Читать книгу FREDDA - Jürgen Eckard Kemper - Страница 6
ОглавлениеErwachen
Es hatte nur eine kleine Verzögerung gegeben, das war nicht meine Schuld. Aber ich dachte jetzt daran, fünf Minuten. Fünf Minuten hatte ich gewartet, dass meine, ja was war sie für mich, ich wusste es noch nicht, Fredda auf die Straße kam, die ich erst am 1. Mai überraschend wiedergetroffen hatte. Es war der 1. Juli, ein Mittwoch, und ich holte sie immer um diese Zeit ab, Viertel nach vier, nicht später. Aber sie hatte noch nicht an der Straße gestanden, vor der Einrichtung, wo sie mittwochs auf mich wartete, so wie die letzten fünf Mittwoche. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob sie dieses sechste vereinbarte Treffen überhaupt wollte, nach dem letzten Treffen mit der überraschenden Wende, doch sie hatte auf meine letzte Mail nur kurz geantwortet: „Komm vorbei.“ Also stand ich nun hier, bei schönem sonnigem Sommerwetter, mit etwas zwiespältigem Gefühl, was mich erwartete.
Sie hatte die Stelle bei dem Träger im Dortmunder Norden als Sozialassistentin seit sieben Jahren, seit dem Jahr, in dem ich sie kennengelernt hatte. Zuerst hatte sie nur mit Zeitvertrag, als Springerin, wo sie gerade gebraucht wurde, gearbeitet. Letztlich wurde ihr Vertrag in einen unbefristeten umgewandelt, so dass sie sich keine Sorgen mehr machen musste um ihre finanziellen Verhältnisse, eher um die Betreuung ihrer beiden Kinder, die heute schon vierzehn und siebzehn Jahre alt waren, also etwas jünger als meine Enkeltöchter, aber das schien kein Problem zu sein, unser Altersunterschied schon eher, jedenfalls wenn ich mir vorstellte, wie wir von anderen wahrgenommen wurden, die uns nicht kannten.
Wenn ich sie meinen Freunden vorgestellt hätte, hatte ich aber nicht.
Ich befürchtete von den Männern eher plumpen Neid oder respektvolle Zurückhaltung, bei den Frauen eher kühle Abneigung. Das wäre mir ziemlich egal, wer da ein Problem mit hatte, sollte das für sich behalten, für mich war das eher eine Form der Selbstoffenbarung. In der Regel ging es doch immer nur um deren eigene Befürchtungen für die Beziehung, die sie selbst führten oder auch nicht führten, aber ich hatte solche Situationen tunlichst vermieden. Wir verabredeten uns ja auch erst seit Ende Mai, in diesem so allseits verrückten Corona-Jahr, sechs oder sieben Mal insgesamt und eine Freundschaft war das nicht, eher etwas anderes.
Jetzt war sie nicht da und eine gewisse Beunruhigung beschlich mich, meine Alarmglocken waren schnell aktivierbar aufgrund meiner Erfahrungen seit dem Verlust von Ana, wenn es Brüche in den normalen Abläufen gab. Ich musste dann immer an den alten Filmklassiker „Matrix“, mit Keanu Reeves in der Hauptrolle, denken, wo die Realität sich auch als etwas anderes entpuppte als die sie erschien, rote oder blaue Pille, man musste sich immer entscheiden, was man für die Realität halten wollte.
Irgendetwas stimmte nicht. Ich stieg aus, umgeben von Bussen der Einrichtung, die die Klienten aus der Einrichtung abholten, ein Gewusel von Menschen mit Handicaps, einige in Rollstühlen, als ich aufgeregt einen der Mitarbeiter aus dem Haus stürmen sah, der den Bus direkt vor dem Haupteingang der Werkstatt anwies, die Einfahrt frei zu machen. Er streifte meinen fragenden Blick und wartete darauf, dass der Bus die Einfahrt freigab. Noch beim Wegfahren des Busses hörte ich eine Sirene, die bedrohlich näherkam und meine böse Vorahnung wechselte in Gewissheit, wenngleich ein zaghafter Gedanke auch einen Notfall bei einem der Beschäftigten zuließ. Aber Fredda war nicht da. Einer Intuition folgend schnappte ich meine Maske und ging in die Einrichtung. Ich wusste, wo ihre Gruppe war und bog am Eingang entsprechend ab. Auf dem langen Flur war niemand zu sehen, offensichtlich hatten die Beschäftigten bereits alle die Werkstatt verlassen. Ich war keine zehn Meter gegangen als der Mitarbeiter, der den Bus verscheucht hatte, im Laufschritt an mir vorbeieilte, gefolgt von zwei Sanitätern mit einer Bahre. Unschwer erkannte ich im Vorbeieilen einen der Sanitäter als Vladi, der mich leicht irritiert anschaute. Ich folgte ihnen zügig und fand mich an der Tür vor ihrer Werkstattgruppe wieder, an der ich wie angewurzelt stehen blieb. Der Anblick, der sich mir bot, hatte mich gestoppt. Eine Gruppe von fünf Personen, Männern wie Frauen, kniete am Boden und hielt mit einem großen Verband bewaffnet den Kopf einer Frau in stabiler Seitenlage, deren langer blonder Zopf auf der rechten Schulter ruhte, merkwürdig rot verfärbt, die Frau bewegte sich nicht - Fredda.
Wie in einem angehaltenen Film, der wieder gestartet wurde, sah ich die Menschen sich wie in Zeitlupe bewegen. Die beiden Sanitäter hatten sich zu Fredda gekniet, Vladi hatte sie sofort erkannt und „Fredda, Schwesterchen, was hast du gemacht?“ gesagt, ganz professionell mit seinem Kollegen ihre Vitalfunktionen überprüft, eine Infusion gelegt und dem Kollegen wortlos zugenickt: „Einpacken“. Sie war offensichtlich bewusstlos, als einer der Mitarbeiter, der sich zuvor um Fredda gekümmert hatte, zu mir kam und mich wahrscheinlich entfernen wollte, mich aber im letzten Moment zu erkennen schien, jedoch trotzdem von der Tür und dem Blickfeld auf das Geschehen wegschob, was ich widerwillig zuließ.
„Was?“, war das Einzige, was ich hervorbrachte.
„Beruhige dich“, antwortete er, meine Frage musste wohl etwas schrill aus mir hervorgebrochen sein. „Sie ist von Bernd, einem Beschäftigten, gebissen worden, eine Fleischwunde im Gesicht.“
„Was?“, entglitt es mir erneut.
„Ja, undenkbar, Fredda kennt Bernd schon sechs Jahre, sie hatte ihn zuvor gebadet, wollte ihn danach wie immer aus seiner Ruhematte in den Rollstuhl heben und hat ihn wie üblich von vorn umarmt. Als sie ihn in den Rollstuhl setzen wollte, hat er sie umklammert und zugebissen und zwar sehr heftig. Wir mussten die beiden am Boden liegend voneinander trennen. Dabei ist sie wohl bewusstlos geworden.“
„Und was ist mit ihr passiert?“
„Sie hat eine große Bisswunde im Gesicht, ihr Kollege Hans war gleich zur Stelle und hat die beiden getrennt, Bernd von einem anderen Kollegen in einen anderen Raum bringen lassen und über das Notfallsystem die Kollegen aus der Nachbargruppe alarmiert. Wir haben versucht, die starke Blutung zu stillen und den Notdienst angerufen.“
„Und ihr Gesicht?“
„Eine Bisswunde, Bernd hatte sich regelrecht festgebissen, ich weiß es nicht, sie muss erst einmal wieder zu Bewusstsein kommen.“
Hinter uns entstand Bewegung und Vladi und sein Kollege hatten Fredda auf der Liege fixiert, der Tropf baumelte an Vladis Schulter, der hinten ging und mich im Vorbeigehen fixierte.
„Wo bringt ihr sie hin, Vladi?“, entwich es aus mir.
„Ins Klinikum Nord“, war seine knappe Antwort und eilig gingen sie weiter.
Ich war wohl etwas wackelig auf den Beinen, denn Freddas Kollege fragte mich:
„Willst du dich setzen? Soll ich dir ein Glas Wasser holen? Das wird schon wieder, Fredda ist stark.“
„Nein, geht schon. Und ihr schönes Gesicht?“
Darauf erhielt ich keine Antwort und wandte mich im Gehen von ihm ab, ich musste ins Klinikum Nord, weit konnte das nicht sein.