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PRIVATGELEHRTER UND POLITISCHER PUBLIZIST IN LONDON
Оглавление1869 zog sich Engels mit noch nicht 49 Jahren aus dem Berufsleben zurück und lebte fortan von den Erträgen aus seinen Aktiengeschäften. Weder über den Unternehmer noch über den als eigener Fondsmanager agierenden Engels ist viel bekannt. Als Firmenteilhaber und durch Kommissionsgeschäfte, die er nebenher getätigt hatte, war es ihm gelungen, ein stattliches Vermögen zu erwirtschaften, das er zu einem Großteil in Aktien anlegte, „meist Gas Actien, dann Waterworks- & Eisenbahn Actien, alles englische Gesellschaften“, wie er 1869 seinem Bruder Hermann schrieb.67 Er war sogar in der Lage, Marx und dessen Familie eine Jahresrente zu finanzieren. Überlieferte Kontoauszüge zeigen, dass er auch später fortwährend Aktien- und Kommissionsgeschäfte tätigte.68 Im September 1870 siedelte er zusammen mit seiner Lebensgefährtin Lizzie Burns und deren Nichte Mary Ellen Burns von Manchester in ein Reihenhaus in der Londoner Regent’s Park Road um, wo er bis zu Marx’ Tod 1883 nur zehn Minuten Fußweg entfernt von Marx und dessen Familie lebte. „Täglich […] kam Engels zu meinem Vater, häufig gingen sie miteinander spazieren“, schrieb Marx’ jüngste Tochter Eleanor 1890, „und ebenso oft blieben sie daheim und gingen in meines Vaters Zimmer auf und ab“.69
Engels entfaltete nun ein facettenreiches politisches, publizistisches und auch wissenschaftliches Wirken. Seine handschriftliche Publikationsliste gibt auch darüber nur zum Teil Auskunft, obwohl die Mehrzahl der von ihm aufgeführten Schriften in dieser Lebensphase entstand.
Für deutsche, aber auch französische, englische und italienische sozialistische Zeitungen und Zeitschriften schrieb er zahlreiche Artikel. In seinem Publikationsverzeichnis führt er jedoch nur die Texte auf, die in sozialdemokratischen Zeitungen und Zeitschriften erschienen und als selbständige Broschüren – teilweise in mehreren Auflagen – nachgedruckt wurden. Mit langem Atem und große Linien ziehend, diskutierte er zeitgeschichtliche Entwicklungen und sozialistische Handlungsoptionen, wobei seine Texte durch scharfe und oft verletzende Polemik oder allzu nassforsche Behauptungen immer wieder auf Ablehnung stießen.
In seiner polemischen Artikelserie Zur Wohnungsfrage von 1872 kritisierte er in der Leipziger Zeitung Der Volksstaat die Maßnahmen der „Bourgeoisie“ zur Lösung der Wohnungsnot, die er für unzureichend hielt. „[S]o lange die kapitalistische Produktionsweise besteht“, resümierte er seine Kritik, „so lange ist es Thorheit, die Wohnungsfrage oder irgendeine andre, das Geschick der Arbeiter betreffende gesellschaftliche Frage einzeln lösen zu wollen. Die Lösung liegt aber in der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, in der Aneignung aller Lebens- und Arbeitsmittel durch die Arbeiterklasse selbst.“70 1876 behauptete er in der gleichen Zeitung in seiner Artikelfolge Preußischer Schnaps im deutschen Reichstag, Preußen sei zum Untergang verurteilt, wenn die großagrarische Kartoffelbranntweinindustrie durch die russische Konkurrenz ihre Vorherrschaft auf dem Weltmarkt verliere: „Mit dem Sturz der Branntweinbrennerei stürzt der preußische Militarismus, und ohne ihn ist Preußen nichts.“ Da helfe „kein Klagen und kein Jammern“, die „Gesetze der kapitalistischen Produktion“ würden unerbittlich auch für „Junker“ und Großgrundbesitzer gelten.71
Noch zu Marx’ Lebzeiten verhalf Engels durch eine beinahe enzyklopädisch angelegte Zusammenfassung seiner und Marx’ Arbeiten ihren Theorien zu großer Verbreitung und Anerkennung. Zu Beginn der 1870er Jahre konnte der Berliner Privatdozent Eugen Dühring beträchtlichen Einfluss auf die sich formierende deutsche Sozialdemokratie gewinnen. Dühring erhob den Anspruch, die Lehren von der Gesellschaft und der Revolution zu erneuern. Der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht, Redakteur des Volksstaats, und Marx drängten Engels, eine umfassende Kritik der Schriften Dührings zu verfassen, die als Anti-Dühring bekannt wurde und 1877/78 zunächst als Artikelserie und dann als Buch erschien. Aus Engels’ Sicht war „der Sozialismus eine Wissenschaft“ geworden. Aufgrund ihres oberlehrerhaften Tones stießen seine Artikel zunächst auf vehemente Kritik. Führende Sozialdemokraten forderten sogar, ihren Abdruck einzustellen. Die Einleitung und die vom Sozialismus handelnden Schlusskapitel publizierte Engels in einer revidierten Veröffentlichung unter dem Titel Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft zuerst auf Französisch, dann auf Deutsch und auch auf Englisch.72 Die Schrift wurde zu einem der einflussreichsten Texte des „Marxismus“.
Nach Marx’ Ableben 1883 fand Engels in dessen Nachlass umfangreiche kommentierende Auszüge, die Marx im Sommer 1880 aus dem Buch des amerikanischen Anthropologen Lewis Henry Morgan Ancient Society (1877) notiert hatte. „Über die Urzustände der Gesellschaft existirt ein entscheidendes Buch, so entscheidend wie Darwin für die Biologie“, berichtete Engels im Februar 1884 dem Sozialdemokraten Karl Kautsky, Redakteur der Theorie-Zeitschrift Neue Zeit, „Morgan hat die Marx’sche materialistische Geschichtsanschauung in den durch seinen Gegenstand gebotenen Grenzen selbstständig neu entdeckt und schließt für die heutige Gesellschaft mit direkt kommunistischen Postulaten ab.“ Der Sozialdemokrat Eduard Bernstein, Redakteur der Wochenzeitung Der Sozialdemokrat, der sich im Februar/März 1884 in London aufhielt, erinnerte sich später (1918), dass ihm Engels „Abend für Abend bis in die tiefe Nacht“ aus Marx’ Manuskripten und „dem Entwurf eines Buches, dem er Marx’ Auszüge aus des Amerikaners Lewis Morgan ‚Ancient Society‘ zugrunde legte“, vorgelesen habe.73 Trotz Zeitmangel verfasste Engels im April/Mai 1884 die Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats.74 Seine erste größere Publikation nach Marx’ Ableben wurde „die Vollführung eines Vermächtnisses“. Die zukünftige, nicht mehr nach Reichtum jagende Gesellschaft werde „eine Wiederbelebung – aber in höherer Form – der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der alten Gentes“ sein, zitiert Engels zum Schluss Morgan.75
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wuchsen in den sich formierenden europäischen Arbeiterbewegungen die Bildungs, Orientie-rungs- und Legitimationsbedürfnisse. Über Marx’ literarischen Nachlass verfügend, erhöhte sich der Druck auf Engels, eigene Beiträge zu liefern und zugleich zu ermöglichen, dass frühere Texte von ihm und von Marx übersetzt und nachgedruckt wurden.
In dem um die Jahreswende 1889/90 entstandenen Text Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, dessen Wiederveröffentlichung Stalin 1934 in der Sowjetunion untersagte, thematisierte Engels zwei Jahrhunderte russischer Geschichte. Die Schrift erschien in Deutsch in der sozialdemokratischen Zeitschrift Die Neue Zeit, aber auch in englischer, französischer, rumänischer und teilweise auch in russischer Übersetzung. In seinen Augen verhinderte das russische Kaiserreich jede Reform und Neuordnung Europas. Wie bereits in der Revolution von 1848 und in den 1850er Jahren charakterisierte er „das russische Zarenreich“ als „die große Hauptfestung … der europäischen Reaktion“,76 die mit ihrer expansiven Außenpolitik den Fortschritt Europas bedrohe und daher mit allen Mitteln zu bekämpfen sei. Auch bei seiner Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie von 1886 handelte es sich um einen Sonder-Abdruck aus der Neuen Zeit. In ihr gab er eine ausführliche Darstellung der von ihm so bezeichneten „materialistischen Weltanschauung“ und bezeichnete zusammenfassend, die deutsche Arbeiterbewegung als „die Erbin der deutschen klassischen Philosophie“.77 Persönliche Schärfe und unverhältnismäßiger Umfang kennzeichnen seine Polemik In Sachen Brentano kontra Marx wegen angeblicher Zitatsfälschung von 1891, in der Engels auf den Vorwurf des Sozialreformers Lujo Brentano antwortete, Marx habe ein Zitat aus der Budgetrede des britischen Schatzkanzlers Gladstone aus dem Jahre 1863 verfälschend wiedergegeben.78
Parallel wurden zahlreiche Marx-Schriften nachgedruckt – von Engels mit neuen Einführungen versehen, die in der Regel auch separat publiziert wurden. Dabei zeigte sich Engels als „genialer Vorwortschreiber“, worauf jüngst der Historiker Wilfried Nippel aufmerksam gemacht hat. Es gelang Engels, vergessenen oder ganz verschollenen Texten von Marx als „Handreichungen zu tagesaktuellen Problemen ebenso wie als grundsätzliche program-matische Stellungnahmen“ neue Bedeutung zu geben.79 In seiner Publikationsliste zählte Engels zehn Vorworte und Einleitungen auf, die er zwischen 1885 und 1891 der Neuauflage eigener oder Marx’scher Schriften voranstellte. Er nannte seine Vorreden bzw. Einleitungen zur Übersetzung der ursprünglich in Französisch verfassten Marx’schen Schrift Das Elend der Philosophie von 1847 (1885)80 und zur Wiederveröffentlichung von Marx’ Enthüllungen über den Kommunistenprozess zu Köln von 1852 (1885),81 ebenso zur dritten Auflage des ersten Bandes des Kapital (1883)82 und zur englischen Übersetzung desselben Bandes (1887)83 sowie zur ersten Auflage des von Engels aus Marx’ Nachlass besorgten zweiten Bandes des Kapital (1885).84 Er listete aber auch seine biographischhistorischen Einleitungen zu Sigismund Borkheims Schrift Zur Erinnerung für die Mordspatrioten 1806–1807 (1888)85 und Wilhelm Wolffs Artikelfolge Die schlesische Milliarde (1886 und 1890)86 auf; letztere war ursprünglich 1849 in der Neuen Rheinischen Zeitung erschienen und hatte die Forderung französischer Republikaner und Sozialisten nach Entschädigungen aufgegriffen. „Den schlesischen Bauern rief Wilhelm Wolff … in’s Gedächtniß“, schrieb Engels, „wie sie bei der Ablösung der Feudallasten von den Gutsherren mit Hilfe der Regierung um Geld und Grundbesitz geprellt worden, und forderte eine Milliarde Thaler Entschädigung.“87
Nach dem Sieg über Bismarcks Sozialistengesetze, die zwischen 1878 und 1890 sozialdemokratische Organisationen und ihre Presse im Deutschen Kaiserreich verboten hatten, glaubte Engels in seinem letzten Lebensjahrzehnt, in der deutschen Sozialdemokratie endlich das Instrument für den Sieg über den Kapitalismus gefunden zu haben. Insbesondere zu dem Sozialdemokraten August Bebel hatte er ein enges politisches und persönliches Verhältnis; die Übereinstimmung in „Denkrichtung und Denkweise“ mit Bebel bezeichnete er „förmlich wunderbar“.88 Aktiv war Engels an der Vorbereitung des internationalen Arbeiterkongresses beteiligt, der im Juli 1889 anlässlich des 100. Jahrestags der Französischen Revolution in Paris abgehalten und auf dem konfliktreich die Zweite Internationale gegründet wurde. In den sozialdemokratischen Programmberatungen, 1875 auf dem Gothaer und 1891 auf dem Erfurter Parteitag, stritt Engels von London aus dafür, dass die Arbeiterpartei der Konfrontation mit dem deutschen Staat nicht ausweiche. Sei es nicht möglich, „ein offen republikanisches Parteiprogramm“ aufzustellen, so Engels 1891, dann müsse man wenigstens die „Konzentration aller politischen Macht in den Händen der Volksvertretung“ verlangen.89 In den europäischen Arbeiterbewegungen forderte er eine „absolute Freiheit der Debatte“. Kritik war aus seiner Sicht das „Lebenselement“ jeder politischen Bewegung.90
In der Liste seiner unsterblichen Werke ließ Engels – unvollendete – Buchprojekte genauso unerwähnt wie wichtige publizierte Texte. Auch die Zusammenstellung und Herausgabe des zweiten und dritten Bandes des Marx’schen Kapitals, womit er über Jahre hinweg trotz einer Augenkrankheit, wahrscheinlich eine chronische Bindehautentzündung, intensiv beschäftigt war, erwähnt er nur beiläufig.
Als erstes politisches und wissenschaftliches Vorhaben machte sich Engels unmittelbar nach seinem Ausstieg aus dem Unternehmen Ermen & Engels mit großem Elan an eine – nie abgeschlossene – deutschsprachige Geschichte Irlands. 1869/70 arbeitete er umfangreiche Literatur und zahlreiche historische Quellen durch, aus denen er – bis heute unveröffentlichte – Exzerpte in einem Umfang von über sechshundert Druckseiten anfertigte. Immerhin schrieb er die ersten beiden von insgesamt drei Kapiteln nieder.91 Als im Juli 1870 der Deutsch-Französische Krieg ausbrach, kommentierte er diesen monatelang in der liberal-konservativen Londoner Abendzeitung Pall Mall Gazette,92 gestützt auf die offiziellen Telegramme beider Kriegsparteien, die er abwägend und kritisch analysierte.
Engels, der zeit seines Lebens die naturwissenschaftlichen Fortschritte verfolgte, begann sich seit 1873 eingehend mit den Naturwissenschaften zu beschäftigen. Er plante ein „naturphilosophisches Werk“, in dem er die gemeinsamen Charakteristika aller Naturwissenschaften seiner Zeit zu einer umfassenden Theorie der Natur kombinieren wollte. Seine fast zweihundert fragmentarischen Textstücke wurden im 20. Jahrhundert unter dem Titel Dialektik der Natur93 zusammengefasst und galten dem Marxismus-Leninismus als grundlegendes philosophisches Werk. Engels selbst war skeptischer. „Vielleicht aber macht der Fortschritt der theoretischen Naturwissenschaft meine Arbeit größtentheils oder ganz überflüssig“, meinte er 1885.94 Albert Einstein, 1924 um ein Gutachten gebeten, meinte, Engels’ Aufzeichnungen würden immerhin wichtige Einblicke in die Wissenschaftsbegeisterung und Rezeption der damaligen Zeit geben.95
Friedrich Engels’ Mitgliedskarte der International Working Men’s Association.
In der ersten Hälfte der 1870er Jahre verfassten Engels und Marx – teilweise im Auftrag des Generalrats der Internationale – mehrere Anklageschriften gegen den russischen Anarchisten Michail Bakunin. In seiner Publikationsliste nennt Engels nur seine Artikelserie Die Bakunisten an der Arbeit von 1873,96 in der er Rückschläge der sozialistischen Bewegungen nach der Proklamation der spanischen Republik auf dortige Machenschaften Bakunins und seiner Anhänger zurückführte. Die gemeinsam mit Marx verfassten Schriften Les prétendues scissions dans l’Internationale (Die angeblichen Spaltungen in der Internationale) von 187297 und L’Alliance de la Démocratie Socialiste et l’Association Internationale des Travailleurs (Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassociation) von 1873/7498 ließ er jedoch außen vor. Die erste Schrift wurde im März 1872 im Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation, dem Engels seit 1870 angehörte, verlesen und in einer Aufl age von zweitausend Exemplaren versandt. Sie ist ein „Sammelsurium von Irrtümern“,99 ohne Verständnis für politische Zusammenhänge und Entwicklungen innerhalb revolutionärer Bewegungen. Die zweite Broschüre war – so der Engels-Biograph Gustav Mayer – „das leidenschaftliche Plädoyer eines von der Richtigkeit seines Standpunktes fest überzeugten Staatsanwalts, der sich kein Argument entgehen läßt, das zur Verurteilung des Angeklagten beitragen kann“.100 Engels’ und Marx’ zufolge scheint es unter der Leitung Bakunins nichts als Intrigen gegeben zu haben.