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Meier und Meier

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Hans Meier erblickte an einem 1. April in einem Krankenhaus im mittleren Ruhrgebiet das Licht der Welt. Seine Eltern hatten sich seit langem ein Kind gewünscht und die Hoffnung schon fast aufgegeben. So wuchs Hans Meier als Einzelkind wohlbehütet auf. Sein Vater arbeitete als Ingenieur auf einem großen Werk in der Nachbarstadt und seine Mutter gab ihren Beruf als Kindergärtnerin nach seiner Geburt auf. Hans war ein normales Schultalent und wechselte nach dem vierten Schuljahr zur Realschule, die er mit der sogenannten „mittleren Reife“ verließ.

Genau wie sein Vater war Hans sehr stark an allen technischen Zusammenhängen interessiert. Deshalb bewarb er sich bei der in seiner Heimatstadt ansässigen Maschinenbaufabrik Maschbau GmbH um einen Ausbildungsplatz als technischer Zeichner. Hans war groß, schlank, hatte dunkles Haar und blaue Augen. Die Mädchen mochten ihn gut leiden. Während seiner Schulzeit begeisterte er sich für den an der Realschule geförderten Handballsport, dem er lange erfolgreich verbunden blieb. Nach seiner Ausbildung ging er wieder zur Schule und schloss seine Schullaufbahn mit dem Fachabitur ab. Der alleinige Gesellschafter und Geschäftsführer der Maschbau GmbH, Harry Menzel, bot Hans an, sein Maschinenbaustudium zu finanzieren, wenn er sich verpflichtete, sowohl in den Semesterferien als auch mindestens fünf Jahre nach der erfolgreichen Beendigung seines Studiums für die Maschbau GmbH zu arbeiten. Hans willigte gern ein und nach dreieinhalbjähriger Studienzeit begann er dort seine Laufbahn als Ingenieur.

Während eines Tanzkurses lernte er seine spätere Frau Birgit kennen. Sie hatte sich sofort in Hans verliebt und ließ nicht locker. Sie war blond, ein bisschen mollig, 1,60 m groß und genauso alt wie Hans. Und Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. Im Alter von 22 Jahren gab Hans ihrem Drängen nach und die beiden heirateten. Birgit arbeitete in einem Krankenhaus als Nachtschwester. Für ihn hatten erst das Studium und dann sein Beruf absoluten Vorrang. So kam es häufig vor, dass sich die beiden unter der Woche gar nicht sahen, denn wenn Hans spät von der Arbeit nach Hause kam, hatte Birgit schon ihren Dienst angetreten. Zwei Jahre nach der Hochzeit stellte sich endgültig heraus, dass Birgit keine Kinder bekommen konnte. Sie schlug Hans vor, ein Kind zu adoptieren. Das lehnte Hans kategorisch ab, denn er hatte ganz einfach Angst davor, die Verantwortung für ein „fremdes Kind“ zu übernehmen. Die Ehe der beiden bekam daraufhin den ersten Knacks. Birgit legte sich ein halbes Jahr später als „Ersatzkind“ zwei Hunde der Rasse Pekinese zu. Diese Hunde, die früher einmal im alten China als Palasthunde Karriere machten, zeichneten sich vor allen Dingen durch Faulheit und Bequemlichkeit aus. Hans konnte die beiden Köter vom ersten Tag an nicht ausstehen. Diese Liebe beruhte auf Gegenseitigkeit. Sobald Hans abends nach einem langen Berufsalltag die kleine Wohnung betrat, kläfften die beiden Köter, bis sie müde wurden und einschliefen. Hans war verzweifelt.

Da kam die Rettung in Gestalt seines Schwagers Lothar Wind. Birgit hatte eine vier Jahre jüngere Schwester, die genau das Gegenteil von ihr war. Britta war fast zwanzig Zentimeter größer als Birgit, schlank und dunkelhaarig. Sie hatte schon im Alter von zwanzig Jahren einen zwanzig Jahre älteren selbstständigen Schreinermeister geheiratet und wurde nach zwei Ehejahren schwanger. Als der kleine Lothar das Licht der Welt erblickte, genügte die Wohnung der Winds nicht mehr den räumlichen Ansprüchen einer kleinen Familie. Da Lothar sehr gut mit seinem Schwager harmonierte, machte er Hans den Vorschlag, gemeinsam ein Doppelhaus zu bauen. Das passende Grundstück dazu hatte er von seinen Eltern geerbt. Da das Grundstück ziemlich genau zwischen dem Krankenhaus, in dem Birgit arbeitete, und dem Firmensitz der Firma Maschbau GmbH lag, stimmten Hans und Birgit sofort zu. Hans kaufte Lothar die Hälfte des Grundstücks ab und dann wurde umgehend der Bau der beiden Haushälften in Angriff genommen. Dabei hatte Birgit einen Hintergedanken. Sie kannte ihre jüngere Schwester ganz genau. Britta würde ziemlich schnell das Interesse an der Erziehung des kleinen Lothar verlieren. Und dann würde sie den Jungen großziehen. Ein Jahr später war das Doppelhaus bezugsfertig und die beiden Familien zogen ein. Für die Hunde hatte Lothar auf Bitten von Hans eine große Hütte im Garten gebaut, die die beiden Pekinesen allerdings mit Nichtbeachtung straften und jetzt auch Lothar als Erbauer bei jeder sich bietenden Möglichkeit anbellten.

Die Jahre zogen ins Land. Britta verlor, wie von Birgit vorausgesehen, sehr schnell das Interesse an Lothar jun. und widmete sich fast ausschließlich der Pflege ihres Körpers und der Auswahl ihrer Garderobe. Lothar sen. arbeitete von früh bis spät, um den aufwändigen Lebensstil seiner Frau finanzieren zu können.

Hans überraschte seinen Chef immer wieder positiv mit neuen Ideen, arbeitete fast jeden Tag zwölf Stunden und länger und verdiente sehr gut. Birgit hatte ihren Beruf aufgegeben und ging ganz in der Erziehung ihres Neffen und dem Verhätscheln ihrer beiden Palasthunde auf.


Heinz Meier erblickte an einem 2. April im selben Jahr wie Hans Meier das Licht der Welt. Seine Mutter lag mit Heinz im selben Zimmer der Entbindungsstation des Krankenhauses wie Hans mit seiner Mutter. Obgleich die beiden Familien nur drei Straßen voneinander entfernt wohnten, kannten sie sich vorher nicht. Da sich die beiden Mütter auf Anhieb sympathisch waren, vereinbarten sie, den Kontakt nach dem Verlassen des Krankenhauses nicht zu verlieren und sich regelmäßig zu besuchen. Und so wuchsen Hans und Heinz fast wie Brüder auf. Als Heinz sechs Jahre alt war und ebenso wie Hans eingeschult wurde, zogen seine Eltern in einen anderen Stadtteil, und Heinz besuchte deshalb eine andere Grundschule als Hans. Der Kontakt der beiden Jungen riss immer mehr ab, aber wenn sie sich trafen, verstanden sie sich weiterhin sehr gut. Heinz war ein ebenso guter Schüler wie Fußballer. Er wechselte zum örtlichen Jungengymnasium und spielte erfolgreich in der höchsten Jugendklasse Fußball. Nach dem Abitur wollte Heinz nicht sofort studieren, sondern erst einmal eine Ausbildung machen und Geld verdienen. Seine Eltern unterstützten ihn in seiner Entscheidung. Und so begann Heinz eine kaufmännische Ausbildung bei der Firma Maschbau GmbH, wo er wieder mit Hans zusammentraf. Allerdings sahen sie sich auch weiterhin sehr selten, denn ihre Interessen waren zu unterschiedlich. Aber sie schätzten sich und jeder der beiden wusste, dass er sich im Ernstfall auf den anderen verlassen konnte. Heinz bekam nach seiner Ausbildung von Harry Menzel das gleiche Angebot wie Hans, und so studierte er in der Nachbarstadt Betriebswirtschaftslehre. Heinz war mit seiner Größe von fast 1,90 m, seinen pechschwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen der Schwarm vieler Mädchen. Da er aber von Natur aus schüchtern und mehr der Typ Streber war, suchte er zum Leidwesen der jungen Damen nicht den Kontakt zum anderen Geschlecht. Nach seiner Überzeugung fehlte ihm dafür einfach die Zeit.

Das Studium bereitete Heinz keine großen Probleme. Er freute sich jedes Mal auf die Semesterferien, in denen er vertragsgemäß in der kaufmännischen Abteilung der Maschbau GmbH arbeitete. Nach dem Studium entwickelte sich Heinz noch besser als von Harry Menzel erwartet. Schon nach wenigen Jahren trat er die Nachfolge seines Mentors Werner Schreiber als kaufmännischer Leiter an, der im Alter von 65 Jahren das Unternehmen, das sein ganzes Leben bestimmt hatte, verließ. Heinz wohnte weiter im Haus seiner Eltern, wo er sich eine gemütliche 2 ½ Zimmerwohnung im Dachgeschoss eingerichtet hatte. Sein einziger Ausgleich war der Fußballsport.

Bei einer Weihnachtsfeier seines Vereins lernte er die Schwester eines Mannschaftskollegen kennen oder besser gesagt, sie lernte ihn kennen. Lisa war groß, schlank, hatte lange blonde Haare und blaue Augen. Sie hatte gerade das erste Staatsexamen bestanden und unterrichtete als Referendarin am örtlichen Mädchengymnasium Englisch und Sport. Sie befand sich gerade in einer schlechten Verfassung, denn ihr Verlobter hatte vor einer Woche die Verlobung gelöst. Er war es satt, dass seine Verlobte immer ohne ihn unterwegs war und den jungen Männern auch nach der Verlobung weiterhin den Kopf verdrehte. Es war schon Lisas zweite aufgelöste Verlobung und sie hatte sich vorgenommen, erst mal ihren Kontakt zu den Männern auf das Nötigste zu beschränken. Nur widerwillig nahm sie die Einladung ihres älteren Bruders zu der Weihnachtsfeier an. Er liebte seine kleine Schwester über alles und machte sich große Sorgen um sie. Lisa saß gemeinsam mit ihrem Bruder an einem Tisch, als sich Heinz zu ihnen setzte. Er begrüßte die beiden freundlich und beobachte dann interessiert die Leute, die sich wie auf jeder Weihnachtsfeier seines Vereins warm tanzten und warm tranken. Lisas Interesse für Heinz erwachte sehr schnell. Dieser gutaussehende junge Mann unterschied sich wohltuend von den Typen, die ihr nachliefen.

Sie vergaß ihre Vorsätze und ging zum Angriff über. Heinz war eine leichte Beute. Achtzehn Monate später läuteten die Hochzeitsglocken. Lisa zog mit in die kleine Wohnung in das Elternhaus von Heinz. Sie bekam nach dem zweiten Staatsexamen sofort eine Anstellung an der Schule, an der sie als Referendarin tätig war. In einem Punkt waren die beiden sich von Anfang an sehr zum Leidwesen der Eltern von Heinz einig: sie wollten keine Kinder.


Hans war als Ingenieur ein Naturtalent. Zusätzlich besaß er ein Gespür für neue Geschäftsideen und wirtschaftliche Zusammenhänge.

In den letzten zwanzig Jahren hatte sich die Maschbau GmbH in erster Linie auf die Konstruktion, die Herstellung und die Installation von Aufzügen aller Art spezialisiert. Der normale Personenaufzug und Lastenaufzüge in Werken gehörten ebenso zur Produktpallette wie die komplexen und beweglichen Lautsprecher- und Beleuchtungskonstruktionen in Konzert- und Theaterhäusern. Hans besuchte gerne Messen, die sich auch mit anderen Bereichen des Maschinenbaus beschäftigten, denn ihm war schon länger bewusst, dass sich die Maschbau GmbH auf Dauer anders aufstellen musste, um langfristig am Markt zu überleben. Die Konkurrenz schlief nicht, und sein Chef tat sich mit Neuerungen sehr schwer. Auf einigen Messen begegnete er immer wieder Friedrich Schulz, genannt „der Bagger Fritz“. Friedrich arbeitete schon seit Menschengedenken bei einem großen Baumaschinenhersteller. Er verkaufte zwar in erster Linie Bagger, galt aber in der Branche als Universalgenie. Es gab nichts, was er bei Bedarf nicht verkaufte. Am letzten Abend der Messe saßen die beiden beim Bier zusammen.

„Hans, wir haben uns schon oft auf Messen getroffen. Obwohl du viel jünger bist als ich und dich mit ganz anderen Facetten des Maschinenbaus beschäftigst, beobachte ich dich schon länger und habe eine sehr hohe Meinung von deinen fachlichen Qualitäten. Ich spüre, dass du Potenzial hast. Du bist jetzt Mitte Dreißig und trittst im Augenblick bei der Maschbau GmbH auf der Stelle. Hast du Lust, zu uns zu wechseln und mein Nachfolger zu werden?“

Hans war überrascht. Er schätzte Bagger Fritz sehr und spürte, dass es sein Gegenüber ernst meinte.

„Das, was du beruflich machst, Fritz, ist nicht meine Welt. Ich bin mehr der Tüftler. Mich faszinieren technische Aufgaben und Prozessabläufe. Ich bin kein Verkäufertyp.“

Bagger Fritz hatte mit dieser Antwort gerechnet.

„Ich weiß, Hans, war auch nur so eine fixe Idee von mir. Aber dann möchte ich dir wenigstens einen Rat für deinen weiteren beruflichen Werdegang mit auf den Weg geben. Du musst zu deinen Kunden in einem engen Kontakt stehen. Das bedeutet harte Mannarbeit. Deine Kunden planen neue Projekte: Du hilfst bei der Umsetzung. Deine Kunden haben Probleme: Du bist der Problemlöser. Das funktioniert natürlich nur, wenn du dich so in ihr Unternehmen hineinversetzt, als wäre es deine eigene Firma. Du wirst dann schnell feststellen, dass du mit deiner technischen Begabung Schwachstellen im Unternehmen entdeckst und an Lösungsmöglichkeiten zum Vorteil des Kunden mitwirken kannst. Das bedeutet natürlich auch, dass die Maschbau GmbH sich zukünftig anders aufstellen und ihr Leistungsangebot erweitern muss. Hört dein Chef auf dich?“

Hans zuckte hilflos mit den Achseln.

„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Ich weiß es nicht.“

„Dann finde es heraus.“

Nachdenklich ging Hans zu Bett. Er hatte schon oft ein Kribbeln in den Fingern gespürt, wenn er durch die Räumlichkeiten der Kunden der Maschbau GmbH ging. In vielen Fällen war sein technisches Harmonieempfinden gestört, aber er konnte seine innere Unruhe nicht erklären. Bagger Fritz hatte ihm die Augen geöffnet.

Wie nach jedem Messebesuch erstattete Hans seinem Chef am darauffolgenden Tag Bericht über seine Eindrücke. Harry Menzel hielt zwar nichts von diesen Messebesuchen, aber er wusste, mit welcher Begeisterung sein bester Ingenieur dort hinfuhr und sah es unter dem Aspekt „Belohnung für Hans Meier“.

Aber diesmal hatte sich die Situation grundlegend geändert. Heinz Meier hatte in seiner Funktion als kaufmännischer Leiter seinem Chef anhand von einfachen Zahlenbeispielen klargemacht, dass die Firma sich nach vielen erfolgreichen Jahren immer mehr Richtung Verlustzone bewegte. Harry Menzel beschloss, mit Hans Meier darüber zu reden.

Hans Meier hatte wie immer die Eindrücke seines Messebesuchs kurz auf einer DIN A4-Seite zusammengefasst. Aber er bemerkte schnell, dass sein Chef nicht bei der Sache war.

„Herr Meier, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze. Ihr Namensvetter hat mir mit seinen Zahlen meine gute Laune verdorben. Wir befinden uns mit unserer Firma auf dem Weg in die Verlustzone. Haben Sie vielleicht eine Idee, mit der wir wieder in die Erfolgsspur zurückkehren können?“

Darauf schien Hans nur gewartet zu haben. Es sprudelte nur so aus ihm heraus, und er entwickelte seinem Chef ein neues Geschäftsmodell, auf das ihn Bagger Fritz gebracht hatte.

„Herr Menzel, wir müssen in Zukunft den Kontakt zu unseren Kunden intensivieren, neue Kunden akquirieren und uns von einem reinen Aufzugsspezialisten zu einem Dienstleister für andere Unternehmen aus dem Bereich Maschinenbau entwickeln. Natürlich sollten wir unsere heutige Kernkompetenz Aufzugsbau auch weiterhin intensiv verfolgen.“

Harry Menzel sah den jungen Mann, der ihm voller Tatendrang und mit leuchtenden Augen gegenüber saß, verständnis- und ratlos an.

„Ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Schon mein Vater hat Aufzüge gebaut und ich bin in seine Fußstapfen getreten. Die Maschbau GmbH war und ist ein allseits geschätzter Spezialist für den Aufzugsbau. Etwas anderes kann ich auch nicht. Außerdem wissen Sie besser als jeder andere hier in unserer Firma, dass ich für die Akquisition und die Einführung von Neuerungen überhaupt nicht tauge. Ich bin Ingenieur mit Leib und Seele und kann mir unter „Dienstleister für andere Unternehmen aus dem Bereich Maschinenbau“ nichts vorstellen.“

„Ich möchte Ihnen meine Idee an einem Beispiel verdeutlichen. Ich fahre zu einem unserer langjährigen Kunden, der von uns einen speziellen Lastenaufzug konstruiert, gebaut und installiert haben möchte. Dabei sehe ich mich in seinem Unternehmen um. Ich bemerke, dass der Abstimmungstakt bei den Fertigungsabläufen in seinem Unternehmen Optimierungspotential hat und frage ihn dann, ob wir ihm als Maschbau GmbH einen Verbesserungsvorschlag präsentieren dürfen. Die Geschäftsleitung des Unternehmens wird im Normalfall nichts dagegen haben, denn sie kann davon nur profitieren. Sie wird sich vielleicht anfänglich über unseren Vorschlag wundern, aber da sie die Maschbau GmbH seit vielen Jahren als kompetenten und zuverlässigen Geschäftspartner kennt und schätzt, bekommen wir bestimmt die Chance, ein Angebot abzugeben. Dann sind wir Ingenieure gefordert, um optimierte Prozessabläufe auszuarbeiten. Gleichzeitig binden wir meinen Namensvetter Heinz Meier mit seinen Kaufleuten mit ein. Er wird in Ergänzung zu unseren technischen Überlegungen als weiteren Service die Abläufe unter wirtschaftlichen Aspekten durchleuchten und aus kaufmännischer Sicht Änderungsvorschläge machen. Ich bin mir sicher, dass wir unsere Kunden schnell als Dienstleister überzeugen werden. Und was die Akquisition angeht, ich fühle mich stark genug, diese Aufgabe zusätzlich zu übernehmen.“

Harry Menzel musste erst einmal durchatmen. Er war zwar nur sieben Jahre älter als Hans Meier, aber seine Lebensgeschichte hatte dazu geführt, dass er deutlich älter aussah und sich dementsprechend fühlte. Seine Mutter war bei der Geburt seiner zehn Jahre jüngeren Schwester gestorben. Seinen Vater hatte diese Situation völlig überfordert, und so kümmerte sich Harry gemeinsam mit der älteren Schwester seines Vaters um seine Schwester Adele. Als Harry gerade mit seinem Ingenieurstudium begonnen hatte, starb sein Vater völlig überraschend. Harry schaffte den Spagat zwischen Studium und Verantwortung für die Firma. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützten ihn und die meisten Stammkunden sprachen ihm das Vertrauen aus und blieben bei der Stange. Nach seinem Studium stürzte er sich voller Elan in seine Aufgabe und trug mit seinem hohen technischen Sachverstand maßgeblich dazu bei, dass sich die Firma Maschbau GmbH positiv entwickelte. Anlässlich seines 30. Geburtstages weilte er zu einem Kurzurlaub auf der Insel Sylt und lernte dort Klara Kaufmann, die Tochter einer angesehenen Hamburger Familie, kennen und lieben. Gegen alle Widerstände der Familie seiner Frau heirateten die beiden ein Jahr später und Klara zog zum Entsetzen ihrer Eltern ins Ruhrgebiet. Harry blühte förmlich auf. Seine Ideen revolutionierten den Aufzugsbau. Zwei Jahre später wurde Klara schwanger. Die Schwangerschaft verlief sehr schwierig. Um das Kind nicht zu verlieren, musste Klara die meiste Zeit im Krankenhaus verbringen. Aber sie war die geborene Optimistin, ließ sich trotz großer Schmerzen nicht unterkriegen und brachte eine gesunde Tochter zur Welt. Aber in den folgenden Wochen und Monaten schaffte es ihr geschwächter Körper nicht mehr, sich von den Strapazen der Schwangerschaft und der Geburt zu erholen. Sie baute immer mehr ab. Als Klara spürte, dass sie sterben würde, ergriff sie Harrys Hand:

„Harry, unsere Wege trennen sich nun für eine kurze Zeit. Wir werden uns bestimmt im Himmel wiedersehen. Du musst mir versprechen, dass du alles für unsere kleine Klara tun wirst. Sie wird dich immer an mich erinnern.“

Harry gab Klara das Versprechen und fast im gleichen Moment verstarb Klara mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht. Die kleine Klara war zu diesem Zeitpunkt fast genau ein halbes Jahr alt.

Harry bat seine Tante Amanda, die schon Adele großgezogen hatte, um Hilfe. Aber Amanda war auf Grund ihres Gesundheitszustandes nicht in der Lage, die Verantwortung für die kleine Klara zu übernehmen. Und so übernahm seine Schwester Adele in der ersten Zeit die Erziehung ihrer Nichte. Aber schon bald stellte sich heraus, dass Adele diese Aufgabe überforderte. Sie war vom Typ her genau das Gegenteil ihres Bruders. Das Ruhrgebiet war ihr zu bieder, die Leute, die hier lebten, zu primitiv. Sie wollte hinaus in die Welt der Schönen und Reichen, und dabei war ihr ihre Nichte nur im Weg. Harry zahlte Adele ihren Erbteil aus, und sie zog Richtung Tegernsee, wo sie das Glück hatte, schnell einen zwar sehr rustikalen aber auch sehr reichen einheimischen Gastronomen kennenzulernen, der einen Narren an ihr gefressen hatte. Der Altersunterschied von fast dreißig Jahren spielte für sie und ihren zukünftigen Ehemann keine entscheidende Rolle. Nachdem sie anfänglich aus taktischen Gründen zögerte, gab sie seinem Geld das „Ja-Wort“. Ihr Mann öffnete ihr alle Türen zur Münchener Schickeria und verwöhnte sie, wo er nur konnte.

Harry kümmerte sich im Rahmen seiner Möglichkeiten so gut es ging um seine kleine Tochter. Die Kleine hing sehr an ihm. Am 22. Dezember machte sich Harry auf den Weg zu seinen Schwiegereltern nach Hamburg. Sie hatten ihre Tochter mit allen Konsequenzen verstoßen und deshalb weder bei der Geburt ihres Enkelkindes noch beim Tod ihrer Tochter irgendeine Reaktion gezeigt. Der Empfang in Hamburg war noch eisiger als der Dezemberwind. Da bekam Harry unerwartet Unterstützung von dem 85-jährigen Familienoberhaupt Conrad Kaufmann, dem Urgroßvater der kleinen Klara. Harry hatte ihn als Tyrannen übelster Sorte in Erinnerung. Gerade in dem Moment, als Harry die Tür geöffnet wurde, kam Conrad Kaufmann die Treppe herunter. Seine Neugier war sofort geweckt.

„Was will dieser Nichtsnutz, der mir mein Lieblingsenkelkind weggenommen hat, hier in meinem Haus?“

Harry blieb ganz ruhig. Ohne darauf einzugehen, betrat er das Haus und schritt, seine kleine Tochter auf dem Arm haltend, auf den alten Mann zu. Ohne ein Wort zu sagen, legte Harry ihm das Mädchen vorsichtig in den Arm.

Harrys Schwiegermutter stockte der Atem. Ihr Schwiegervater hatte noch nie ein kleines Kind auf dem Arm gehalten. Aber der Alte schlug sich tapfer. Er hielt die Kleine fest und stand ganz still. Die kleine Klara lachte ihn an. Da veränderte sich der grimmige Gesichtsausdruck des alten Mannes. Er drückte die kleine Klara ganz fest an sich und fing an zu weinen. Dann dreht er sich um und ging langsam in das Wohnzimmer, wo er sich auf seinen Lieblingssessel setzte. Das Mädchen schien sich in den Armen ihres Urgroßvaters sehr wohl zu fühlen und sah ihn neugierig an. Harry und seine Schwiegereltern folgten dem Alten neugierig ins Nachbarzimmer. Conrad hob den Kopf und strahlte in Harrys Richtung.

„Bitte setz dich zu mir und erzähl mir alles über die Kleine.“

„Da gibt es nicht viel zu berichten. Nach dem Tod deiner Enkelin Klara wollte ich meine Tochter in die Obhut meiner Tante geben, die schon meine Schwester an Mutter statt aufgezogen hat. Aber meine Tante war dazu aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in Lage. Dann habe ich meine ledige Schwester gebeten, die Erziehung meiner Tochter zu übernehmen. Aber meine Schwester eignete sich überhaupt nicht für diese anspruchsvolle und anstrengende Aufgabe. Sie fühlt sich eher in den Ballsälen und Opernhäusern dieser Welt als in einem Kinderzimmer zu Hause. Und ich habe nicht das Geschick und die Zeit, Klara die Mutter zu ersetzen.“

Wieder wurden die Augen des alten Mannes feucht.

„Und weiter?“

„Ihr könnt euch vorstellen, dass es mir nicht leichtgefallen ist, nach Hamburg zu kommen. Euer Verhalten gegenüber meiner Frau war unter aller Würde. Sie hat sehr darunter gelitten, dass sie von euch verstoßen wurde. Aber jetzt geht es nicht um mich, sondern um die Zukunft der kleinen Klara. Könnt ihr sie aufnehmen und euch um sie kümmern? Ich komme auch in jeder freien Minute, um euch zu unterstützen.“

Harrys Schwiegermutter wollte gerade ihrer Empörung über diesen unglaublichen Vorschlag Luft machen, als sie durch eine Handbewegung ihres Schwiegervaters zum Schweigen gebracht wurde. Er wandte sich wieder Harry zu.

„Mein lieber Harry, leider können wir unser unmögliches Verhalten deiner Frau und dir gegenüber nicht wieder gut machen. Aber mit der Anwesenheit deiner kleinen Tochter hier in meinem Haus gibt mir der liebe Gott ein Zeichen und eine zweite Chance. Dafür bin ich ihm und dir sehr dankbar. Wir werden uns um die kleine Klara kümmern und umgehend das beste Kindermädchen engagieren, damit sich Klara bei uns wohl fühlt. Und du bist uns natürlich jederzeit in unserem Haus willkommen. Möchtest du über Weihnachten bleiben?“

Harry wollte.

Die kleine Klara entwickelte sich prächtig und Harry besuchte sie in Hamburg so oft er konnte. Als das Mädchen sechs Jahre alt war, verstarb Conrad Kaufmann nach kurzer und schwerer Krankheit. Harrys Schwiegereltern brauchten nun auf den Alten keine Rücksicht mehr zu nehmen und schickten das Mädchen gegen Harrys anfänglichen Widerstand auf ein Edelinternat in die Schweiz. Dort entwickelte sich Klara ganz im Sinn ihrer Großeltern in eine ganz andere Richtung. Der Umgang mit dem Nachwuchs der Reichen und Schönen dieser Welt prägte sie. Bei jedem Besuch in der Schweiz musste Harry zu seinem Leidwesen feststellen, dass sich seine Tochter immer mehr von ihm distanzierte. Harrys Schwester Adele beobachtete die Entwicklung ihrer Nichte mit großem Interesse. Das Mädchen und ihr Umgang entsprachen jetzt genau ihren Vorstellungen, und so beschloss sie, den Kontakt mit ihrer Nichte zu intensivieren.

Harry hatte nicht die Kraft und die Zeit, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen und resignierte. Für ihn gab es seitdem nur noch zwei Dinge, die seinen Alltag bestimmten: Die Arbeit und die Jagd. Letztere wurde immer mehr zur Sucht.


„Lieber Herr Meier, Sie haben sicher auch schon davon gehört, dass mich die Entwicklung meiner jetzt acht Jahre alten Tochter sehr betrübt. Ich verkrieche mich in der Arbeit, verbringe jede freie Minute im meinem Jagdrevier und spüre immer deutlicher, dass ich mit meinen Kräften am Ende bin. Natürlich weiß ich, dass sich in der Maschbau GmbH etwas ändern muss, aber ich schaffe es nicht allein. Setzen Sie sich mit Ihrem Namensvetter zusammen und entwickeln Sie schnell ein Konzept. Meinen Segen haben Sie.“

Nachdenklich verließ Hans das Büro und machte sich auf den Weg zu seinem Freund Heinz. Eine Woche später saßen die beiden Meier im Büro ihres Chefs. Das Konzept, das die beiden Freunde präsentierten, war nachvollziehbar und erfolgversprechend. Nach zwei Stunden stand ein merklich entspannter Harry Menzel auf, ging zu seinem Schrank, holte seinen Mantel heraus, zog ihn an und ging auf die beiden zu.

„Meine Herren, ich bin von Ihrem Konzept begeistert und lege die Geschicke der Maschbau GmbH für die nächste Zeit versuchsweise in Ihre Hände. Ich fahre jetzt erst einmal für längere Zeit in die Schweiz, um die Entwicklung meiner Tochter zu beobachten und meiner Schwester auf die Finger zu schauen. Wir sehen dann weiter.“

Die beiden Meier bedankten sich für das ihnen entgegengebrachte Vertrauen und machten sich an die Arbeit.

Hans reiste von Kunde zu Kunde, um das neue Geschäftsfeld der Maschbau GmbH vorzustellen. Mit seiner offenen und kompetenten Art weckte er das Interesse seiner Kunden. Parallel zu seinen Kundenbesuchen versammelte er im Beisein seines Freundes Heinz alle Techniker um sich und erläuterte ihnen die neue Strategie der Firma. Die Mitarbeiter zogen begeistert mit. Es dauerte nicht lange und die Maschbau GmbH bot ihren Kunden die ersten Optimierungskonzepte an, die auch sofort zu Aufträgen führten. Dieser Erfolg sprach sich schnell herum und lockte junge Ingenieure und Kaufleute an, so dass Hans und Heinz personell aus dem Vollen schöpfen konnten. Die beiden legten großen Wert darauf, dass es nicht zu Reibungsverlusten in der engen Zusammenarbeit zwischen Kaufleuten und Technikern kam. Und da Hans und Heinz Meier mit gutem Beispiel vorangingen, war das gesamte Team mit großem Eifer und Spaß bei der Sache. Das neue Geschäftsfeld entwickelte sich so positiv, dass die Maschbau GmbH schon bald wieder schwarze Zahlen schrieb. Harry Menzel war begeistert und ernannte die beiden Meier zu Prokuristen. Er selbst widmete sich in den nächsten Jahren fast ausschließlich seinem Hobby, der Jagd.



Meier im Quadrat

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