Читать книгу FREDDA - Jürgen Eckard Kemper - Страница 8

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Fallen

Ich hatte Fredda wieder getroffen, völlig unerwartet, am 1. Mai 2020. Meine Tochter war mit ihrer Familie über den Feiertag zu Freunden gefahren, das durfte man in Corona-Zeiten mittlerweile ja wieder, ich hatte niemanden gefunden, der mit mir biken wollte, also hatte ich mir von Bochum aus eine schöne Tour mit meiner komoot-App zusammen gestellt, zum Kemnader See, an der Ruhr entlang, Harkortsee, Hengsteysee zur Ruine Hohensyburg, sogar eine Fährfahrt hatte ich eingebaut und 35 km schienen mir angemessen. Ich hatte meine Sachen zusammengepackt, mein focuse-bike gecheckt, die Kette gefettet und meinen kleinen Hund Bello allein in meiner Wohnung gelassen. Er wirkte etwas beleidigt, aber das hielt er so lange aus. Ich war um halb zehn gestartet, gegen Mittag sollte ich mein Ziel erreicht haben, vielleicht waren ja schon einige Gastrobetriebe zum Feiertag trotz Corona geöffnet, aber wahrscheinlich war das wegen des Lockdowns nicht. Ich fuhr los und genoss die Natur, nachdem ich Bochum verlassen hatte. Es waren noch nicht viele Menschen unterwegs an diesem Maifeiertag, obwohl die Sonne vom Himmel schien, es war auch erst noch ziemlich frisch. Am Hengsteysee waren dann schon mehr Leute unterwegs, auch Biker.

Wie so oft, wenn ich allein unterwegs war, hing ich meinen Gedanken nach und dachte daran, wie schön es wäre, wenn sie mich begleiten würde, meine geliebte Ana, auch wenn sie nie mit mir gebiked hatte. Ich vermisste sie immer noch. Im letzten Jahr hatten Suchgruppen auf Veranlassung der anderen Angehörigen noch einmal versucht, Ana und ihre Freunde im Bondasca-Tal in den Schweizer Alpen unterhalb des Cengalo zu finden, der in einer einzigen Schlamm- und Felslawine alle unter sich begraben hatte und offensichtlich nicht vorhatte, sie wieder herzugeben. Ich hatte das Anas Vater und ihrer Großmutter erzählt, als ich sie im letzten Jahr auf Sizilien besucht hatte. Es gab keinen Ort der Trauer, nur das von ihrem Vater Santi aufgestellte Kreuz im Bondascatal und meine Erinnerungen an sie, die ich zum großen Teil in meinem Buch niedergeschrieben hatte, das ich in diesem Jahr endlich publizieren wollte.

Meine Sehnsucht nach Nähe und Berührungen hätte größer nicht sein können, doch daran war in Zeiten von Corona überhaupt nicht zu denken. Alle hielten Abstand, sogar nahe Freunde isolierten sich, Ellbogenkicken konnte man sich auch sparen, das ersetzte keine Umarmungen oder Begrüßungsküsse. ‚Social Distancing‘ war das neue Corona-Dogma, das von Virologen aufgestellt wurde, sie schufen eine neue Form von Kultur, während die normalen Kulturschaffenden aus dem Verkehr gezogen worden waren. In dieses Vakuum waren die Virologen und Minister vorgedrungen, da konnte nichts Gutes bei herauskommen, so viel war mir klar. Auch sexuelle Dienstleistungen waren auf Eis gelegt worden, alles wurde neu bewertet, aber Biken durfte man ja immerhin noch.

Unterhalb der Hohensyburg erklomm ich dank E-Unterstützung ohne große Mühe über den Waldweg den Berg zum Denkmal und zur alten Burgruine. Die Sonne lachte durch die Baumwipfel und einige Touristen waren hier schon unterwegs, die Gastro hatte leider noch geschlossen, also ging ich zur Ruine, um ein kleines Picknick zu machen. Ich wollte gerade mein Bike an die Mauer stellen, als ich sie sah, vor ihr lag ein weißblaues Mountainbike. Sie sah nicht auf, hielt sich nur ihr Bein, um das ein Funktions-Shirt gewickelt war, das sie sich wohl ausgezogen hatte, denn sie trug nur ein Top, ich erkannte sie sofort, ging etwas zögerlich auf sie zu und sprach sie an:

„Hallo Frau Lienen, was haben Sie denn gemacht? Ich wusste nicht, dass Sie auch Mountainbike fahren.“

Sie schaute verdutzt und mit gerunzelter Stirn zu mir auf, erkannte mich offensichtlich auch sofort:

„Oh mein Therapeut, Sie haben mir gerade noch gefehlt“, sie ließ ihren Blick nicht von mir, so als würde ich sie bedrohen.

„Oh, Entschuldigung, soll ich wieder gehen?“

„Nein, so war das nicht gemeint, aber ich bin gestürzt und habe mich verletzt, kann jedenfalls nicht mehr mit dem Fahrrad fahren, das hat auch was abgekriegt.“ Sie zeigte auf ihr Vorderrad. „Da ist wohl was verbogen, da ist ein Scheißast reingeflogen, als ich den Downhill zum dritten Mal fahren wollte, an der zweiten Schanze.“

„Sie fahren Downhill?“

„Ja, auch, nicht nur, mit meinem E-bike komme ich fast überall hoch, aber das Runterfahren macht einfach mehr Spaß.“

„Was?“

„Na das Runterfahren“, sagte sie etwas erstaunt, schaute mich dabei direkt an und mir fiel ihre Narbe am rechten Ohr auf, ihr dicker Zopf lag über ihrer rechten Schulter und baumelte über ihrem Busen, der von ihrem Top nur notdürftig verdeckt wurde, ein kleiner gespannter Reißverschluss versuchte vergeblich, ihn im Zaum zu halten, mein Blick war etwas zu lange dort hängen geblieben, déjà vu.

„Ich musste mein Shirt zum Verbinden benutzen.“

„Ach so“, erwiderte ich etwas blöde. „Ist Ihnen kalt?“

„Ne, geht schon, aber es tut ziemlich weh.“

Dabei wickelte sie das T-Shirt von ihrem rechten Knie und legte eine verschmutze Schürfwunde frei, in deren Mitte ein Riss klaffte, der noch leicht blutete, das sah wirklich nicht gut aus.

Ihr Mund hatte sich verzogen und sie hatte vernehmlich die Luft eingesogen.

„Das muss ordentlich verbunden werden, denke ich und auch genäht werden.“

„Ich habe nix dabei.“

„Ich aber“, und ging zu meinem Rad, um meine Verbandstasche zu holen.

Als ich zurückblickte saß sie dort, verdreckt, verletzt und verführerisch. Ich hockte mich vor sie hin und befand mich augenblicklich in ihrer Aura, so nah war ich ihr noch nicht gekommen. Ich fühlte mich etwas befangen, eingefangen von ihren Ausdünstungen, die sich über mich legten, wie eine durchsichtige Decke. Ich hielt kurz inne und breitete meine weiße Tasche mit dem roten Kreuz vor ihr aus und hörte sie laut auflachen und sie konnte sich gar nicht wieder einkriegen.

Ich schaute sie etwas verständnislos an und fragte: „Was ist jetzt auf einmal so lustig?“

„Sie, nein, ich meine Ihr Koffer“, und legte mir ihre Hand auf meine Schulter, was mich leicht aufzucken ließ und schaute mich mit ihren weiten Pupillen direkt an. „Ich habe den Gleichen zu Hause, noch aus meiner Kindheit, das gibt´s doch gar nicht. Meine

Töchter haben mich immer damit verbunden, wenn mal wieder Arzt gespielt werden musste, das ist doch total lustig, wo haben Sie den her?“

„Der ist von meinen Kindern, den habe ich nur umfunktioniert, weil er genau die richtige Größe hat.“

Ich hielt ihren Blick. Sie zog ihre Hand zurück.

„Ist da auch was drin?“

„Ach so, ja, warten Sie.“

Ich kramte meine Sachen heraus und legte alles auf der Mauer aus.

„Als erstes muss ich Ihre Wunde desinfizieren, der Dreck muss da raus, das wird etwas weh tun.“

„O.K.“

Sie löste das T-Shirt wieder von ihrer Wunde und ich sprühte reichlich Desinfektionsmittel auf die komplette Wunde. Sie sagte nichts, hielt aber still.

„Ich muss sie auswischen und noch einmal einsprühen.“

„Vorsichtig bitte.“ Sie legte wieder eine Hand auf meine Schulter, während mein Blick zwischen ihren Busen hängenblieb.

„Ja, ich werde vorsichtig sein.“ Ich schaute sie ermutigend an.

Kurz und kräftig wischte ich das reichlich verwendete Spray mit einem Mullverband aus der Wunde, was sie mit einem deutlichen Seufzer kommentierte, ihre Hand von meiner Schulter nahm, meine Hand ergriff und mich mit zusammengekniffenen Augen scharf anschaute.

„Das tat weh.“

„Ich muss das noch einmal desinfizieren und einen Druckverband machen.“

„Können Sie das denn?“

„Ja, ich habe immer bei meinen Kindern geübt.“

Sie löste den Griff um meine Hand - blindes Vertrauen war ihre Sache nicht - und ich sprühte sogleich noch ein letztes Mal Spray auf die Wunde. Der Riss blutete etwas heftiger.

„Sie haben zwei, nicht?“

Ich war etwas überrascht, ich hatte Fredda Lienen sieben Jahre nicht gesehen und schaute sie fragend an.

„Das hat mir ihr Kollege damals erzählt.“

„Aha.“

„Hab ich behalten.“

„Ja, das ist aber nur halb richtig, ich habe zwei Enkeltöchter, von meiner Tochter und einen Sohn.“

„Ach so, dann hat der mich einfach belogen.“

„Nein, das glaube ich nicht, ich glaube eher, dass mein Kollege damals wollte, dass Sie zu mir gehen und da sie auch zwei Töchter haben, dachte er wahrscheinlich, dass das helfen könnte.“

„Helfen, Sie sind mir ja schöne Helfer, arbeiten wohl mit allen Mitteln, um Patienten anzulocken“, und schaute mich leicht erzürnt an.

Unbeeindruckt legte ich einen sterilen Ölvlies auf die Wunde, damit es beim Entfernen nicht so weh tat und bat sie, ihr Bein zu strecken. Ich legte ihr Bein in meinen Schoß und sofort überkam mich eine Gänsehaut, so dass ich wieder kurz zucken musste, ihre Haut hatte mich elektrisiert. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und legte den Druckverband an, während ein Schleier von Gerüchen mich einhüllte und ich dachte nur, ja genau, so riecht das, körperliche Erregung, wobei sich mein eigener Geruch, den ich von meiner Fahrt mitgebracht hatte, mit ihrem vermischte und ich fühlte mich wie in einer Blase. „Bubbles“ fiel es mir ein, dieser wunderschön einlullende Song der Cultured Pearls.

„Was ist los?“ Mein etwas verträumter Blick war ihr scheinbar nicht entgangen, ich hatte es mit einer aufmerksamen Beobachterin zu tun.

„Ach, ich habe nur an etwas gedacht.“

„Aha, und woran?“

„An ein Konzert, eine Band, das ist Jahre her.“

“Welche denn, jetzt tun Sie mal nicht so geheimnisvoll.“

Etwas ertappt fühlte ich mich schon, aber ich sagte trotzdem:

„Ich habe an die Cultured Pearls gedacht.“

„Die kennen Sie? Das war mal meine Lieblingsband, als Jugendliche, bin sogar mal auf einem Live-Konzert in Köln gewesen, Anfang der 2000er, das gibt´s doch nicht.“

„Ich habe sie auch, sogar dreimal live, gesehen, einmal auf der EXPO 2000 in Hannover, sehr schön. Leider ist die Sängerin Astrid North letztes Jahr gestorben, ein Jahr vorher habe ich sie noch als Solokünstlerin in Münster erlebt.“

„Was? Die ist tot? Die war doch noch voll jung.“

„Ja, das war sie, sie war erst 46 Jahre und hatte eine Tochter und einen Sohn.“

„Wie schrecklich.“

„Ja, das fand ich auch.“

Nachdem ich während unseres kurzen Gesprächs mein Werk vollendet hatte, schaute ich sie an und sagte: „Fertig.“

Mein Blick wanderte von ihrem Schenkel über ihr Becken, ihren Bauchnabel, ihren Busen mit dem viel zu engen Top, ihren dicken Zopf zu ihrer Narbe am rechten Ohr und blieb an ihren halb geöffneten Lippen hängen.

„Kann ich mein Bein wiederhaben?“

„Oh ja sicher.“ Ich legte vorsichtig ihr Bein aus meinem Schoß ab.

„Das haben Sie sehr schön gemacht, machen Sie das öfter?“

„Ja, musste ich bei mir auch schon öfter machen. Können Sie aufstehen?“

„Ja, mal sehen, wie das geht“, stand auf und machte ein schmerzverzerrtes Gesicht, wobei sie meinen Arm ergriff. „Aua, tut das weh.“

„So schlimm?“

„Ne, aber ich glaube, meine rechte Hüfte hat auch was abgekriegt.“

Sie hing an meiner rechten Seite, hatte ihr halbes Gewicht auf mich gestützt und ihr linker Busen drückte an meinen rechten Arm, was mir einen erneuten Schauer verschaffte. Ich setzte sie langsam auf die Mauer zurück und sie lupfte schon ihre Radlerhose herunter, so dass gerade ihre Scham von ihrem roten Slip bedeckt blieb.

„Ohje“, sagte sie nur. „Da müssen Sie wohl nochmal ran.“

Ich stockte kurz bei dem Anblick, eine so flotte Entblätterung brachte mich doch etwas aus der Fassung, doch dann griff ich zu meinem Spray, um die weniger schlimme Schürfwunde zu desinfizieren, in der Gott sei Dank kein Dreck war, doch von der Plastik-Funktionskleidung wurden immer üble Schürf- und Brandwunden hinterlassen, wenn man über sie schlitterte. Sie hielt mir ihr entblößtes rechtes Becken entgegen und hielt meine rechte Hand fest, schaute mir mit geweiteten Pupillen genau so fest in die Augen und sagte:

„Vorsicht!“

Ein erneuter Schauer durchschoss mich und als sie lockerließ, sprühte ich die Schürfwunde ein, ohne dass sie mit der Wimper zuckte.

„Lassen Sie da noch etwas Luft dran, ich verbinde das dann auch noch.“

Mein Blick kehrte zurück, die schwarze Radlerhose, der rote Slip, die Schürfwunde, ihr Beckenknochen, der deutlich hervorstand und über dem sich ihr Zopf nach oben schlängelte, formvollendet, satter konnte ich mich kaum gucken.

„Was ist mit Ihrem Rad?“, lenkte ich ab.

„Tja, das braucht wohl auch eine Behandlung.“

Ich ging hin und hob es vom Boden, wendete es mit geübtem Schwung auf Sattel und Lenker und schaute mir die Bescherung an. Es war ein weißblaulackiertes voll gefedertes Haibike Nduro mit Carbonrahmen, mit fettem 630 Wh-Akku, 27 Zoll-Bereifung, 180 mm-Rockshox-Vorderradgabel, Sram NX-11-Gang-Schaltwerk und Sattel-Dropper. Da fehlte es definitiv an gar nichts, so ein Rad bekam man im Laden selten unter 6000 Euro. Alle Achtung, das war ein potentes Bike für ambitionierte Fahrer, Fahrerinnen. Ich drehte das Vorderrad und es kam sofort zum Stillstand, da eine gehörige Unwucht im Rad war.

„Schickes Bike, die Speichen sind heil, aber fahren können Sie da nicht mit.“

„Ja, das hat mir Igor günstig besorgt, vorher hatte ich ein viel zu schweres Bike, damit geht viel mehr, besonders die technischen Passagen.“

Technische Passagen, mein Lieblingsgebiet. Ich ging wieder zu ihr und schaute mir ihre immer noch gelüftete rechte Beckenseite an.

„Das sieht gut aus. Ich werde jetzt ein paar Mulltücher fixieren, damit das nicht so scheuert.“

„O.K., nur zu, freie Bahn.“ Sie hob ihre Hand von der Stelle und schaute mich aufmunternd an.

Ich nahm den bereitgelegten Mull und das Pflaster und lupfte ihren Slip und die Radlerhose noch ein wenig nach unten, gerade so viel, dass ihre Scham bedeckt blieb. Ich fühlte mich beobachtet und legte schnell mehrere sich überlappende Mullquadrate über die Wunde und verklebte sie mit dem weißen Klebeband.

„Darf ich?“, fragte ich ging und ohne eine Antwort abzuwarten, mit beiden Zeigefingern um ihr Slipgummi, zog es langsam hoch und ließ es ebenso langsam auf dem Verband nieder. Ihre Haut hatte eine leichte Gänsehaut bekommen und etwas verlegen zog ich auch, aber diesmal schneller, ihre Radlershorts darüber und löste mich langsam aus ihrer Aura. Fredda schenkte mir ein breites Lachen.

„So, das sollte für den Abtransport zum Krankenhaus reichen“, während ich meinen 1.-Hilfe-Koffer wieder zusammenpackte und einen Schluck aus meiner Flasche trank.

„Ne, ne, nix Krankenhaus, Vladi kommt mich holen, der weiß schon Bescheid, der kommt gleich mit seinem Bulli.“

„Vladi?“

„Ja, Sie wissen doch, Vladimir, mein Blutsbruder. Sie hielt mir ihr Handgelenk entgegen, wobei sie ihren Zopf noch einmal über ihre Schulter warf, der schwer liegen blieb und mir einen ungehinderten Blick in ihren atemberaubenden Ausschnitt gewährte, aus dem noch das Ende eines Smartphones lugte. Welches Gottesgeschenk! Ich musste mich wieder zwingen, nicht zu lange dort hinzuschauen, zu spät.

„Mögen Sie meine Titten?“, fragte sie mich grinsend.

Ich lief puterrot an und drehte mich zur Seite.

„Bitte?“

Sie ließ nicht locker: „Ob Sie mögen, was Sie sehen?“

„Öh ja, kann ich ja schwer dran vorbeigucken, wenn ich Sie behandele“, antwortete ich etwas verdattert.

„Behandele. Kommen Sie mal her!“

Ich ging einen Schritt auf sie zu und sie zog mich an meiner Hand zu sich, ich leistete keinen Widerstand.

„Schließ die Augen.“

Und dann spürte ich plötzlich ihre Lippen, ihre Zunge umkreiste meinen Mund, drang kurz in ihn ein, ihre Lippen lutschten an meiner Unterlippe und sie ließ sie ganz langsam durch die Zähne zurückgleiten. Ich stand vor ihr wie eine Salzsäule und öffnete meine Augen, der Mund, der gerade noch für einen wohligen Schauer gesorgt hatte, stand halb offen, ihre Zunge lag an ihrer Oberlippe und sie schnalzte damit, was mich aus meiner Erstarrung löste.

„Das hast Du Dir verdient und jetzt, wo wir den Bruder-Schwester-Kuss ausgetauscht haben, kannst Du Fredda zu mir sagen“, grinste sie mich breit an.

Ein warmer Regen war meinen Rücken heruntergeflossen und ich stand immer noch etwas verwirrt vor ihr. So hatte noch niemand mit mir Bruder-Schwesterschaft getrunken. Ich meine, zu trinken gab´s eh nix, aber angetrunken fühlte ich mich schon. Wie lange war es her, dass mich eine Frau so genussvoll geküsst hatte, ich hatte ja nichts gemacht, nichts erwidert, mich nicht getraut, war einfach nur stehen geblieben und hatte sie geschmeckt, oh Mann:

„VERBOTEN!“, schoss es mir durch den Kopf.

„Kannst du dir was drauf einbilden, ich küsse nicht jeden, aber du hast mir jetzt schon zweimal das Leben gerettet. Wie heißt du eigentlich mit Vornamen?“

„Ingo“, war das Einzige was ich hervorbrachte.

„Also gut, Ingo, dann lass uns jetzt mal zum Denkmal gehen, da wollte mich Vladi abholen, der ist bestimmt schon da, aber du musst mich stützen.“

Nichts, was ich lieber getan hätte. Sie schlang ihren Arm um meinen Hals und ich legte meinen Arm um ihre wirklich schmale Taille, so dass sie überwiegend ihr Gewicht auf das linke Bein verlagern konnte und den Rest auf mich, welch süße Last und wieder umschwirrte mich dieser vermischte Geruch von uns, ich fühlte mit meiner rechten Hand ihre Rippen, ihr linker Busen streifte mich und drückte gegen meine rechte Seite, ihr vorn über der linken Schulter liegende Zopf schlug wie das Pendel einer Standuhr zwischen uns hin und her, welches Stündchen schlug mir hier?

Wir waren gerade auf den Platz des Denkmals eingebogen, als laut rufend ein Mann auf uns zueilte: „Sestritschka, was hast du gemacht? Wer ist dieser Mann? Wie siehst du denn aus? Bist du verletzt?“

„Bratok, ganz ruhig. Vladi, er hat mich gerettet und meine Wunde geheilt.“

„Welche Wunde, was ist passiert, was ist das für ein Verband? Zeig her.“

„Vladi, er hat ihn schon verbunden, das geht so.“

Vladi ging direkt auf Fredda zu und begutachtete ihr Bein, indem er es von vorn und hinten anfasste, betrachtete, zu mir hochschaute und sagte:

„Das sieht gut aus, hast du Druckverband gemacht, professionell, schön fest, wo hast du gelernt?“

„Hab ich nicht gelernt, habe ich mir abgeguckt, sie hat von ihrem Sturz eine Schürfwunde und einen drei Zentimeter langen Riss im Knie, der im Krankenhaus genäht werden muss“, rapportierte ich.

„Nein“, entwich es aus Fredda, „auf keinen Fall, das heilt auch so, bring mich nach Hause. Vladi, du kannst das genauso gut weiter behandeln.“

„Bin ich Rettungssanitäter, kein Arzt, darf ich nicht nähen.“

„Da wird auch nichts genäht, sage ich.“

„Aber muss ich mir anschauen vorher.“

„Das kannst du bei mir zu Hause machen.“

Vladi seufzte und sagte zu mir gewandt: „Hat sie Angst vor Spritzen und Nähen wegen ihrer Narbe, lange Geschichte, wer du bist eigentlich ‚Papa‘?“

Diese offensichtlich russische Redewendung für ältere Herrschaften wendete er bei mir ob meines offensichtlichen Altersunterschieds an. Aber ich hatte keine Gelegenheit zu antworten, weil Fredda mein Zögern bemerkt hatte und dazwischen ging: „Er war mein The…, er hat mich gerettet und er hat mich verbunden und er heißt Ingo.“

„Ingo, ich heiße Vladimir, aber alle sagen Vladi, also Vladi, eigentlich ich bin Retter von Schwesterchen, aber jetzt du auch. Willkommen.“ Er hielt mir seine Hand entgegen. Ich musste Fredda, die ich die ganze Zeit umklammert hielt, aus meinem Arm lösen, und auch ihr Arm hatte die ganze Zeit über meiner Schulter gelegen. Meine feucht gewordene Hand schlug ich förmlich in seine erheblich größere ein, das entwickelte sich hier zum reinsten Brüderchen- und Schwesterchen-Treffen und Fredda stand jetzt allein.

„Aber wo kamt ihr überhaupt her und wo ist dein Fahrrad?“

„Ich habe mich in der Ruine versteckt, weil hier am Denkmal zu viele Leute waren, das entwickelte sich langsam zur Peep-Show.“

„Wundert mich nicht, wie siehst du aus mit offene Reißverschluss“, schüttelte seinen Kopf und zog seine Adidasjacke aus, ging zu Fredda, zog das Smartphone aus ihrem BH, schloss den Reißverschluss ihres Tops, steckte ihr Phone ein und legte seine Jacke um ihre Schulter und stützte sie, was sie mit rollenden Augen mir gegenüber über sich ergehen ließ.

Etwas überflüssig geworden sagte ich: „Ich hole dann mal die Fahrräder.“

„Ja gut, wir gehen zu Bulli, schwarze, steht vorn an Parkende, findest du, ist ganz schwarz.“

„Alles klar.“ Ich wandte mich um und wurde im langsamen Weggehen das Gefühl nicht los, dass ich mich von etwas entfernte, was ich festhalten wollte oder anhalten, ging das?

Ich nahm die beiden Räder und meinen Rucksack. Sie hatte offensichtlich außer ihrem Helm und der Trinkflasche nichts dabeigehabt. Ich schob mit den Rädern Richtung Parkstreifen und sah dort sofort Vladis Bulli, er war auch nicht zu übersehen: ein tiefer gelegter Mercedes Viano V 6 mit schwarzen Felgen und Breitreifen und einem überflüssigen Heckspoiler. Die geöffnete Seitentür wurde von unten durch blaue LED-Leuchten ausgeleuchtet. Fredda saß auf dem Beifahrersitz und hielt ihr Smartphone in der Hand.

„Gib her“, sagte Vladi und nahm mir Freddas Rad ab. „Da hast du ja eine schöne Acht reingemacht Fredda, wie hast du geschafft? Das muss Igor wieder richten. Du sollst doch nicht allein fahren, wie oft habe ich dir gesagt?“

„Du darfst ja nicht allein mit mir fahren und bis du die anderen gefragt hast und ihr dann mit zwei Stunden Verspätung bei mir seid, bevor wir überhaupt loskommen, da habe ich meine Tour schon fertig.“ Mit einem Verständnis suchenden Blick zu mir fügte sie mit verschwörerischem Unterton hinzu: „Er darf nicht allein, weil Olga, seine Frau, meint, das sei zu gefährlich, allein mit mir.“ Das „gefährlich“ hatte sie mit je zwei Fingern in Anführungszeichen gesetzt.

„Sestritschka, sei nicht ungerecht.“ Zu mir gewandt. „Mein Stern ist ein bisschen verrückt, etwas eifersüchtig, aber macht nichts, ist Bombe, wirst sehen.“

„Ich werde sehen?“

„Ja“, schob Fredda dazwischen, „Vladi veranstaltet demnächst Angrillen mit Freunden, das erste Mal nach dem Lockdown, es gibt eine fette Wildsau und da du jetzt auch mein Retter bist, hat er dich dazu eingeladen.“

„Mich?“, fragte ich etwas blöde zurück.

„Ja, er meint, du gehörst dazu, er mag dich. Aber ich möchte mich auch noch bei dir bedanken und dich einladen, wenn ich wieder laufen kann und wenn du Zeit und Lust hast.“

Bedankt hatte sie sich schon bei mir, was sollte da noch kommen und was sollte das jetzt werden?

„Öh ja, ich habe jede Menge Zeit.“

„Gut, dann komm her und gib mir deine Nummer.“ Ich kramte mein Smartphone aus meiner Tasche und stellte meine komoot-Aufzeichnung auf Pause, um meine Nummer zu suchen.

„Du kennst deine eigene Nummer nicht?“, fragte Fredda.

„Ne, alles nur abgespeichert.“

„Dann komm her, ich schreibe sie ab und schicke dir eine WhatsApp, du bist doch bei WhatsApp?“

„Ja“, ich ging zu ihr, lehnte mich an den Beifahrerholm des Viano, gab ihr mein Phone und hatte sofort das Gefühl, mich in ihrer Aura zu verfangen.

VERFANGEN!

Schon wieder ein „V“, was sich nahtlos anschloss und weitere Assoziationen in mir hervorrief, VERSUCHUNG! und VERFÜH-RUNG!

„Hier, hab sie, ich lade dich nach Dortmund in den Tempel der Versuchung ein, woll.“

„Bitte?“

„Nicht an was du denkst, wirst schon sehen.“

Etwas verdutzt und ertappt, als hätte sie meine Gedanken gelesen, stand ich am Holm und sie zog an meinem Ärmel, gab mir einen Kuss auf den Mund: „Bis dann, willkommen im Club der Retter.“

Ihre Pupillen waren wieder groß wie Untertassen, Vladi war schon eingestiegen, hatte den Motor angelassen, der sonor im Leerlauf tuckerte, er musste irgendwas mit dem Auspuffsound gemacht haben. Aus der Anlage wummerte irgendein russischer Hip-Hop. Vladi stellte das Radio leiser und sprach mich an: „Kommst du zum Grillen?“

„Öh, weiß noch nicht.“

„O.K., werde sehen, Fredda immer noch hat Argumente.“ Er und grinste sie breit an, was sie sofort mit einem festen Knuff in seine Seite quittierte.

Vladi legte einen Gang ein, Fredda schloss die Tür, winkte kurz und weg fuhren sie und wieder ereilte mich dieses Gefühl des Festhaltenwollens. Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand, bis ich an meine Lippen fasste, etwas ungläubig, mein Gott, wie im Zeitraffer flog die letzte halbe Stunde durch meinen Kopf, länger war es nicht gewesen und die Zeit dehnte sich, Erinnerungssplitter flogen durch meinen Kopf, Klientin, Biss, Narbe, Spritze, Vergewaltigung, VERBOTEN! VORBOTEN! VERFANGEN! VERSU-CHUNG! VERFÜHRUNG!

Wann hatte ich mich das letzte Mal so versucht gefühlt? Ja, ich wusste es, mit Ana, aber das war länger her, aus einer anderen Zeit, in einem anderen Leben.

Ich nahm mein Bike, klickte mich in meine Pedale ein und nahm den Downhill zur Ruhr und merkte bald, dass ich nicht ganz bei der Sache war und entschied mich, als ich heile unten angekommen war, meinen Rückweg nach Bochum direkt über den „Tourde-Ruhr“- Radweg zu fahren und meinen Gedanken nachzuhängen.

Vladi hatte von ihrer Angst vor Spritzen und vorm Nähen gesprochen, ich hatte ihre gut verheilte Wunde gesehen, von einem Trauma war vor sieben Jahren noch keine Rede gewesen, ich wusste natürlich, dass sich im Nachhinein solche Traumen auf xbeliebige Dinge beziehen könnten, aber natürlich auch auf direkt mit dem Trauma im Zusammenhang stehende, also war sie nicht austherapiert, hatte die Therapie bei mir ja auch nach sechs Sitzungen beendet, als es beginnen sollte, auch um ihre Familie zu gehen.

Sie musste jetzt 37 Jahre alt sein. Warum wusste ich das so genau? Ihre Töchter so 14 und 11 Jahre. Mein Gott, ich hatte mir das gemerkt. Und ihr Ehemann Marko? VENDETTA! flog mir entgegen, einen Ehering hatte ich nicht an ihrer Hand gesehen, allein, VORSICHT!

„Willkommen im Club der Retter!“, das hörte sich nach einer verschworenen Gemeinschaft an, ich war eingeladen, Vladi, offensichtlich ein zuverlässiger Retter, nicht nur von Berufs wegen, mit leichtem Hang zum Klotzen, wenn ich an seinen aufgemotzten Viano dachte.

Und dann ihr Mund, ich hatte eine dermaßen intensive Erinnerung daran, dass ich nur die Augen schließen musste und meine Unterlippe einsaugen musste, um mir dieses Empfinden zurückzuholen, was beim Fahrradfahren keine so gute Idee war, weil ich beinahe einen frei herumlaufenden Dackel überfahren hätte, dem ich erst im letzten Moment ausweichen konnte, was mir eine Verfluchung des Besitzers einbrachte. Das Gefühl von Sog, wenn ich in ihre Aura kam oder sie berührt hatte, und dann ihre Frage, ob mir ihre Titten gefallen würden, welche Frage, sie waren formvollendet und ein Abgrund an Versuchung und wenn dann noch ihr fetter Zopf dazwischen hing wie ein Vorhang, den man zur Seite schieben musste, um einen freien Blick in die Berge zu erhaschen… . „QUE BELLA VISTA“, sagte man in Italien gewöhnlich bei so guten Aussichten.

Frohgemut und leicht verwirrt erreichte ich meine Einliegerwohnung im Haus von Mascha im Herzen von Bochum und zog mich erst einmal unter meine Dusche zurück, wo ich zwanghaft versuchte meine Gedanken zu bändigen und auf jeden Fall meine Finger von mir ließ und die Dusche alsbald auf kalt einstellte.

Ich trocknete mich ab und während ich mich anzog, überlegte ich, was ich aufgeschrieben hatte über Fredda, die Unterlagen musste ich ja mindestens zehn Jahre nach Therapiebeendigung aufbewahren. Ich fand sie schnell in meinem verschlossenen Metallschrank, den ich extra für diesen Zweck angeschafft hatte und blätterte die alten Unterlagen durch. Die bereits erinnerten Daten überflog ich bis ich auf die Notizen zu einem Traum stieß, den ich damals aufgeschrieben hatte.

FREDDA

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