Читать книгу Gretge. „mit Hexen verwandt, als Hexe verbrannt“ - Jürgen Hoops von Scheeßel - Страница 8

Kapitel 1
Die Jahre 1646-1659

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I


Bereits am Weihnachtsmorgen des Jahres 1646 kündigte sich für die junge Mette Meinken das Ende der Schwanger-schaft und die Geburt ihres ersten Kindes an.

Ihr Ehemann Claus, welcher seit ihrer Heirat vor zwei Jahren nun der Bauer auf dem Hof war, sandte seinen Knecht und älteren Bruder Joachim aus, die Bademutter, andernorts auch Hebamme genannt, zu informieren und am besten sogleich mitzubringen. Es war ein uralter voller Hof mit einem in die Jahre gekommenen, strohgedeckten Fachwerkhaus und mehreren Nebengebäuden, deren Alter man ihnen an jedem Balken ansah. Die hölzernen Windbretter der Giebelzier mit den nach innen gekreuzten Pferdeköpfen waren sichtlich schon von Wind und Wetter gezeichnet.

Längst hätte das Stroh auf dem Dach ausgebessert oder gar erneuert werden müssen, aber dafür gab der Grundherr, das Amt Rotenburg, keine Gelder frei. Es war selbst unter der Kriegslast hoch verschuldet.

II


Claus’ Vater, der Altenteiler Tietke, redete beruhigend auf seinen Sohn ein, wie es sein Vater einst, bei Claus eigener Geburt getan hatte. Die Jahre als Bauer und die Erlebnisse während der Kriegszeit, sowohl mit den katholischen,,als auch mit den protestantischen Truppen, hatten ihn schwer gezeichnet. Er war nicht nur alt an Jahren, sondern auch gebrechlich geworden. Seine Beine wollten nicht mehr so recht, seit er von Tillys Soldateska, die er zur Einquartierung auf seinem Hof hatte, mit dem Stock blutig geschlagen wurde.

Das ganze Dorf hatte seinerzeit sehr gelitten. Alle Vorräte hatten die Soldaten aus den Häusern und Speichern gestohlen. Das Vieh im Dorf hatten sie geschlachtet und verzehrt. Auch die Pferde wurden ihnen weggenommen. Für den Winter war den Dorfbewohnern nichts geblieben und in den Nachbardörfern sah es nicht besser aus.

Als Tietke sich dagegen wehren wollte und einen Leutnant ansprach, wurde er als gottloser Geselle beschimpft und barsch abgewiesen. Er erinnerte sich noch genau daran, als sei es gestern erst gewesen. Tietke hatte schon manchen schlechten Winter im Dorf erlebt, der durch seine Härte und Dauer die Vorräte auffraß. Damals aber hatten sie schon im Herbst nach der Ernte nichts mehr zu essen. Deswegen flehte er den Leutnant, einen böhmischen Junker, der die Truppe im Dorf befehligte und nun abziehen wollte, in seiner Eigenschaft als Bauernvogt an, sie mögen sich erbarmen. Er solle ihnen Lebensmittel und einige Stück Vieh da lassen.

Die schwedischen Truppen waren nicht mehr weit. Das wusste Tietke, denn er hatte die Soldaten ängstlich reden hören. Der Leutnant entgegnete ihm mit einem verächt-lichen Grinsen von seinem Pferd herunter, er könne froh sein, dass er ihm nicht das Dorf über den Köpfen anzünden lassen würde. „Bauernvogt, ich komme bald wieder, dann brauche ich die Häuser zum Wohnen für meine Leute. Seid froh, dass ich Euch leben lasse, und spart uns eure Weiber für die kalten Wintertage auf.“ Tietke wurde ungewöhnlich laut, und er beschimpfte den Leutnant von Bodenthal als Henkersknecht seines Heer-führers und seiner Pfaffen. Das Blitzen in den Augen des Offiziers hatte Tietke bis heute nicht vergessen.

Er wurde daraufhin von zwei übel aussehenden Lands-knechten auf die Knie gezwungen und ein Dritter gab ihm auf Befehl des Leutnants dreißig Stockhiebe auf die nackten Fußsohlen, dass das Blut im Sand eine kleine Lache bildete. Der Leutnant lachte dabei und forderte seinen Schergen auf, recht heftig auf den protestantischen Tropf dreinzuschlagen.

Nach laut vorgezählten dreißig Hieben unter Gejohle der umstehenden Söldner wurde Tietke losgelassen. Ohnmächtig fiel er vornüber auf den Boden. Seine Füße waren gebrochen und blutig zerfetzt, die Schmerzen raubten ihm die Sinne. „So wird es allen ergehen, die das Maul zu weit aufreißen. Es lebe der Kaiser.“ Mit diesen Worten verschwand der Leutnant mit seiner Truppe und ließ die Menschen im Dorf zurück.

Zwei Stunden später rückten die ersten schwedischen Reiter in das Dorf ein. Auch sie hatten keine Verpflegung übrig. Einige Tage später wurde veranlasst, dass über den Herrn von Schulten und das Amt Rotenburg alle Dörfer ebenda für den bevorstehenden Winter Vorräte erhielten. Dass sie es dem Leutnant und den ausweichenden katholischen Truppen nach einem kurzen Gefecht südlich von Rotenburg abgenommen hatten, wussten die Menschen nicht. Der böhmische Leutnant war dabei von einer Kugel in die Brust getroffen worden. Er stürzte von seinem Pferd und brach sich das Genick.

Die Menschen im Dorf hielten in diesen schweren Zeiten einiges an Vieh in den Wäldern versteckt, hatten Lebens-mittel in geheime Erdbunker vergraben und holten nur das heraus, was sie eben brauchten. Sie mussten in diesen harten Jahren zusammenhalten. Hätte auch nur einer den fremden Truppen, welcher Partei sie auch angehörten, diese Verstecke verraten, wäre es schlecht um sie bestellt gewesen. Dieser Zusammenhalt zerbrach in den besseren Zeiten, wie wir noch erfahren werden.

Es dauerte Monate, bis Tietke wieder auf eigenen Füßen stehen konnte, was er der Pflege seiner Frau und den Kräutern ihrer Verwandten zu verdanken hatte. Niemand im Dorf glaubte noch, er würde jemals wieder richtig gehen können. Seinen Hof konnte er aber nie wieder mit voller Kraft führen. Da seine Väter schon seit Generationen dem Amt auf diesem Hof dienten, er selbst stets seine Abgaben bis dato pünktlich entrichtete hatte, gestattete ihm der Amtmann, den Hof weiterzuführen. Zur Unter-stützung wurde Tietkes jüngerer Bruder Johann als Interimswirt eingesetzt.

Tietkes Sohn Claus und sein Großknecht Lewerenz bekamen mehr Aufgaben zugewiesen. Daneben waren noch ein Knecht und eine Magd auf dem Hof beschäftigt. Claus wurde als Hoferbe angelernt, würde er doch bei der eigenen Heirat den Hof des Vaters übernehmen. Claus lernte dabei die Tochter der Anverwandten von Tietkes Frau kennen. Sie hieß Mette, und sie machte Tietke heute zum Großvater. Darüber war der alte Tietke sehr froh, zog an seiner Pfeife, schaute ins offene Flettfeuer, atmete tief ein, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Dann sah er auf und schaute seine Frau Margarethe mit einem zufriedenen Lächeln an.

III


Die alte Margarethe, Claus’ Mutter, war noch gut beieinander und bereitete schon alles für die Arbeit der Bademutter mit der Dienstmagd Anne vor. Anne war Jungmagd und erst 15 Jahre alt. Sie war ein fröhliches, aber sehr zurückhaltendes Mädchen. Für sie war es die erste Geburt, die sie als Magd miterleben durfte. Es war ihre erste Anstellung. Sicherlich hatte sie schon daheim mitbekommen, dass die eigene Mutter Kinder bekam, aber dabei mitgeholfen hatte sie noch nie. Sie war erst seit diesem Jahr auf dem Hof und stammte aus einem nahen Nachbardorf. Sie war eines von elf Kindern ihrer Eltern. Schon ihr älterer Bruder Lütke war als Jungknecht hier bei Meinken gewesen. Ihre Mutter war eine Nichte des alten Tietke. Sie passte auf, das ihr Aufgetragene stets richtig zu machen. Selbstverständlich wollte sie später auch einmal heiraten und Mutter werden. Bademutter aber wollte sie nicht werden, denn diese waren ihr unheimlich. Die Großeltern und die Alten in ihrem Dorf erzählten sich die sonderlichsten Dinge über diese Frauen, die sich mit Kräutern auskannten.

Sie hatte auch Gespräche der katholischen Soldaten mitgehört, dass Frauen, welche sich mit Kräutern auskannten und Bademütter waren, als „Hexen“, die man verbrennen müsse, bezeichnet wurden. Das hatte ihr große Angst und einige schlaflose Nächte bereitet, denn sie kannte ja Bademütter und Kräuterfrauen. Da die fremden Soldaten auch darüber sprachen, dass, wer mit diesen Weibern verkehre, sich ebenso der Zauberei schuldig machen und verbrannt werden würde, hatte sie Angst um das eigene Leben bekommen. Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, denn Bademutter Hibbel verlangte lautstark nach heißem Wasser.

IV

Es war ein bitterkalter, aber trockener und schöner Wintermorgen, von dem die Menschen im Hause der Familie Meinken nichts mitbekamen. Die Bäume, Felder und Häuser des Dorfes waren mit einer glatten, fast kniehohen Schneedecke überzogen. Von den Strohdächern hingen große und kleine Eiszapfen herunter, die im Licht der Sonne blinkten.

Der Schneefall hatte schon am Vortag aufgehört. Dennoch würden der Knecht Lewerenz und die Bademutter einige Stunden benötigen, um hierher zu kommen.

In der zweiten Stunde nach Mittag traf der Knecht mit der alten und erfahrenen Bademutter Hibbel ein. Er hatte sie nicht bei ihr zu Hause angetroffen. Sie war am Abend zuvor zu einer anderen Geburt gerufen worden und dort über Nacht geblieben. Sie half einem Knaben, das Licht der Welt zu erblicken. Von dort holte sie der Knecht ab und brachte sie mit dem alten Leiterwagen zum Hof in Westeresch. Hibbel schaute sehr müde drein, als sie ins Haus trat, ging sogleich zu Mette in die Kammer und kam nach einigen Minuten wieder heraus, um die Vorbereitungen im Hause zu prüfen. Sie beruhigte die Anwesenden mit einer knappen Handbewegung und teilte ihre Einschätzung mit, dass es noch zwei bis drei Stunden dauern würde, bis das Kind zur Welt käme. Es würde also heute am Weihnachtstag geboren werden, das konnte sie aus ihrer Jahre währenden Erfahrung beurteilen.

Sie bekam erst einmal eine heiße Suppe und wärmte sich am offenen Feuer im Flett auf, während Mette in der kleinen ungeheizten Kammer im Bett lag und Angst hatte, denn sie wusste, dass die erste Geburt für eine Frau stets ein Risiko war. Eine von Mettes Schwestern war unter der Geburt gestorben, ohne das Kind herauszubringen. Sie hatte drei ganze Tage und Nächte gelitten, bis der Herr sie endlich von ihren Qualen erlöst hatte.

Die Menschen im Heimatdorf redeten von der Strafe Gottes gegen die Hexenbrut. Mettes Mutter und Großmutter waren nicht gut angesehen, denn der Hof der Eltern und Großeltern warf stets gute Erträge ab, während die anderen Bauern Hunger leiden mussten. Das ging für die Nachbarn nicht mit rechten Dingen zu.

V


Hibbel dagegen war zufrieden, denn als alte Witwe hatte sie als Bademutter noch eine wichtige und geachtete Aufgabe in den Dörfern und ein kleines Zubrot in den schlechten Zeiten. Sie wusste aber auch, dass sie in ihrer Tätigkeit vorsichtig sein musste, denn der Aberglaube, ihr Berufsstand habe etwas Mystisches an sich, hatte schon manch andere Frau in arge Bedrängnis mit der Gerichts-barkeit gebracht.

So war es auch Mettes Mutter und Schwiegermutter ergangen, die sie beide noch gekannt hatte. Sie waren, wie Hibbel heute, Bademütter gewesen und wurden der Zauberei verdächtigt und beschuldigt.

Hibbel heiratete einst, wie Mette, in dieses Kirchspiel ein. Ursprünglich stammte sie aus einem Nachbardorf von Mettes Eltern. Hibbel hatte als junge Dienstmagd noch bei der alten Hoops in Höperhöfen, das Handwerk der Hebamme erlernt, es aber für sich behalten.

Nach dem frühen Tod ihres Mannes Hans fing sie an, es auszuüben, weil sie eine Aufgabe brauchte. Sie hatte keine eigenen überlebenden Kinder, obwohl sie so gerne welche gehabt hätte. Vier mal gebar sie tote Kinder, drei Mädchen und einen Knaben. Nun führte der Neffe ihres Mannes den Hof, und sie fühlte sich fremd im eigenen Haus. Sicherlich durfte sie dort bis zu ihrem Lebensende wohnen bleiben, dennoch war sie stets froh, wenn sie aus dem Haus konnte.

Die Aufgabe als Bademutter gab ihrem Leben noch einen Sinn. In ihrer Tätigkeit kam sie sehr viel herum und die Menschen sprachen offen und vertraulich mit ihr. Dadurch wusste sie vieles, kannte aber auch die Gerüchte und Lügen, wusste auch um die Falschheit einiger. Sie hielt sich stets neutral, soweit es eben ging.

Nun saß sie in dem Haus, in dem Mette heute ein Kind gebären sollte. Hibbel kannte die Abneigung der Nachbarn gegenüber der Familie Meinken. Sie sprachen hinter vorgehaltener Hand, Mette sei die Tochter einer Hexe und habe den Bauern verzaubert. Ansonsten hätte er sicherlich eine Frau aus dem Dorf geheiratet. Ja, dachte Hibbel, so ist das und erinnerte sich an ihre ersten Jahre hier im Kirchspiel. Mettes Wehklagen holte Hibbel aus ihren Gedanken zurück. Sie stand auf und ging zu ihr in die Kammer zurück. Die alte Margarethe und die junge Dienstmagd Anne gingen mit, um ihr zu helfen.

Die Männer blieben im Flett rund ums offene Feuer unter dem Rähm sitzen und rauchten ihre Pfeifen. Der alte Tietke holte eine Buddel Selbst gebrannten aus seiner Kammer, die er für besondere Anlässe aufgehoben hatte. Heute, da er die Geburt seines ersten Enkelkinds erleben durfte, war so ein besonderer Anlass.

Weil die Soldaten auch das Zinngeschirr mitgenommen hatten, waren keine Becher im Hause, aus denen man den Holunderschnaps hätte trinken können. Man hatte sich mit Holztellern und Holzbesteck begnügt, die der Drechsler Hans Grobben hergestellt hatte, denn es war kein Geld zum Kauf für teures Besteck übrig geblieben. So ging die Flasche reihum. Tietke reichte sie dem zukünftigen Vater und Claus nahm einen kräftigen Schluck, der ihm eine gesunde Röte ins Gesicht zauberte. Dann trank Nachbar Ratchen, nachdem er Claus zugeprostet hatte. Die Flasche wanderte zurück zu Tietke, der reichte sie seinem Bruder Lewerenz, dem Großknecht, welcher mit am Feuer saß. Die Flasche ging weiter in der Runde umher, die nunmehr immer fröhlicher wurde. Tietke erzählte Geschichten aus alten Zeiten, aber man sprach auch über die Sorgen, wie man über den Winter kommen würde, wenn er zu lange andauerte. Lewerenz stand zwischendrin auf, um trockenes Pollholz in den eisernen Gitterkorb zu legen. Mit der Zeit verlor die Sonne an Kraft und Wärme, sodass die Winterkälte ins Haus kroch.

Die Holzklotschen, welche die Männer an den Füßen trugen, wärmten nicht und waren schon recht abgenutzt. Sie boten nur einen geringen Kälteschutz gegen den Lehmfußboden, der mit kleinen pflaumengroßen Fluss-steinen mosaikförmig ausgelegt war. So gingen die Stunden dahin, Tietke holte noch eine zweite Flasche hervor, seine Letzte und ließ sie zwischen den Männern kreisen. Hibbel, die zwischendurch ans Feuer kam, sich zu wärmen, trank gerne einen kräftigen Schluck mit.

VI

Mette lag unterdessen im Bett ihrer kleinen kalten Kammer und wurde von ihrer Schwiegermutter, der Magd Anne und Hibbel umsorgt. Das kleine Fenster war mit dünngeschabter gespannter Schweinehaut als Fenster-glasersatz bespannt, wodurch an hellen Tagen auch ein wenig Licht hereinfiel. Wenn es Abend wurde, stopfte die Magd gegen die eindringende Kälte Lumpen in die Löcher und verkeilte sie gegen Herausfallen mit einem eigens dafür vom alten Bauern gefertigten Brett. Es standen noch ein hölzerner Schrank mit zwei Schwenktüren und eine große eichene Truhe im Raum. Diese Truhe hatte Mette zur Hochzeit von ihren Eltern mitbekommen, um die Mitgift, aus Leinen, Tüchern, Bettzeug, Tischdecken, Nachthemden und vielerlei anderer Wäsche sowie die Tracht darin aufzunehmen. Die Spinn- und Webarbeiten sowie Stickereien hatte sie schon, wie alle anderen auch, als junges Mädchen erlernt und so in den Winterabenden im Kreise der Familie gefertigt, während die Männer am Feuer Geschichten erzählten.

So häuften fleißige Mädchen viel Wäsche für die Aussteuer an und weniger fleißige litten später Not, was die Wäsche anging. Mettes Truhe hatte innen an der linken Seite eine Lade mit einer Klappe, in die sie ihre kleinen Schätze, wie die Brosche, welche sie zur Hochzeit geschenkt bekam, hineinlegen konnte. Weiterhin war die „Hohe Kante“, eine Leiste, um darauf die Taler und Schillinge zu legen, vorhanden. Das Geld verwaltete die Ehefrau und den Schlüssel zur Truhe trug sie stets in der Schürze.

In den späten Nachmittagsstunden hatte Mette ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht. Hibbel wusch es mit warmem sauberem Wasser ab, nachdem sie die Nabelschnur mit einer Schere durchtrennt hatte. Dann trocknete sie das kleine Kind ab und wickelte es in wärmende Decken ein. Nun erst reichte sie Mette, die inzwischen von Anne und der alten Margarethe gewaschen und versorgt war, das Neugeborene.

Mette nahm ihre Tochter liebevoll in den Arm und schaute sie nachdenklich an. Das Mädchen hatte die Augen geschlossen, die wenigen Haare auf dem Kopf schimmerten hellblond im Kerzenlicht. Das Gesichtchen war noch ein wenig schrumpelig, wie bei alten Leuten. Mette lächelte ihre Schwiegermutter an und sagte: „Sie soll Margarethe wie ihre Großmutter getauft werden“, woraufhin sie der alten Margarethe ihre Enkelin reichte. Margarethe setzte sich auf die Bettkante, nahm die Enkeltochter liebevoll in die Arme und schaute sie versonnen an.

Als das Kind zum ersten Mal die Augen aufschlug, sah es seine Großmutter mit großen Augen an und lächelte. Das erste Wort, welches es hörte, war „Gretge“. Die alte Margarethe sprach es mit Stolz und tiefer Freude aus. Sie schaute ihre Schwiegertochter dankbar an und legte ihre Hand auf deren Arm, als wolle sie Dank sagen. Dann stand sie auf, das Kind in den Armen, ging aus der Kammer in die Diele, zeigte den Männern stolz das Mädchen und erzählte, was ihr Mette gesagt hatte. Tietke nahm seinen Sohn Claus anerkennend in den Arm und freute sich mit ihm. Das Leben auf dem Hof würde weitergehen, auch wenn er einmal nicht mehr sein würde.

Claus nahm seiner Mutter das Kind ab und ging zu seiner Frau in die Kammer. Man sah ihm die Freude an, als er sich auf die Bettkante setzte. Mette lächelte und sagte: „Beim nächsten Mal wird es der Hoferbe sein und der soll Tietke, wie Dein Vater, gerufen werden. Sag es ihm bitte.“ Claus erwiderte: „Lass es gut sein. Die Hauptsache ist, Ihr beiden seid wohlauf. Wir haben einen harten Winter vor uns, aber wir werden es schon schaffen.“ Dann legte er Mette das Kind in den Arm und ging aus der Kammer zurück zu den anderen.

Anne hatte inzwischen das Abendessen für die Anwesen-den zubereitet. Es war nicht viel, aber das Wenige wurde gerne gegeben. Sie sprachen ein Dankgebet, dann wurde gespeist.

VII

Am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1646 wurde das Kind in der Scheeßeler Kirche nach dem Gottesdienst durch Pastor Dornemann auf den Namen Margarethe getauft; nach der Großmutter, so wie es Mette wollte. Weil die Mütter nach der Niederkunft als unrein galten und deswegen sechs Wochen nicht in die Kirchen durften, war Mette bei der Taufe ihrer Tochter nicht dabei. Sie blieb daheim und die Dienstmagd Anne bereite ein beschei-denes Mahl zur Tauffeier im Hause vor.

Das Taufkleidchen und die Taufmütze hatte Mette sich bei der Bademutter gegen eine geringe Gebühr ausgeliehen. “Gretge“, so wollte sie ihre Tochter Margarethe rufen, war in ein besticktes Tuch, welches ortsüblich „Lure“ bezeich-net wurde, eingewickelt. Die Lure konnten sich die Taufeltern beim Pastor ausleihen, mussten aber auch dafür eine Gebühr bezahlen. An diesem Tag gab es gleich zwei Taufen, denn am Heiligen Abend waren zwei Kinder im Kirchspiel lebend geboren worden.


Claus hatte nicht viele Freunde im Dorf. Er war zwar ein Vollhöfner, der aber arm war, wie viele andere während dieser schweren Zeiten auch. Sein Freundeskreis wurde nach der Hochzeit noch kleiner. Das Verhältnis zu den Nachbarn, bis auf einen, hatte sich merklich abgekühlt. Das begann, als sich herumsprach, dass er eine auswärtige Frau, die auch noch aus Höperhöfen im Nachbarkirchspiel stammte, heiraten würde.

Es mangelte ihm deswegen an Paten. Er konnte die im Kirchspiel Scheeßel üblichen fünf Paten, bei einem Mädchen drei Frauen und zwei Männer, nicht zusammen bekommen. Er brachte nur drei Paten auf, und das waren ausschließlich Verwandte. Seine eigene Mutter, seine Schwester Anna Heitmann aus Bartelsdorf und sein älterer Bruder Peter. Diese brachten den üblichen Tauftaler mit, auch wenn sie ebenso arm wie er waren. Die Einquartie-rungen und das Marodieren von Tillys Truppen zu seines Vaters Zeiten hatte immer noch verheerende wirtschaft-liche Auswirkungen auf die Menschen der Region. Das Wüten des nunmehr seit 28 Jahren tobenden Krieges hatten auch hier im Dorf schwere Folgen hinterlassen. Dieser Krieg sollte erst zwei Jahre nach Gretges Geburt offiziell beendet erklärt werden, wovon hier aber noch keiner etwas ahnte.

Die Paten bereiteten sich im Pastorenhaus auf die Taufe vor. Wie in früheren Zeiten hielt die älteste Patin das Kind über das mittelalterliche Taufbecken.

In diesem Fall stand die eigene Großmutter Margarethe als Patin stolz in der Stube des Pfarrhauses. Der Pfarrer hatte keine Diele mit einem offenen Feuer, wie es die anderen Häuser üblicherweise hatten. Es verfügte über mehrere kleinere ungeheizte Kammern, eine Küche mit einem Vorratsraum und eine große Stube, die einen steinernen Kamin mit einem gemauerten Schornstein hatte, mit dem der Raum beheizt wurde.

Für die Bauern war dieser Luxus nicht möglich, denn Ziegel waren viel zu teuer und auch Feuerholz konnten sie sich nicht leisten. Bäume durften sie nicht ohne Genehmigung schlagen und das Pollholz, welches auf dem Waldboden lag, reichte nicht für alle Haushalte. Meist nahmen sie getrockneten Torf oder Heide zum Heizen und Kochen, mussten damit aber haushalten. So genossen sie den warmen Raum sehr, in dem auch Taufen an Tagen durchgeführt wurden, wenn es nicht Sonntag war oder das Geld zur Taufe in der Kirche vor dem Altar Gottes nicht reichte.

Als der Gottesdienst vorbei war, holte der Küster Johann Grelle die beiden im Pfarrhaus wartenden Familien zur Kirche ab.

Das Haus Gottes war heute besonders gut besucht, denn es war Weihnachten, und heute sollten zwei Menschen in das Buch des Lebens eingeschrieben werden, wozu es der christlichen Taufe bedurfte.

Die Scheeßeler Kirche war ein über 500 Jahre altes Gotteshaus, dem dieses Alter durchaus anzusehen war. Der Kirchturm aus gemauerten Felssteinen diente zugleich als Wehr- und Glockenturm. Die letzte Glocke war im Jahre 1636 gegossen geworden. Deren Vorgängerglocke war zu Tillys Zeiten von den katholischen Truppen mitgenommen und zum Gießen von Kanonen verwendet worden. Die Holzschindeln auf dem Dach hatte schon vor etlichen Jahren der neue Scheeßeler Pastor durch gebrannte Tonziegel ersetzen lassen. Im Inneren der Kirche waren die Wasserschäden sowie die notdürftig reparierten Schäden aus der Zeit der Kriegsgeschehen noch deutlich zu sehen. Die Kirche wurde damals befestigt und verteidigt. Sie diente auch als Soldatenunterkunft, während das Pfarrhaus von Offizieren als Hauptquartier genutzt wurde. Die kleinen Fenster waren mit den unterschiedlichsten farbigen Bleiglasfenstern ausgestaltet, welche die Wappen der Pastoren und Amtsvögte abbildeten. Die meisten hatten die rauen Zeiten unbeschadet überstanden. Das Altarbild aus dem 12. Jahrhundert, gemalt in Öl auf Holz war schön anzusehen. Es zeigte in der Mitte den gekreuzigten Sohn Gottes sowie rechts und links zwei gekreuzigte Männer. Am Fuße des Kreuzes standen die Mutter Maria und Maria Magdalena.

Auf dem Altar standen zwei eiserne Kerzenleuchter mit großen gelbweißen Weihnachtskerzen, deren Flammen ein warmes Licht über dem gesamten Gebetstisch verbreiteten. Die Leuchter hatte der alte Scheeßeler Schmied Johann Alvers gefertigt. Eine Orgel gab es in dieser Kirche nicht.

Die Kirchengemeinde war nach der Weihnachtspredigt in der Kirche geblieben. Sie saß auf den hölzernen Bänken mit den Brettern zum Knien, die, wie auch der Beichtstuhl, gleich rechts neben dem Haupteingang, noch aus katholischer Zeit stammten. Alle warteten neugierig auf die neuen Erdenbürger.

Zur Weihnachtszeit waren überall in der Kirche Kerzen aufgestellt. Sie leuchteten den Raum in einer anmutenden Art aus, die nicht nur Kinderaugen zum Staunen brachte. Nun warteten alle gespannt auf die Täuflinge. Der Küster geleitete die Paten, die die Kinder im Arm trugen, in die Kirche und führte sie zum am Altar stehenden Taufbecken.

Das hölzerne Taufbecken war reichlich mit Einlagen und Ornamenten aus Metall verziert, sowie mit einer versilberten Eisenschale versehen, welche das gesegnete Taufwasser enthielt. Den Beckenrand zierte die Inschrift: „Lasset die Kinderlein zu mir kommen denn solcher ist das Reich Gottes.“

VIII


Die alte Margarethe war sehr stolz und aufgeregt, würde doch ihre Enkelin im nächsten Moment auf ihren Namen getauft werden. Die anderen Paten standen um das Becken versammelt. Gretge sah in dem Taufkleidchen, auch wenn es nur geliehen war, für die Anwesenden himmlisch aus. Zuvor war der Knabe getauft worden, welcher am gleichen Tag wie Gretge geboren wurde. Nun war Gretge an der Reihe. Sie lächelte die umstehenden Menschen an, als sie die Taufe empfing. Beide Kinder waren während der Zeremonie ruhig geblieben und alle lobten, wie brav sie doch schon seien.

Anschließend gingen die Menschen ins Freie, aber dort war es noch kälter als in dem ungeheizten Gemäuer. Da sich die Leute aber bewegten, kam es ihnen nicht so vor. Sie gingen traditionell noch zu den Gräbern ihrer Lieben, die auf dem Kirchhof bestattet waren.

Die alte Margarethe ging mit der kleinen Margarethe, die sie warm eingepackt hatte, zu den Gräbern ihrer Eltern und Großeltern und zeigte ihnen symbolisch das neue Familienmitglied. „Kieck Modder un Vadder, de Deern heet ok Gretge as du Modder, und dien Modder.“ Dann fasste Tietke sie liebevoll am Arm. Die Tränen in den Augen seiner Frau hatte er wohl bemerkt. Er führte sie zum Wagen, in dem schon die anderen saßen. Sie fuhren langsam, denn sie hatten sich eine Menge zu erzählen und brauchten fast eine volle Stunde, bis sie zuhause ange-kommen waren.

Auf dem Kirchplatz zerstreute sich die Gemeinde. Die meisten fuhren oder gingen nach Hause, wenige kehrten noch in den Amtskrug ein. Der Amtskrug und die wenigen Kirchenkötnerstellen, wie die des Schmiedes Christoph Wohlberg sowie des Krämers Johann Bellmann waren rund um die Kirche platziert.

Die kleine Tauffeier für Gretge fand im Haus in Westeresch statt. Anne und der Jungknecht Peter Indorf hatten das Feuer geschürt, um das Flett recht warm werden zu lassen. Die Tiere waren versorgt, das Mahl vorbereitet. Dabei hatte eine Nachbarin, die alte Sophia, geholfen. Sie war auf dem rechten Bein ein wenig lahm, nachdem sie vor etlichen Jahren durch die Bodenluke gefallen war. Glücklicherweise hatte sie sich dabei nicht das Genick gebrochen wie viele andere vor ihr.

Es war ein bescheidenes, aber gemütliches Fest, an dem außer der Familie nur noch der Nachbar Henrich Ratchen mit seiner Frau Sophia und Hibbel, die Bademutter, teilnahmen. Die alte Hibbel aus Westerholz konnte aber nicht lange bleiben, denn während der Feier wurde sie zu einer weiteren Geburt gerufen. Sie schnackte noch kurz mit der alten Margarethe, nahm das Taufkleidchen wieder an sich und ging nach draußen, wo schon der alte Großknecht Lewerenz mit dem Wagen auf sie wartete.

Lewerenz war als Tietke Meinkens jüngster Bruder Claus` Onkel. Er war ledig als Knecht beim Bruder auf dem Hof geblieben, hatte so sein Auskommen und war nun der Großknecht seines Neffen.

Der Nachbar war mit seiner Familie der Einzige, mit dem Gretges Familie im Dorf noch Kontakt hatte. Der alte Bauer war ein guter Freund ihres Großvaters, aber davon wusste das eben getaufte Mädchen noch nichts. Sie spürte aber dessen herzliche Ausstrahlung und sein freundliches Wesen. So wuchs Gretge geborgen im Kreise der Familie auf. Sie war nun schon zwei Jahre alt. Viele neugeborene Kinder hatten den letzten sehr langen und harten Winter nicht überlebt, auch nicht der Junge, der am gleichen Tag wie Gretge geboren und getauft wurde. Ihre Eltern und Großeltern waren froh und zufrieden, was das Kind betraf. Sie gedieh prächtig, lachte viel und strahlte, wo immer man sie sah.

Es war wieder einmal Weihnachten und der lange grausame Krieg war nun vorbei, so erzählte man es sich überall. Die Menschen in den ausgebluteten und durch die kaiserlichen Truppen geschundenen Dörfern schöpften Hoffnung. Dennoch trauten sie dem Frieden nicht. Auch die schwedischen Truppen hatten ihre Spuren durch Ein-quartierungen und erhöhte Abgaben, durch Plünder-ungen, Diebstahl und vielerlei anderen Ärger hinterlassen. Die jungen Soldaten stiegen den Mädchen in den Dörfern nach und machten ihnen schöne Augen, was die Jungs und Männer aus den Dörfern gar nicht lustig fanden. Es gab viel Streit und Zank, auch untereinander.

Im Hause Meinken gingen alle ihrer Arbeit nach, waren fleißig und dennoch verhallten die Gerüchte über die Zauberkunst von Mettes Mutter und Großmutter nicht.

Das lastete schwer auf Mettes Mann Claus, der ja hier im Dorf geboren und aufgewachsen war. Sein Vater sagte ihm immer wieder, dass es den Menschen schlecht ging und sie stets einen Sündenbock für die eigene Misere suchten. Die Worte des Vaters brachten Claus dennoch keinen Trost. Beim morgendlichen Dreschen in der Tenne spielte sich seit Urgedenken das gleiche Zeremoniell ab, und Claus konnte hier richtig Dampf ablassen.

Er stand mit seinem Groß- und seinem Jungknecht mit dem Dreschflegel um den Haufen Getreide, welches sie selbst droschen und die Frauen später mit der Hand zu Mehl mahlten, weil es ihnen beim Müller zu teuer war.

Als der älteste der Drescher begann er die Arbeit mit folgendem Morgenspruch, den er vom Vater, der ihn von seinem Vater und das über die Generationen zurück erlernt und übernommen hatte:


„Duk unner, duk unner

de Welt is di gram

du kannst nich mehr leben

du musst dar man dran!“

Dabei wurde ein bitterernstes Gesicht gemacht und jeder schaute sich um, ob auch alle Türen im Hause geschlossen waren und kein Mithörer in der Nähe war.

Sie wussten nicht mehr, warum sie es so machten, aber es war genauso überliefert und was alle wussten, der Pastor durfte es auf keinen Fall wissen.

Alles machte einen unheimlichen Eindruck, zumal wohl kaum jemand den tieferen Sinn dieser Übung verstand.

Danach sagten sie den nächsten Vers auf und nach jedem wiederholte sich das ungewöhnliche Verhalten, welches auch auf den Nachbarhöfen in gleicher Weise geschah.

„Duk unner, duk unner

de Noord is noch free

dor kämpfen wi witer

to Lann un to See”

„Denn wor di eisk Korl

du Sachsenslachter

denn wer wi di kiddeln

von vörn un von achter.“

„Von Noorden un Süden

von West und Noorosten

un skullt us denn sölben

dat Leben ok kosten.“

„Allvoader ward helpen

dat use Sachsen ward free

dat free blieft de Norden

un free blieft de See.“

„Dat der Norden free blieft

un us Volk an Leben

wo kunn wie för Gröters

user Leben hingeben.“

„Un blieft wi in See

denn is dat ok good

denn finnen wi jo doch noch

een artigen Dod.“

Den Dreschflegel trieb Claus bei jeder Zeile mit einer Wucht in das Getreide, die einem Mann den Schädel spalten konnte.

Langsam ging der Winter vorbei und es wurde wieder Frühling. Die schwere und dunkle Zeit des Winters schwand mit jedem Tag ein wenig mehr und damit die drückende Last der kalten Jahreszeit. Endlich konnte er wieder auf die Felder, einfach nur raus aus der Enge des Dorfes und des Hauses.

IX

An einem sonnigen Frühlingstag, es war schon recht warm und die ersten Blumen waren schon längst im Garten bunt anzusehen, da spielte Gretge mit einem niedlichen Kätzchen vor der kleinen Seitentür. Über der Tür stand am Querbalken mit Stecheisen eingearbeitet „arbeite und bete“ sowie die Jahreszahl Ao 1322.

Plötzlich rannte das Vieh schnurstracks in das Haus des gegenüberliegenden und von den Eltern ungeliebten Nachbarn. Gretge gefiel das gar nicht, denn sie wollte mit dem kleinen Miezekätzchen spielen. Sie stand auf und lief hinterher und verschwand im Hause des Nachbarn. Dass es ihr verboten war, hatte sie vergessen, denn ihr Spielzeug war weg.

Mette hat das Verschwinden ihrer kleinen Tochter, als sie Holz von draußen hereinholen wollte, nicht gleich bemerkt. Die Stille auf dem Hof wurde plötzlich durch Geschrei im Nachbarhaus unterbrochen. Mette horchte auf und schaute hinüber zum anderen Hof, denn sie kannte die Stimme.

Dann sah sie ihre kleine Gretge weinend aus dem Haus laufen. Sie rannte direkt in die Arme ihrer Mutter. Die Tür des Nachbarhauses schloss sich, aber niemand war zu sehen.

Sie nahm ihre Tochter mit ins Haus und bemerkte erst hier, dass das Kleidchen von Gretge zerrissen war und sie an Armen und Brust blaue Flecken hatte. Gretge weinte noch immer und Mette nahm sie auf den Arm und tröstete sie.

Sie holte ihr ein anderes Kleidchen und zog es dem Kind an. Die beiden waren alleine im Hause, und Mette war froh darüber. Die Schwiegereltern und ihr Mann waren mit dem Knecht zur Schwester von Claus gefahren, um dort einen Geburtstag zu feiern.

Da Mette erst vor wenigen Wochen einem kleinen Knaben das Leben geschenkt hatte, konnte sie noch nicht mit. So blieb sie mit den beiden Kindern alleine im Haus zurück. Sie drückte Gretge fest an sich und strich ihr mit der Hand tröstend über das Haar. Dabei fragte sie sich, was im Nachbarhaus wohl vorgefallen war. Sie überlegte, ob sie es ihrem Mann nach dessen Rückkehr erzählen sollte. Sie traute sich aber nicht. Sie hatte Angst, dass die alten Geschichten von ihrer Mutter und Großmutter wieder auf den Tisch kamen. Sie litt sehr darunter und beschloss zu schweigen. So in sich versunken, liefen ihr Tränen über die Wangen.

Gretge bläute sie ein, es niemanden zu sagen. Dann machte sie ihrer Tochter, wie sie es von der Mutter gelernt hatte, aus Kräutern Umschläge, damit die blauen Flecken schneller verschwänden und das Mädchen bald keine Schmerzen mehr haben würde. Sie nähte schnell das zerrissene Kleidchen wieder zusammen, damit es niemand bemerkte.

Zwischendrin schaute sie nach dem kleinen Sohn, der nach dem Schwiegervater Tietke getauft worden war. Er schlief fest in seinem kleinen Bettchen, in dem schon Gretge als Säugling gelegen hatte. Es war so alt, dass Mette dachte, schon ihr Claus könnte darin gelegen haben.

Von diesem Tag an war dass allen bekannte fröhliche und unbeschwerte Lächeln von Gretges Gesicht für Jahre ver-schwunden.

Am Abend kam die Familie zurück. Gretge und Tietke hatte sie schon schlafen gelegt. Sie spann den Faden und saß am Feuer, als Claus eintrat. Er fragte, ob es ihr gut ginge und sie erzählte ihm, dass sie ihr Tagwerk geschafft habe und die Kinder schon zur Nacht gebettet seien.

Nachdem alle wieder im Hause waren, aßen sie zu Abend und gingen alsbald selbst zur Nachtruhe. Mit Kerzen und Holz musste man sparsam sein. Außerdem mussten alle am nächsten Morgen wieder früh raus auf die Felder.

X

Mette konnte mit keinem Menschen im Dorf, auch nicht mit ihrem Mann Claus über ihre Sorgen reden. Deswegen besuchte sie ab und an ihre Schwester in Bülste oder ihren Bruder in Höperhöfen. Mit den beiden konnte sie sich aussprechen und ausweinen. Bei den Besuchen nahm sie Gretge stets mit, denn sie fürchtete, das Mädchen könnte doch noch über den Vorfall reden. Auf Gretges Brüderchen passte dann die alte Margarethe auf. Sie war zu den Kindern sehr lieb, und auch Mette hatte in ihr eine gute Schwiegermutter, auch wenn es am Anfang sehr schwer war, es ihr recht zu machen.

So ging Mette auch an diesem Morgen zu Fuß los. Sie würde bis Mittag bei der Schwester sein. Da das Gespann auf dem Hof benötigt wurde, wollte sie sich nicht fahren lassen. Sie fühlte sich dann auch frei, konnte die Vögel beobachten und Heilkräuter sammeln. Die Stellen – an denen sie wuchsen - kannte sie gut. Das hätte sie mit dem Wagen, den der Großknecht fuhr, nicht gekonnt.

So schlenderte sie auf den Wegen und Pfaden alleine um-her. Ein Weg führte sie durch das Hochmoor, wo kein Pferd und kein Wagen hätten fahren können, wo es aber die richtigen Kräuter gab. Dieser Weg war den Menschen in der Gegend wohl bekannt.

Viele hatten sich durch das Hochmoor einst vor den kaiserlichen Truppen versteckt und damit gerettet. Ihr Bruder Harm selbst hatte sich mit seiner Familie hier versteckt und war unbeschadet auf seinen Hof zurück-gekommen, den er geplündert vorfand, aber nicht abge-brannt.

Auf der halben Wegstrecke und nachdem sie das Hochmoor hinter sich gelassen hatte, kam sie an einem Stein vorbei, der die Grenze der beiden Ämter Ottersberg und Rotenburg markierte. Er stellte aber auch die Grenze zwischen zwei Bistümern dar, denn Rotenburg gehörte zum Bistum Verden, welches nach dem großen Krieg von den Schweden kassiert und zum Herzogtum umbenannt wurde, während Ottersberg zum Erzbistum Bremen gehörte, welches ebenfalls zum Herzogtum wurde. Das war alles große Politik, wovon Mette aber nichts wissen wollte.

Sie traf an diesem Morgen nur wenige Menschen. Gretge, die Mette mehr tragen musste, als ihr lieb war, begleitete sie. Sie zeigte ihrer Tochter die Natur, erklärte ihr dabei Bäume, Sträucher und Kräuter sowie deren Nutzen und Wirken. Gegen Mittag sah sie schon das Dorf ihrer Schwester Tipke, deren Hof gleich am Ortsrand lag.

Es war ein ganzer ungeteilter Hof, wie der ihres Mannes. Das Fachwerk war sehr alt, das Dach strohgedeckt und die Giebelzier anders als in Westeresch, indem die Pferdeköpfe nach außen und nicht nach innen schauten. Die Menschen erzählten sich, dass es eine Tradition aus alten Zeiten war, dass verschiedene Stämme durch bestimmte Zeichen an den Giebelzierden zu erkennen waren.

Zwar wusste niemand mehr, welcher Stamm die Pferdeköpfe nach außen und welche sie nach innen trug. Gewiss war man sich aber darin, dass sie friedlich neben-einander gelebt haben mussten, denn die Nachbardörfer hatten schon mal eine andere Zier.

Es gab auch Dörfer, die hatten gar keine Pferdeköpfe, nicht einmal Windfedern.

Der Hof war von alten Eichen, die teilweise mehr als 250 Jahre alt waren, umgeben. Der Hofplatz war mit einer Steinmauer umrahmt, wobei die Steine lose aufeinander einen halben Meter hoch gelegt waren.

Der Hof hatte ein großes Vierfachständerhaus, wie es im Land überall zu finden war. Es gab noch ein kleines Backhaus, in dem wöchentlich einmal Brot gebacken wurde, wie auch ein Schauer, in dem die Fuhrwerke untergestellt waren. Ihr Schwager hatte zwei gute Acker-pferde, zehn Milchkühe und einen Ochsen. Die Hühner liefen frei auf dem mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Hofplatz herum.

Eine Scheune und ein Häuslingshaus standen unweit vom Haupthaus entfernt. Beim letzten Mal hatte die Sau sieben Ferkel geworfen, und Mette hatte eines als Geschenk mit nach Hause gebracht.

Die Nachbarn waren neidisch, was Mette an deren Bemerkungen deutlich spüren konnte. Dennoch war es ihr egal, na ja, nicht so ganz, aber ein Hausschwein war schon ein kleiner Reichtum, auf den man gut aufpassen musste.

Zwischen den großen Eichen wuchsen Hestern und allerlei weitere kleine Bäumchen.

Nun waren sie fast am Hoftor angekommen, als sie ihre Schwester schon aus dem Haus kommen und winken sah.

Sie nahm Gretge auf den Arm und ging einen Schritt schneller. Vor ihr stehend, nahm die Schwester beide in den Arm und freute sich sehr über den unerwarteten Besuch. Sie bemerkte wohl, dass Mette etwas umtrieb, bat sie aber erst einmal ins Hausinnere. Sie war mit ihren vier Kindern Hans, Anne, Mette und Peter allein im Haus.

Ihr Ehemann Cord war heute zur Ableistung seiner Dienstpflichten unterwegs und würde erst am späten Abend heimkehren.

Die Schwiegereltern lebten im Häuslingshaus auf Altenteil, nahmen aber an den gemeinsamen Mahlzeiten im großen Haus am Tisch teil. Soweit es ging, halfen sie auf dem Hof oder in der Küche.

Auf dem Hof arbeitete der Knecht und hackte bei der Scheune Holz. Die beiden jungen Mägde kümmerten sich um die Kinder und das Vieh.

Mettes Schwester Tipke schlug einen kleinen Spaziergang vor, wie sie es immer taten, wenn sie sich trafen. Das Haus hatte viele Ohren und die Schwestern hatten schon immer ein sehr inniges Verhältnis zueinander gehabt. Sie gingen aus dem Haus und schlenderten über den Hof, wobei die Holzklotschen klapperten, als sei ein ganzes Fuhrwerk unterwegs. Sie hakten sich unter und verließen den Hof Richtung Bach, der einige hundert Meter entfernt am Rand einer Wiese floss.

Am Bachlauf standen etliche alte, sehr hohe Pappeln, die im Sommer viel Schatten gaben. An einer Kurve, die der Bachlauf nahm, lag ein großer Findling. Das war der Platz, den die beiden Frauen immer aufsuchten.

Sie setzten sich und Mette erzählte ihre Sorgen, was Gretge widerfahren war in allen Einzelheiten. Sie waren sich einig, dass Claus davon nie etwas erfahren dürfte, denn sie fürchteten, er würde im Hause des Nachbarn wüten oder sonst etwas Schlimmes anstellen.

Die Sorgen konnte Tipke ihrer Schwester nicht nehmen, aber es war beiden nach den stundenlangen Gesprächen stets wohler. Wer genau hinschaute, konnte erkennen, dass die beiden Zwillinge waren. Tipke war nur zweimal bei Mette im Dorf gewesen, einmal bei der Hochzeit und danach noch einmal kurze Zeit später. Die Menschen in dem Dorf waren ihr nicht geheuer. Dass man sie dort die doppelte Hexenbrut nannte, hatte sie über drei Ecken gesteckt bekommen.

Hier in ihrem Dorf, wo sie nun lebte, waren die Nachbarn anders und es grenzte sie keiner aus, kannte man doch die Geschichten und Gerüchte über die Mutter und Groß-mutter der beiden. Wer am Moor lebte, und wer sich keinen Arzt leisten konnte, war auf die Kräuterfrauen angewiesen, und die gab es zu Hauff. Sie waren allerdings sehr vorsichtig geworden, denn wer geglaubt hatte, nun, wo man nicht mehr katholisch war, würden die Strafen der Hölle die Menschen nicht mehr erreichen, wurde eines besseren belehrt.

Auch hier im Amt, wo Tipke nun lebte, wurden, seit die Großmutter um die Jahrhundertwende verstorben war, mehrere Frauen der Zauberei angeklagt und drei lebendig verbrannt.

Mette blieb über Nacht bei ihrer Schwester Tipke und ging erst am nächsten Morgen mit Gretge wieder nach Hause.

Es hatte ihr gut getan, mit der vertrauten Verwandten zu reden und intime Sorgen besprechen zu können. Sie beneidete sie ein wenig, gönnte es ihr aber von Herzen, in Cord einen guten, fleißigen Mann gefunden zu haben, der in einem Dorf lebte, wo die Welt noch in Ordnung war, jedenfalls sah es Mette so.

Gegen Mittag waren sie wieder in Westeresch ange-kommen und der kleine Tietke lachte seine Mutter mit hellen Augen strahlend an.

Claus sah diese Ausflüge mit gemischten Gefühlen, denn die Leute im Dorf redeten darüber, warum die Frau über Nacht fortblieb und was sie wohl machte. Die Vermutungen gingen so weit, dass man offen darüber sprach, die ging in den Wald zu den Waldhexen und lehrte ihre Tochter Gretge, die sie stets mitnahm, das Hexen.

Er konnte Mette weder davon abbringen, sich vom Knecht fahren und auch abholen zu lassen, noch verstehen, warum sie dann wieder unbedingt zu Fuß gehen wollte. Darüber hatten sie häufig gestritten.

Im Grunde genommen machte er sich große Sorgen um seine Frau und seine Tochter. Claus’ Mutter hingegen verstand Mette und unterstützte sie immer wieder, wes-wegen Claus stets einlenkte, denn gegen beide Frauen kam er nicht an. Eigentlich wollte er es auch gar nicht.

XI

Gretges Mutter wurde noch dreimal schwanger und gebar noch zwei lebende Töchter, aber auch noch einen toten Knaben.

Dass sich die Eltern im Laufe der Jahre immer weniger verstanden, bemerkten die Kinder kaum. Der Vater arbeitete den ganzen Tag, schob Probleme auf die schweren Zeiten, und auch die Großeltern sprachen nicht darüber. Die alte Margarethe fand auch kein Mittel, hier gütlich Einfluss zu nehmen.

Gretges Vaterbruder Peter lebte mit seiner Familie auf ihres Vaters Hof und hatte drei Kinder, Anna, Johann und Tietke. Sie spielten kaum mit ihrer Cousine Gretge. Meist heckten sie nur Dummheiten aus und neckten Gretges kleinen Bruder Tietke, der einst den Hof erben sollte. Er war ja der älteste und einzige Sohn von Claus. Dass alles anders kam, erlebte sein Großvater, der alte Tietke, nicht mehr.

So wurde Gretge älter und übernahm als älteste Tochter immer mehr Pflichten auf dem Hof. Sie musste der alten Großmutter, die immer kümmerlicher wurde, und der Mutter im Haushalt helfen, aber auch auf die kleineren Geschwister achtgeben. Mit den Nachbarkindern durfte sie nicht spielen. Das hatte ihr die Mutter verboten, und sie passte auf, dass Gretge sich an das Verbot hielt.

Gretge wuchs zu einem ansehnlichen Mädchen heran, welches lange, schön geflochtene dunkelblonde Zöpfe trug wie die meisten anderen Mädchen auch.

Am Ende waren sie mit einer blauen Schleife zusammen-gebunden. Ihre Großmutter trug einen Dutt, wie es viele ältere Frauen taten und darüber meist ein Kopftuch. Das hielt die Haare zusammen und die Ohren warm, schützte sie zugleich vor Zugluft.

Sie war sehr zurückhaltend, hatte keine Freundinnen und wurde von den Nachbarkindern häufig als „Hexenbrut“ gehänselt, wenn kein Erwachsener dabei war. Es wurde auch hinter vorgehaltener Hand über sie getuschelt und gekichert. Das schmerzte Gretge sehr. Sie sah die Mutter auch oft leise weinen, wenn der Vater und die Großeltern nicht im Hause waren. Dann ging sie zu ihr und sie nahm sie in die Arme, wie es sonst die Mutter bei ihr oder die Tante bei Gretges Mutter tat.

Gretges Familie stand vor und nach dem Kirchgang meist alleine und abseits vor der Kirche und fuhr häufig schnell wieder heim.

Mette hatte sich einst der Frau von Pastor Dornemann, wegen der Geschichte mit dem zerrissenen Kleidchen anvertraut. Sie wurde eher hinaus komplimentiert als angehört. Mette hatte auf Zuspruch und Hilfe gehofft, fand sie aber nicht. Die Pastorenfrau sprach von Missverständ-nissen und falschen Deutungen, denn das würde der beschuldigte Nachbar nie im Leben machen und strafte somit Mette Lügen.

Da von ihr kein Verständnis oder gar Hilfe zu erwarten war, sprach sie die Frau nicht mehr an. Selbst die Beichte unterließ sie, denn nun traute sie auch dem Pastor nicht mehr.

Gretge war nun in dem Alter, in die Kirchengemeinde aufgenommen zu werden und besuchte den Unterricht aller Konfirmanden. Die Unterrichtung nahmen der Pastor und der Küster, der zugleich der Schulmeister war, vor.

Auswendiglernen von Psalmen und Gebeten war hier an der Tagesordnung. Die Geschichte von Moses und Noah fand Gretge sehr interessant. In den Konfirmationsstunden wollte kaum jemand aus Gretges Dorf neben ihr sitzen. Sie würde sich später an einige von ihnen erinnern und diese der Hexerei beschuldigen.

Am Tag ihrer Konfirmation zog Gretge ein aus schwarzem Tuch gefertigtes Ehrenkleid an, wie es alle Mädchen im Kirchspiel Scheeßel trugen.

Ihre Großmutter Margarethe schenkte ihr zur Konfir-mation eine reich verzierte Brustspange, wie sie auch ihre Mutter eine hatte, die den unteren Kragen zusammenhielt, und über der Schulter ein mit feiner Stickerei verziertes weißes Tuch. Eines mit Spitzenvolant konnte sich die Familie nicht leisten. Sie sollte das Kleid weiterhin tragen, bis sie eine Braut sein würde. Dass es aber dazu nicht kommen sollte, konnte zu dieser Zeit kein Mensch ahnen.

Gretge. „mit Hexen verwandt, als Hexe verbrannt“

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