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6. ZÜRICH

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– Aufbruch –

Iris sah ihn unten im Bootshaus sitzen. Sie ging zu ihm und warf ihm die Zeitung auf den Tisch. Er blickte seine Frau erstaunt an. Ihre Haltung war die personifizierte Verachtung. An diesem Wochenende war sein Porträt in der Zürcher Zeitung erschienen. Sie hatte es nur überflogen: Herbert von Bellheim, der Mann der Woche zum 65. Geburtstag. Vorstand der Helvetia Re-Versicherung, Vorstand im Kirchenrat und nach diversen Missbrauchsfällen in der Schweiz Verwaltungsrat im Überwachungsgremium der Schweizer Internate. Jemand, der in der Tafel mithalf und – es hieß – einer der wenigen Deutschen, der von den Schweizer Nachbarn akzeptiert wurde. Das Foto zeigte das sympathische Gesicht eines graumelierten Herrn vor dessen Bootshaus am Züricher See an seinem Landsitz in Uerikon. Das Profil eines Mannes, der es in jeder Hinsicht geschafft hatte und zudem im Konzern insbesondere wegen seines menschenorientierten Führungsstiles äußerst beliebt war. Alles in allem ein hochgeschätzter Manager in der Schweiz.

Der Bericht widerte sie geradezu an, denn das andere Bild kannte nur sie. Ihr Mann brauchte schon seit Beginn ihrer inzwischen fünfundzwanzigjährigen Ehe kleine Jungs. Sie wusste nicht, wie und wo er sie sich besorgte, aber seine abendlichen Aktivitäten im Internet, die er geradezu dilettantisch zu rechtfertigen versuchte, seine Abwesenheiten, die er als Geschäftsreise deklarierte, oder die Abende, an denen er spät zu Hause erschien, waren zu offensichtlich.

Irgendwann hatte er ihr gestanden, dass er pädophil sei, solange er denken könne. Sie hatte ihm eine Therapie abgerungen, die jedoch am Ende nichts erbrachte. Der Therapeut hatte ihm gesagt, Herbert besitze seit seiner Jugend eine pädosexuelle Präferenz, die sich nach Abschluss der Pubertät nicht mehr grundlegend verändert habe, und dass er es schwer haben werde, seiner Neigung nicht zu folgen. Pädophilie sei kein krankheitsbezogener Entschuldigungsgrund für Kindesmissbrauch, auch wenn das viele glaubten. Er müsse also unbedingt versuchen, sich zu disziplinieren, dabei könne eine neue Therapie helfen. Iris hatte darauf große Hoffnungen gesetzt. Sie wäre bereit gewesen, alles Widerliche zu vergessen, wenn es nur aufhören würde.

Nach der Therapie hatte ihr Mann ihr eröffnet, dass sich seine sexuelle Neigung therapeutisch nicht „abtrainieren“ lasse, aber der Therapeut habe ihm gesagt, wie man das Verlangen nach Kindern durch strikte Vereinbarungen mit sich selbst kontrollieren könne. Das wäre jetzt sein Ziel. Doch Herbert war weiter in seiner schmutzigen Welt unterwegs. Ihr wurde klar, dass ihr Mann den Kampf gegen die Pädophilie aufgegeben hatte.

Iris schützte den damals zwölfjährigen Sohn Holger vor den eindeutigen Versuchen des Vaters, sich ihm sexuell zu nähern, indem sie ihren Sohn auf ein Internat brachte, nicht in die Schweiz, sondern nach Deutschland. Sie hatte lange gezögert, nachdem bekannt geworden war, dass sich in dem Eliteinternat Odenwaldschule mehr als zwei Dutzend Lehrkräfte an über neunhundert Schutzbefohlenen vergriffen hatten. Aber in Deutschland hatte ihr Mann als Verwaltungsrat keinen Zugriff auf Internate. Sie entschied sich für das größte deutsche Eliteinternat, die Schule Schloss Salem. Dem Internatsleiter offenbarte sie, warum Holger eingeschult werde und dass der Vater keine Besuchsrechte in Anspruch nehmen werde. Herbert hatte sich darauf eingelassen. Welche andere Wahl hätte er auch gehabt?

In den ersten Jahren ihrer Ehe hielt sie noch zu ihrem Mann, doch am Ende verachtete sie ihn, weil er sich einfach nicht disziplinieren wollte. Auch empfand sie sein Versagen als persönliche Demütigung und Verrat an ihrem Leben. Sie suchte Wärme, er gab ihr Kälte.

Bei ihrem Liebhaber, einem namhaften Künstler aus der Züricher Musikszene, fand sie seit zwei Jahren Geborgenheit, Ehrlichkeit und Verlässlichkeit. Eigenschaften, die ihr bis dahin fremd geblieben waren. Ihr Mann wusste von der Beziehung und tolerierte sie. Er bat sie nur inständig um absolute Diskretion. Iris hielt sich daran, denn sein Geld und die Reputation als hochangesehene Vorstandsfamilie wollte sie nicht missen. Nachdem die Rahmenbedingungen geklärt waren, führten sie beide in gegenseitiger Missachtung ihr individuelles Leben, wissend, dass der Deal jederzeit zu Ende sein konnte. Sie wusste, dass in Zürich bereits über ihre Affäre geflüstert wurde, und Herberts zweites Leben war für sie alle ohnehin ein Tanz auf dem Vulkan.

»Ich werde in zwei Wochen eine Reise machen, Liebling.«

»Ach ja? Zu welcher Kindergruppe geht es denn dieses Mal?«

Er hatte eine derart bissige Antwort bereits erwartet, trotzdem schnitt ihm ihre Reaktion wie ein Messer durch die Brust, zumal sie sich nicht im Geringsten vorstellen konnte, was vor ihm lag.

»Ich werde auf dem Camino Francés pilgern.«

Sie sah in erstaunt an. »Du, auf dem Jakobsweg?«

»Ja, ich brauche Abstand und Ruhe auf der Suche zu meinem Ich.«

Zu seinem ICH …

Nun war sie doch fassungslos. Sie kannte zwei ICHs bei ihm. Das Gesicht des geachteten Vorstandsvorsitzenden in einer der weltweit größten Rückversicherungen und das eines Pädophilen, der Jungs missbrauchte und sich nicht in den Griff bekam.

Sie blickte auf seinen beträchtlichen Bauch. Die einzige Sportart, die er betrieb, war das Golfen, wobei er zwischen den Abschlägen von einem Golf-Caddy gefahren wurde.

»Du willst pilgern? Du? Warum kannst du nicht ein einziges Mal ehrlich sein?«

Er schwieg. Sie erwartete auch gar keine Antwort.

»Wie lange wird dein Weg zu dir selbst sein?«, legte sie spöttisch nach.

»Ich habe knapp 300 Kilometer vor mir und dafür etwa zwei Wochen eingeplant.«

Kopfschüttelnd ging sie in das Haus zurück.

»Herbert auf dem Weg zu sich selbst? Was glaubt er zu finden, außer wieder einen kleinen Jungen? Oder wollte er tatsächlich sein Leben verändern?«, dachte sie.

Zwei Wochen – die langersehnte Möglichkeit, einmal länger mit ihrer wirklichen Liebe zusammen zu sein.

Herbert von Bellheim zündete sich in seinem Bootshaus einen Zigarillo an und blies langsam den Rauch nach oben.

Hinter dem tiefblauen See erhob sich das schneebedeckte Bergmassiv einem Gemälde gleich. Unweit des windgeschützten Ufers lernten die Kleinen zwischen sieben und zwölf Jahren das Segeln auf Optimisten. Er zählte sie durch, es war problemlos möglich. »Wie eine Entenschar hinter der Gänsemutter«, dachte er. Der nächste Schritt wäre das Regattasegeln, der Grundstein für eine Karriere im Wettfahrtsegeln. Draußen blies offensichtlich ein starker Wind, den die Segelboote nutzten oder gegen den sie ankämpften. Er liebte diese Idylle, von der er allerdings ständig fürchtete, dass sie ihm jederzeit aus den Händen gleiten könne – wie sein gesamtes Leben. Er war höchst angesehen aber auch höchst einsam.

Die Frau, die an seiner Seite nur noch zum Schein lebte, war wieder ins Haus gegangen. Sein Vorstandsmandat neigte sich dem Ende zu. Und dann? Was würde bleiben? Die Suche im Netz nach immer neuen kleinen Gefährten, wie er sie nannte, wurde zunehmend riskanter.

Es war ein Leben wie auf einem Schleudersitz mit gesicherter Landung hinter Gittern. Er kannte den Artikel 189 auswendig: Wer eine Person zur Duldung einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft.

Schlimmstenfalls bekäme er eine anschließende lebenslange Verwahrung.

In der Knasthierachie, hatte er gehört, seien pädophile Sexualstraftäter ganz unten. Sie würden von den anderen Insassen gemieden, verachtet, schikaniert, verprügelt und schlimmstenfalls selbst Opfer von Vergewaltigungen. Viele wollen mit Sexualstraftätern nichts zu tun haben, hieß es, besonders nicht mit Kinderschändern. Im leichtesten Fall lehnten sie Arbeitsverhältnisse mit Pädophilen ab und würden sie mobben. Für die Betroffenen blieben dann Tätigkeiten übrig, die keiner machen wollte, wie Putzen oder Aufräumen.

Er schüttelte sich allein bei dem Gedanken. Nach ROSE verhielt er sich vorsichtig, hinterließ keine Spuren, weder im Darknet noch bei den Treffs. Jetzt dieser Brief mit dem USB-Stick. Wie hatten sie seine Adresse gefunden? Möglicherweise waren ihm die ROSE-Ermittler von damals bereits auf den Fersen und suchten nach neuen strafbaren Handlungen. Davon gab es natürlich inzwischen Hunderte.

Herbert spürte, dass er müde wurde. Sollte er sich auf diese schmutzige Erpressung überhaupt einlassen? Wie würde die Forderung lauten? Welche Gegenleistung war von ihm zu erbringen? So gern würde er das Ermittlungsteam des Konzerns aktivieren. Doch für diese Art der persönlichen Erpressung existierte im Krisenhandbuch der Versicherung keine Checkliste.

Dann gab es noch dieses andere Gefühl, das ihn drängte, den Jakobsweg zu pilgern. Es hieß, dass der Weg eine Art Selbstreinigung sei. Sie fand vielleicht bei dem Erleben der Natur statt, an einem Wegekreuz, in Gesprächen mit anderen Pilgern oder mit sich selbst, vor allem aber in den Augenblicken der totalen physischen Erschöpfung. Vielleicht war der Jakobsweg seit Hape Kerkelings Buch Ich bin dann mal weg, längst auf eine Attraktion des Massentourismus reduziert, die man persönlich unbedingt erlebt haben sollte. Kerkeling hatte offensichtlich gefunden, was er suchte. Die Menschen nach ihm, hieß es, suchten jetzt ebenfalls und nahmen den Mainstream von über zweihunderttausend Pilgern pro Jahr allein auf dem Camino Francés in Kauf. Wie sollte man dort zu sich selbst kommen, fragte er sich.

Er war katholisch getauft, aber seinem Gott war er nie begegnet. Vielleicht würde sich Gott tatsächlich am Rande des übervölkerten Jakobswegs zeigen und ihm den Weg weisen, ihn von seinem Übel und seiner Schuld erlösen. Das kleine Kind in ihm wünschte sich nichts sehnlicher als eine Befreiung von seinem anderen Ich.

Er blies den letzten Zug seines Zigarillos aus, ließ den Artikel über sein Porträt ungelesen zurück und rief seinen Fahrer an, der ihn mit der gepanzerten Mercedes-Limousine zu einem renommierten Züricher Outdoor- und Travel-Geschäft chauffierte. Er musste sich von Grund auf neu ausstatten und ließ sich dafür ausführlich beraten. Geringes Gewicht bei maximaler Effizienz war die Devise. Im Mai war mit niedrigen und hohen Temperaturen, mit Schnee und Sonne und vor allem mit Regen zu rechnen. Er kaufte nur das Beste. Regendichter Rucksack, Poncho, Wandersocken, Zip-Wanderhosen, Fleece-Jacke, Sonnenhut, lange Unterwäsche, Hygiene- und Erste-Hilfe-Ausrüstung.

Herbert rechnete mit zehn bis zwölf Etappen nach Burgos. Da er Gemeinschaftsunterkünfte aus hygienischen Gründen, wegen der vielfach geschilderten unangenehmen Geräuschkulisse und auch wegen seines mindestens zweimaligen nächtlichen Toilettenganges verwarf, würde er sich jeweils in einer Pension einbuchen. Selbst dafür hatte er sich einen Schlafsack, einen Kopfkissenbezug und Handtücher aus besonders leichtem High-Tech-Material gekauft. Zusätzlich hatte er sich mit Desinfektionsmittel und Seife eingedeckt, obwohl das durch Covid-19 schwer getroffene Spanien den Herbergen und Restaurants am wiedereröffneten Jakobsweg rigorose Hygienevorgaben auferlegt hatte. Der erste Wandertest mit der neuen Ausrüstung war eine einzige schmerzhafte Erfahrung, besonders bergab.

Voller Sorge saß er tags darauf mit einer MRT-Auswertung beim Orthopäden.

»Sie haben eine fortgeschrittene Arthrose in beiden Knien, mein lieber Herr von Bellheim, dazu links einen lädierten Innenmeniskus und rechts eine akute Patella-Sehnenentzündung«, sagte der. »Kein Wunder, dass Sie Schmerzen haben. Mit Physiotherapie ist da nichts mehr zu machen. Nach der Pilgerwanderung rate ich dringend zu einem operativen Eingriff.«

Er verordnete ihm Knieschoner, Schmerzgel und Salben.

»Gut, dass Sie diesen leichten, knöchelhohen Gore-Tex Wanderschuh gewählt haben. Laufen Sie die neuen Schuhe unbedingt täglich ein. Jeden Tag etwas mehr, abends Fußpflege mit Latschenkieferfett.«

Er sei selbst einmal den Camino Francés durch die Pyrenäen gewandert und wisse seitdem, warum die wahren Pilger von einst einen Pilgerstock und ein Minimum an Gepäck mit sich führten.

»Schleppen Sie nicht mehr als zehn Prozent Ihres Körpergewichtes, also zehn Kilogramm, in Ihrer Verfassung besser maximal sieben Kilogramm.«

»Das sollte möglich sein«, meinte von Bellheim. »Ich plane, nur mein Tagesgepäck zu tragen, das sonstige Gepäck wird extern transportiert.«

Dabei hatte er keine Ahnung, wie die Pilgerwanderung ablaufen würde. Die vermuteten körperlichen Strapazen und noch mehr die vollkommene Ungewissheit über das Ergebnis der Pilgerwanderung machten ihm schon jetzt zu schaffen. Er hasste Projekte, die nicht bis zum Letzten durchdacht waren. Doch in diesem Projekt war er nicht mehr als ein Objekt ohne irgendeine Entscheidungskompetenz. Er würde laufen, sich schinden und martern, aber wohin und wofür?

Der Arzt sah seinen wortkargen Patienten kritisch an, wie der sich mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht die Schuhe zuknöpfte. »Wollen Sie nicht doch noch mit der Pilgerwanderung warten, mein Lieber? Wenn die Seele aus dem Takt ist, helfen auch keine Knie-Bandagen.«

»Keine Sorge, Doktor, mein Jakobsweg schließt die Überwindung von Knieschmerzen ein.«

Der Arzt überreichte ihm zum Abschied Magnesiumtabletten und sah ihm nachdenklich hinterher, als ahnte er, dass die Knieschmerzen seines Patienten dessen geringstes Problem werden würden.

Doch Herbert von Bellheim hatte sich für den Jakobsweg entschieden. Auf dem Weg nach Saint Jean würde er seinem Fahrer sagen, dass man einen Abstecher über Salem mache. Sein Plan war es, mit seinem Sohn Holger noch vor der Jakobsreise zu sprechen. Er fühlte, dass eine Klärung mit seinem Sohn die wichtigste Voraussetzung für eine Selbstreinigung war. Er überlegte Trautmann, den Leiter des Internates, höflichkeitshalber vorab zu informieren, hielt das dann aber für keine gute Idee.

Jakobs Weg

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