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„MEINE UNSTERBLICHEN WERKE“ FRIEDRICH ENGELS ALS JOURNALIST UND PUBLIZIST EIN ÜBERBLICK

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JÜRGEN HERRES

Im handschriftlichen Nachlass von Friedrich Engels befindet sich ein unscheinbares Blatt Papier aus dem Jahre 1891. Auf ihm führt Engels seine zahlreichen Publikationen auf. Obwohl er die Liste ernst meinte, drückte er doch in der ihm eigenen Art Distanz aus und gab ihr den ironischen Titel Meine unsterblichen Werke.

Der 70-Jährige war von dem deutschen Nationalökonomen Ludwig Elster, einem der Herausgeber des kurz zuvor ins Leben gerufenen Handwörterbuch der Staatswissenschaften, um ein Schriftenverzeichnis und „unbedingt zuverlässige“ autobiographische Angaben gebeten worden.1 Beides hat Engels offensichtlich umgehend an Elster gesandt. Der Antwortbrief und die nach Deutschland übermittelten Materialien sind nicht überliefert, aber immerhin das erwähnte Blatt Papier. Ein Jahr später erschien ein kurzer biographischer Lexikonbeitrag über ihn – mit einem ausführlicheren Schriftenverzeichnis. Das Handwörterbuch, das im Gustav Fischer Verlag in Jena erschien, erlangte als Enzyklopädie der Sozialwissenschaften rasch Ansehen und Verbreitung; es erlebte mehrere Auflagen und wurde in den 1950er Jahren als Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, dann als Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften fortgeführt.2 Engels hatte also die Gelegenheit genutzt, sich dem deutschsprachigen Wissenschaftspublikum vorzustellen. Ein Jahr später tat er dies auch für den 1883 verstorbenen Karl Marx.3

Blatt und Liste sind auf den ersten Blick unspektakulär. Engels listet Tätigkeiten für Zeitungen genauso auf wie selbständige Publikationen und auf Zeitschriftenartikel zurückgehende Broschüren und Bücher. Aber auch wenn die Liste mehr als dreißig Titel ausweist, fehlen – nicht nur aus heutiger Sicht – wichtige Texte und Projekte. So enthält sie – vermutlich dem Anlass entsprechend – fast nur deutschsprachige Publikationen, seine zahlreichen englischen und französischen Veröff entlichungen fehlen, seine sich über ein Jahrzehnt erstreckende Korrespondententätigkeit für die US-amerikanische Zeitung New York Tribune genauso wie seine Kommentierung des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 in der Londoner Abendzeitung Pall Mall Gazette. Aus heutiger Sicht fehlt jeder Hinweis auf seine Mitwirkung an den Manuskripten zur Deutschen Ideologie sowie auf seine eigenen Manuskripte zur Geschichte Irlands und zur Dialektik der Natur.


Friedrich Engels,1888.

Sprach Engels immerhin mit feiner Ironie von seinen „Werken“, so wurden im 20. Jahrhundert seine – und Marx’ – Schriften und Theorien in einem Maße und mit einem Ernst ideologisiert, die heute kaum noch nachvollziehbar sind. Ihre Schriften und zu Lebzeiten unveröff entlichten Manuskripte wurden aus den intellektuellen Konstellationen und zeitgenössischen Diskussionen herausgelöst und damit einhergehend viele der von ihnen verwendeten und geprägten Begriff e umgedeutet. Genauso wichtig war aber vor allem die Vereindeutigung ihrer Manuskripte und Schriften zu kohärenten „Werken“. Bewusst greife ich den jüngst von dem Islam-wissenschaftler Thomas Bauer prominent gemachten Begriff der Vereindeutigung auf.4

Engels und Marx waren keineswegs Begründer einer in sich geschlossenen Theorie, einer Art politischer Weltanschauung, die letztlich eine Sprache der Macht und des Protestes bereithielt. Ihr Œuvre hat vielmehr fragmentarischen Charakter. Weder als Revolutionäre noch als Analytiker des Kapitalismus haben sie ein abgeschlossenes oder ein zumindest in sich geschlossenes Werk hinterlassen. So sind Marx’ Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 18445 eine Mischung von wörtlichen Buchexzerpten und eigenen Notizen, aber nicht der erste Entwurf eines geplanten Buches. Marx’ und Engels’ Manuskripte der Deutschen Ideologie von 1845/466 waren zwar tatsächlich Entwürfe, aber nicht für ein Buch, sondern für die Beiträge einer geplanten Zeitschrift. Ein solches Buch hatten sie nie geplant. Und der erste Band des Kapital, der einzige, der zu Marx’ Lebezeiten erschien, stellt nur ein Bruchstück der Marx’schen ökonomischen Manuskripte dar. Die heute als Band 2 und 3 des Kapital bekannten Bücher stellte Engels bekanntlich erst nach Marx’ Tod mit großer Mühe aus den unfertigen Manuskripten zusammen.7 Marx’ Originalmanuskripte, die heute entziffert und veröffentlicht vorliegen, zeigen, dass von einem abgeschlossenen Werk oder einer abgeschlossenen Theorie nicht gesprochen werden kann.


Karl Marx’s Urenkel bei der Textexegese: Frederick, Karl, Paul and Robert Longuet im Karl Marx und Friedrich Engels Museum im Institut für Marxismus-Leninismus des Zentralkomitees der KPdSU Moskau, 1968.

In Bezug auf Marx ist dies inzwischen weitgehend Konsens, für Engels nicht, obwohl es in gewisser Weise auch für ihn gilt. So sind Engels’ Manuskripte zur Dialektik der Natur, die er von 1873 bis 1882 niederschrieb,8 ein nur wenig homogenes Textmaterial, bei dem es sich teilweise um Gedächtnisstützen und Stichworte für eine spätere Ausarbeitung handelt, teilweise um Rohentwürfe; nur wenig war druckfertig. Selbst sein Anti-Dühring,9 sein Versuch einer enzyklopädischen Zusammenfassung seiner und Marx’ Theorien und Überlegungen, war nicht zuletzt eine – polemisch überzogene – Streitschrift. Engels’ Briefe in seinem letzten Lebensjahrzehnt, die sogenannten Altersbriefe, können wir auch als Versuch lesen, die Geister einzufangen, die er gerufen hatte.

Engels war zeit seines Lebens als Journalist und Publizist tätig. Schon als Kaufmannslehrling in einer Bremer Zigarren- und Kaffee-Großhandlung begann der 18-Jährige Gedichte und Berichte zu veröffentlichen, zunächst im von Karl Gutzkow redigierten Telegraphen für Deutschland und dann in von der Verlegerfamilie Cotta herausgegebenen Zeitungen. In seiner ersten größeren Artikelserie Briefe aus dem Wuppertal, die zu den frühesten Beschreibungen eines deutschen Industriegebiets zählen, kritisierte er das „schreckliche Elend unter … den Fabrikarbeitern“ seiner Heimatstadt.10 Der Schriftsteller Gutzkow will allerdings Engels’ Anfängertexte regelmäßig umgearbeitet haben: „Wenn jeder Anfänger so sein kritisches Erbrechen von sich gibt, wer soll das grüngelbe Zeug in einem honetten Blatt abdrucken?“11 Als Korrespondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung berichtete Engels über die Anfänge der „Schraubendampfschifffahrt“12 und beschrieb reportageartig seine Fahrt nach Bremerhaven, wo er ein Auswandererschiff besichtigte.13 In Manchester schrieb er 1842/44 und in Paris 1847 für deutsche, englische und französische Zeitungen über die europäischen Sozialbewegungen. Nur ein einziges Mal, in der Revolution von 1848/49, war er als Redakteur angestellt, ansonsten agierte er bis zu seinem Tod als Kor-respondent (an der Seite von Marx von 1851 bis 1862 für die amerikanische New-York Tribune) sowie als freier Journalist und politischer Aktivist für zahlreiche sozialistische und sozialdemokratische Zeitschriften und Zeitungen. Immer wieder kündigte er an, „der journalistischen Tätigkeit die allerengsten Grenzen ziehn“ zu wollen, um nicht weiter die „milchende Kuh“ – heute würde man sagen: die eierlegende Wollmilchsau – der sozialdemokratischen Partei und Presse zu sein.14 Die Bandbreite der Themen, die er während seines Lebens bearbeitete, war bemerkenswert breit; sie reichte von politischen, ökonomischen und zeitgeschichtlichen Themen bis hin zu sprachgeschichtlichen, philosophischen und naturgeschichtlichen. Dabei war Europa für ihn Ereignis-, Wahrnehmungs- und Denk-Raum.

Wenn wir einen genaueren Blick auf Engels’ Liste werfen, so sehen wir einen westeuropäischen Gesellschaftskritiker, der sich intensiv mit den dramatischen Umbrüchen seiner Zeit auseinandersetzte. Als junger Republikaner und Kommunist, der Industrialisierung aus eigener Anschauung kannte, wollte er die im Wandel begriffene Welt neu sehen und erklären. Den Begriff „Revolution“ verwendet er als Beschreibungskategorie für die erlebbaren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, aber zugleich drückte sich in ihm sein politisches Konzept der Beschleunigung sowie die Perspektivierung der Zukunft aus. Die Revolution von 1848/49 war die einzige wirklich europäische Revolution, die Engels miterlebte und deren Scheitern ihn wie seine Zeitgenossen tief prägte. Der geflüchtete Achtundvierziger, der in den 1850er und 1860er Jahren als Angestellter und dann als Teilhaber eines Textilunternehmens in Manchester tätig war, konnte nur in seiner knappen Freizeit publizistisch tätig sein. Mit seinem Rückzug aus dem Berufsleben im Jahre 1869 begann sein zweiter Frühling als Publizist und Privatgelehrter. Nach Marx’ Tod 1883 wurde er zudem zum Spin-Doctor der europäischen Sozialdemokratie. Es gelang ihm, die Erwartung am Leben zu halten, Marx (und er) habe die DNA der modernen Gesellschaft entschlüsselt. Wir sehen einen Sozial- und Gesellschaftskritiker, der vielschichtiger war, als er im 20. Jahrhundert dargestellt wurde, aber auch widersprüchlicher.


Carl Wilhelm Hübner, Die schlesischen Weber, 1846.

Friedrich Engels schrieb über das 1844 in Berlin, Köln und Halberstadt ausgestellte Gemälde von Hübner:

„Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit ein Bild von Hübner, einem der besten deutschen Maler, erwähnen, das wirksamer für den Sozialismus agitiert hat als 100 Flugschriften. Es zeigt einige schlesische Weber, die einem Fabrikanten gewebtes Leinen bringen, und stellt sehr eindrucksvoll dem kaltherzigen Reichtum auf der einen Seite die verzweifelte Armut auf der anderen gegenüber. Der gut genährte Fabrikant wird mit einem Gesicht, rot und gefühllos wie Erz, dargestellt, wie er ein Stück Leinen, das der Frau gehört, zurückweist; die Frau, die keine Möglichkeit sieht, den Stoff zu verkaufen, sinkt in sich zusammen und wird ohnmächtig, umgeben von ihren zwei kleinen Kindern und kaum aufrecht gehalten von einem alten Mann; ein Angestellter prüft ein Stück, auf das sein Eigentümer in schmerzlicher Besorgnis auf das Ergebnis wartet; ein junger Mann zeigt seiner verzagten Mutter den kärglichen Lohn, den er für seine Arbeit bekommen hat; ein alter Mann, ein Mädchen und ein Knabe sitzen auf einer Steinbank und warten, daß sie an die Reihe kommen; und zwei Männer, jeder mit einem Packen zurückgewiesenen Stoffes auf dem Rücken, verlassen gerade den Raum, einer von ihnen ballt voll Wut die Faust, während der andre die Hand auf des Nachbarn Arm legt und zum Himmel zeigt, als ob er sagt: Sei ruhig, es gibt einen Richter, der ihn strafen wird. Die ganze Szene spielt sich in einem kalt und ungemütlich aussehenden Vorsaal mit Steinfußboden ab; nur der Fabrikant steht auf einem Stück Teppich, während sich auf der anderen Seite des Gemäldes, hinter einer Barriere ein Ausblick in ein luxuriös eingerichtetes Kontor mit herrlichen Gardinen und Spiegeln öffnet, wo einige Angestellte schreiben, unberührt von dem was hinter ihnen vorgeht, und wo der Sohn des Fabrikanten, ein junger Geck, sich auf die Barriere lehnt, eine Reitgerte in der Hand, eine Zigarre raucht und die unglücklichen Weber kühl betrachtet. Dieses Gemälde ist in mehreren Städten Deutschlands ausgestellt worden und hat verständlicherweise so manches Gemüt für soziale Ideen empfänglich gemacht.“ Friedrich Engels, ‚Rascher Fortschritt des Kommunismus in Deutschland‘, ursprünglich in The New Moral World vom 13. Dezember 1844, deutsche Übersetzung nach MEW Bd. 2, S. 510f.


Friedrich Engels und Karl Marx, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, gegen Bruno Bauer & Consorten, Frankfurt am Main, Literarische Anstalt, Februar 1845.

Friedrich Engels

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