»Zeus.«

»Richtig, Zeus … der oberste Gott im Olymp, Weidmannsheil!«

Hunter konnte schlecht einschlafen. Der Gast im Etagenbett über ihm wälzte sich und sprach schließlich im Schlaf. Hunters Gedanken drehten sich im Kreis. Er suchte nach dem Fehler. Was war in Wiesbaden verkehrt gelaufen? Woran hatte die Gegenseite gemerkt, dass die Bilder Fake waren? Waren die Kollegen bei der monatelangen Arbeit betriebsblind geworden? Nein, denn zwei Cybercrime-Experten aus Köln, die das Ergebnis nie zuvor gesehen hatten, bescheinigten dem Endprodukt absolute Echtheit. Seine Leute mussten unbedingt herausfinden, warum der digitale Vertrauensbeweis misslungen war. Der gleiche Fehler durfte nicht noch einmal geschehen.

Hunter trauerte den Zeiten nach, als die Jagd nach dem Täter noch durch kriminalistischen Spürsinn von Angesicht zu Angesicht erfolgte und war jetzt umso mehr entschlossen, den Jakobsweg zu einer erfolgreichen Mission werden zu lassen. Morgen würde die Jagd eröffnet.

Jakobs Weg

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