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I. Abtreten – Der Schritt in den Ruhestand

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Der Tag sollte lang, aber interessant werden. Kurz nach 9 Uhr bestiegen die Korpskommandanten, Divisionäre und Brigadiers vor der Berner Guisan-Kaserne die Cars. Die Fahrt ging nach Thun, wo orientiert wurde: über den Stand der Evaluation von Flab-Lenkwaffen, der Panzerabwehr-Lenkwaffe BB 77 DRAGON, über die Entwicklung der Hohlpanzerrakete 74 und das Raketenrohr 75. Danach setzten sich die Herren erneut in die Cars und fuhren zum Zielhang; dort demonstrierten tiefere Grade, wozu die Panzerrakete 74 im Feld tauglich war. Zurück in Bern, nahm man in der Guisan-Kaserne das Mittagessen ein, begab sich nach dem Kaffee in den Vortragsraum und folgte weiteren Referaten. Den Abschluss bildete, krönender Kontrapunkt zu den militärischen Fachmonologen, ein Referat über das Verhältnis zwischen Armee und Medien, das der Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung», Fred Luchsinger, zum Besten gab. Abends, es war schon dunkel, verschob sich die Generalität nach Grosshöchstetten in den Gasthof Sternen, wo zehn Tische und eine dienstbeflissene Servierequipe bereitstanden.

Es handelte sich um die traditionelle Jahreskonferenz der Heereseinheitskommandanten und Chefs der Dienstabteilungen des Eidgenössischen Militärdepartements. Für Brigadier Jean-Louis Jeanmaire, den Chef der Luftschutztruppen, war es das letzte Mal, dass er in diesem erlauchten Kreis sass. Man schrieb den 25. November 1975, Jeanmaire hatte seinen 65. Geburtstag bereits hinter sich, zum Jahresende sollte er in den Ruhestand treten. Vielleicht war dies der Grund, weshalb er an den Tisch Bundesrat Rudolf Gnägis, des EMD-Chefs, zu sitzen kam. An den Ehrentisch also.

Zeit seines Lebens war Jeanmaire mit Leib und Seele Soldat gewesen. An der ETH Zürich hatte der Bieler zwar ein Architekturstudium absolviert und anschliessend in Südfrankreich eine paar Monate in seinem Beruf gearbeitet. Aber es war die Welt der Waffen und Uniformen, der Disziplin, des Gehorsams und Taktschritts, die ihn faszinierte. Seine Vorbilder sah er nicht in Koryphäen der Architektur, sondern in strammen Offizieren. Allen voran in seinem Vater, dem Kavallerieobersten und Platzkommandanten von Biel. Als Schüler schon hatte sich Jean-Louis wiederholt vom Unterricht abgesetzt und in die Zuschauerreihen geschlichen, die die Strasse mit defilierenden Truppen säumten. Oder war in jene Geländekammern geradelt, in denen Krieg simuliert wurde.

So stand von allem Anfang an fest, dass der junge Mann, der 1931 die Infanteriere-Rekrutenschule absolviert hatte, nach Höherem strebte. Als er ein Jahr später, frisch brevetiert und herausgeputzt in seiner Leutnantsuniform, vor seine Mutter trat, zog er die Pistole, gab drei Schuss ab und erklärte: «Jetzt bin ich Offizier.»1

Doch bald schon spürte er, dass eine Milizlaufbahn sein Bedürfnis nach soldatischem Sein kaum würde befriedigen können. Immer deutlicher machte sich das Verlangen bemerkbar, Soldat und nur Soldat zu sein und seine jugendlichen Energien ganz in den Dienst der Armee zu stellen. Instruktionsoffizier werden – dieser Gedanke beherrschte nun seine Zukunftspläne. Eine Zeit lang aber trieben ihn noch Zweifel um. Würde er es überhaupt schaffen?

Im Herbst 1935 leistete der Leutnant auf dem Monte Ceneri Dienst. In jenen Tagen fasste er sich ein Herz und schrieb dem Waffenchef der Infanterie, Divisionär Borel, einen Brief: «Nach reiflicher Überlegung und nach einem Gespräch mit meinem Paten, Oberstdivisionär Tissot, habe ich die feste Absicht, mich als Aspirant für den Instruktionsdienst zu melden.»2 Bevor er, liest man darin weiter, seinen Antrag offiziell unterbreiten werde, möchte er den Herrn Waffenchef bitten, ihn in den nächsten Tagen in Bern zu empfangen, damit er ihm die Motive seiner Absicht mündlich auseinander setzen könne. Schon einen Tag später erhielt Leutnant Jeanmaire Antwort von einem Mitarbeiter des Waffenchefs: «Durch einen Zufall erfahre ich, dass der Brief, datiert vom Monte Ceneri vom 30. September, ohne Unterschrift bei uns heute eingegangen, von Ihnen stammt.» Der Entscheid hatte den Anwärter dermassen erregt, dass er tatsächlich vergass, das Schreiben, mit dem er die Weichenstellung seines Lebens ankündigte, zu unterzeichnen.

Vielleicht dachte Jeanmaire an jenem Novemberabend, am Ehrentisch im Gasthaus Sternen, an den leicht stolpernden Beginn seiner Karriere. Vielleicht erfüllte ihn auch die Aussicht, in ein paar Wochen die Uniform endgültig abzulegen und, wie man bei solcher Gelegenheit sagt, ins Glied zurückzutreten, mit ein paar Wehmutsregungen. Keine Befehlsgewalt, keine Mission, keine Auftritte mehr, auch keine salutierende Ehrerbietung von Soldaten und Offizieren, die seinen Weg kreuzten. Nur, ein Kind der Traurigkeit war Jean-Louis Jeanmaire nie. So genoss er auch diese letzte grosse Tafelrunde in vollen Zügen. Tags darauf erzählte er seiner Frau Marie-Louise am Telefon:

Ich war am Tisch von Gnägi und habe ihn richtig zum Lachen gebracht, ich habe Witze erzählt und alles, was man will. Es war ein sehr schöner Tag. Alle waren liebenswürdig mit mir. Ich verdiente auch den Dank der Armee und des Schweizer Volkes, den er mir ausgesprochen hat.3

Zum Jahresende hin durfte der Demissionär noch manche Zeichen der Wertschätzung entgegennehmen. Die herzlichsten, für militärische Verhältnisse geradezu überschwänglich formulierten Sätze sind im Mitteilungsblatt der Schweizerischen Luftschutz-Offiziersgesellschaft nachzulesen:4 «Es gebührt Ihnen Dank für das, was Sie geleistet haben und Dank dafür, wie Sie es geleistet haben. Ihre Begeisterung wirkt anspornend. Trotz Ihres militärischen Berufes und der formell strengen Hierarchie dringt Ihre Menschlichkeit durch und schafft Vertrauen.» Den Verfasser schmerzte offensichtlich der Abschied von jener Persönlichkeit, die den Luftschutz während Jahren geprägt und dessen Ansehen gehoben hatte: «Ihr persönliches Engagement für Ihre Lebensaufgabe wird es mit sich bringen, dass man Sie auch nach dem Stichdatum vom 31.12.75 weiterhin sehen und hören wird.»


Brigadier Jeanmaire trat Ende 1975 in den Ruhestand. Bei einem währschaften Nachtessen in Grosshöchstetten wurden seine Verdienste im Kreis der Generalität gewürdigt. Der Geehrte ahnte damals nicht, dass ihn die Bundespolizei bereits seit drei Monaten auf Schritt und Tritt observierte und seine Telefone abhörte.

Solche Worte schmeichelten dem Brigadier. Aber noch mehr schmeichelte ihm, dass er der obersten Armeeführung offenbar unentbehrlich schien. Denn jener Herr, der im «Sternen» in Grosshöchstetten den Vorsitz des Tisches Nr. 2 innehatte, Divisionär Weidenmann, Chef des Nachrichtendienstes, wandte sich um den Jahreswechsel an ihn mit der Anfrage, ob er bereit wäre, eine Studie über die Zivilverteidigungsmassnahmen in andern Ländern anzufertigen.

Nichts lieber als das. Bevölkerungsschutz war sein Fachgebiet, da machte ihm keiner etwas vor. Und ein solcher Auftrag würde dem kontaktfreudigen Pensionär erst noch Gelegenheit bieten, seine Beziehungen weiterzupflegen, bei den Leuten zu bleiben, den Blick über die Landesgrenze zu werfen.

Am 13. Januar 1976 setzte sich P. B.,5 Weidenmanns Adjunkt, mit Jeanmaire telefonisch in Verbindung, um die Einzelheiten des Auftrags zu besprechen: Honorar, Spesen, Befristung, Arbeitsort. Jeanmaire gab sich kulant, man wurde rasch handelseinig. Kurz danach läutete das Telefon erneut bei Jeanmaire. Am Apparat war Verena Ogg.6

Ogg: Machst Du etwas?

Jeanmaire: Ich schaffe, ja.

O: Ich wollte schauen, ob Du «pfusest».

J: Nein, nein, ich schaffe, ich bin hinter dem Telefon, siehst, nur einmal geläutet.

O: Das ist wunderbar, das ist in Ordnung.

J: Ich will heute mein Papier erledigen.

O: Ja … dann kann man nachher hinter das Andere, gell.

J: Mhm.

O: Mhm. Ist es gut gegangen diesen Morgen?

J: Ja, ich habe sogar den Seppli gesehen.

O: Welcher Seppli?

J: Der Seppli F(V)ischer.7

O: Ah der Seppli Fischer …

J: Ja, und er hat gesagt: «Was machen Sie da»? hat er mir gesagt, non «que faites-vous là, que faites-vous là».

O: … hat er gemacht.

J: Im Treppenhaus und nachher sind wir in den Gang gegangen und er hat noch lange mit mir gesprochen. Und dann habe ich ihm gesagt, ich ginge zum Weidenmann. «Ja ja, er habe scheints etwas für mich», der Herr Weidenmann, etc. und er hat gefunden, ich sähe gut aus und ob es mir gut ginge, und er glaube, mein Nachfolger habe gut begonnen, hat er mir gesagt, und heute Nachmittag habe er Rapport mit ihnen, nicht wahr.

O: So, ist in Ordnung.

J: Um 14 Uhr, in 10 Minuten, müssen sie in den Saal rein, nicht wahr.

O: Das ist in Ordnung, Du.

J: Voilà,

O: Er soll sie nur bürsten, «die Sieche».

J: Mh, «die dumme Cheibe», nicht wahr.

O: Hahahaha.

J: «Chüe».

O: Ist das etwas, das, was der Weidenmann hat?

J: Ja ja, ich bekomme es schriftlich.

O: Und würde es Dir passen?

J: Es würde mir passen. Ich bekomme ein Büro an der Thunstrasse 22.

O: Ou! das wäre ganz toll.

M: Das ist gerade bei der Tramhaltestelle Luisenstrasse. Ich bin zu Fuss gegangen, schauen gehen, es ist eine alte Hütte, aber sie haben dort ihren Technischen Dienst.8 […] Also die Bedingungen wären diese: Ungefähre Dauer des Auftrages 6 Monate. 2. 500 Franken pro Monat. 3.

O: Aber das ist noch schön, das zahlt Dir gerade schön die Reise.

J: Und nachher die Reisen Lausanne–Bern unbeschränkt bezahlt.

O: A-a!

J: Und 4. wenn ich in Bern übernachte 40 Stein.

O: Das ist aber toll.

J: Und 5. pro Mahlzeit 20 Franken.

O: Du, das ist aber grosszügig.

J: Voilà.

O: Aber, und es interessiert Dich, der Job an und für sich? […]

J: Ja, nicht wahr, ich muss prospektieren, einfach ein Inventar machen über die Massnahmen, die getroffen werden, zuerst einmal in allen Staaten, wo wir Vertreter haben […]. Und zweitens, in allen anderen möglichen Staaten – und da habe ich schon wieder Glück gehabt, etwas wahnsinniges, als ich zum Bundeshaus herausgekommen bin, läuft vorbei der Colonel Jacques Frémond.9 Der Jacques Frémond ist bei mir Generalstäbler geworden im Jahre 47 mit dem Zermatten.

O: Ja.

J: Ist ehemaliger Regimentsoberst, ist Professor und Direktor der Ecole Internationale Politique in Genf […] und Oberst im Generalstab: «Qu’est-ce que tu fais, mon cher Jean-Louis, j’ai cru que tu étais en retraite. Tu sors du Département Militaire fédéral?» J’ai dit, «oui, je viens de recevoir une nouvelle mission.» Und er ist ja sogar Direktor des Roten Kreuzes gewesen, vor zwei Jahren ausgetreten, ist aber noch im Verwaltungsrat drin, und er hat ja mit der relation internationale saumässig viel Beziehungen. […] Und er hat gesagt: «Je te conseille, 1. (Pause, weil O. rasch weg musste) Und da habe ich gleich auf meiner La Suisse notieren können und jetzt habe ich es bereits hier auf einem Kärtli notiert, die Nr. vom Oberst im Generalstab de Mülinen, der ist im Roten Kreuz und hat Beziehungen mit allen Ländern der Erde.

O: Das ist natürlich Schwein.

J: Und kann gerade zu ihm gehen, nachher die zweite Adresse, der Rubli, der ist Arzt in Zürich, ist gegenwärtig in Schuls im Guardaval.10

O: Hahahahaha.

J: Und da haben wir gelacht, und er hat mir gesagt, ich soll zum Rubli gehen, der Rubli ist ja in Vietnam gewesen, überall, er hat gesagt, er kennt alle Völker der Erde, der könne mir Adressen und Zeugs und Sachen geben, an wen ich mich wenden kann, nicht wahr. Voilà!

O: Das ist gut, du, da bin ich also froh für Dich. Weisst, da regst Du Dich nicht auf, Du kannst komplett frei machen.

J: Keine Beschwerden und nichts […].

O: Genau, also etwas besseres könnte Dir nicht passieren.

J: Mhm-mhm, nein.

O: Das ist fein. Aber bei Dir ist man d’accord daheim?

J: Ja ja, sehr.

O: So.

J: Sehr sogar.

O: Ah, dann ist das in Ordnung.

J: Nein nein, meine Frau selber und der Arzt hat es mir auch gesagt, es sei besser, ich mache noch etwas als Übergang als einfach anzufangen herumzusaufen, nicht wahr.11

Wenig später konnte er sich eines weiteren Zeichens seiner Unentbehrlichkeit erfreuen. Brigadier Schuler, Direktor der Abteilung Militärwissenschaften an der ETH Zürich, fragte an, ob er im Sommersemester 1977 eine Freifachvorlesung über «Zivilschutz in der Schweiz und im Ausland» halten wolle.12

Für Jeanmaire hätte der Wechsel in den Ruhestand kaum idealer beginnen können. Geehrt, umworben und erst noch die Aussicht, mit einem kleinen Pensum die Rente ein bisschen anzuheben. Was hätte ihm Besseres widerfahren können?

Dieser glückliche Mann hatte allerdings nicht die leiseste Ahnung, dass er landesweit auch der am schärfsten beobachtete Mann war. Selbst an jenem Morgen des 25. November 1975, als er um 7 Uhr das Haus verlassen hatte, zum Büro und anschliessend zur Guisan-Kaserne fuhr, waren ihm die Beamten der Berner Sicherheits- und Kriminalpolizei auf den Fersen – genau bis 9.07 Uhr,13 als er mit den anderen Generälen den Car nach Thun bestieg. Er ahnte nicht, dass der Bundesrat, den er abends im «Sternen» so erheiterte hatte, im Bild darüber war, was sich um ihn, den fröhlichen Possenreisser, zusammenbraute. Wie er auch nicht den geringsten Verdacht schöpfte, als ihm Divisionär Weidenmann jenen Auftrag für die Zivilschutzstudie zuhielt, der kein wirklicher Auftrag war, sondern den Zweck hatte, ihn auch nach der Pensionierung besser überwachen zu können und womöglich in eine Falle zu locken.14

Dies alles trug sich um den Jahreswechsel 1975/76 zu. Doch drehen wir den Film um vierzehn Monate zurück.

Fall Jeanmaire, Fall Schweiz

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