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4 Anwendung des Persönlichkeitsmodells auf Schule

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Eltern können ihren Kindern selbstverständlich behilflich sein, die Schule besser zu meistern, wenn sie zusätzliche Potenziale in ihrer Familiengeschichte entdecken und für das Kind verfügbar machen. Ein großer Teil schulpsychologischer Arbeit hat das zum Inhalt. Für Schule sowie für Lehrer und Lehrerinnen ergeben sich daraus jedoch keine neuen, zusätzlichen Entwicklungsperspektiven. Im Folgenden will ich mich deshalb auf Überlegungen und Aspekte beschränken, die sich auf erweiterte Handlungsmöglichkeiten für Lehrer und Lehrerinnen beziehen.

4.1 Aspekt: Lehrerinnen-Individualität und Umgang mit schwierigen Kindern

Kinder zu unterrichten und zu erziehen ist immer eine Herausforderung an das Selbstverständnis (an die versammelten Lebenserfahrungen, an das historisch überlieferte Programm) des Lehrers, der Lehrerin. Wenn es gelingt, die Persönlichkeit als wichtiges Arbeitsinstrument zu sehen, sind neue Zugänge möglich.

Beispiel: Eine Lehrerin hat Schwierigkeiten, Schülern, aber auch Eltern, orientierend, grenzsetzend gegenüberzutreten, sich »bemerkbar« zu machen. Sie lässt sich von ihren Vorhaben leicht ablenken. Die Kinder zu ermahnen, zeigt keinen dauerhaften Erfolg. Die Analyse der Familiengeschichte ergibt, dass es ein Tabu in der Familie der Mutter der jetzigen Lehrerin gab. Der früh verstorbene Großvater (als die Mutter der Lehrerin 10 Jahre alt war) ist immer ein "weißer Fleck" in der Identitätsbildung der jetzigen Lehrerin geblieben. Kam das Gespräch auf ihn, wurde ausweichend reagiert. Die Befragung ergibt, dass nach den Geburtsjahren der jüngeren Halbgeschwister zu urteilen, die Beziehung der Großeltern durch Trennung beendet wurde und nicht durch Kriegsereignisse, wie man versucht hatte, der Mutter der Lehrerin weiszumachen. Die Mutter der Lehrerin hatte gelernt, einen Teil ihrer Existenz zu verleugnen und geheim zu halten - auch gegenüber der Tochter. Und diese lernte, nicht nachzufragen, sondern zu lavieren; brav zu sein, andere nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Dieses Modell der Beziehungsgestaltung hat sie auch in ihrem Beruf verwendet und damit Schwierigkeiten bekommen.

Die Lehrerin hatte nun zunächst eine Annahme über den Grund ihrer Unsicherheiten und damit einen Ansatzpunkt, sie zu überwinden. Sie befragte ihre Mutter nach deren Vater. Das bedeutete an sich schon eine bis dahin nicht mögliche Auseinandersetzung mit kritischen Themen, ein tendenzielles Aufgeben der Bravheit und Fügsamkeit. Darüber hinaus förderte sie Inhalte der Lebensweise des Großvaters zutage, die den weißen Fleck ihrer Geschichte auffüllten. Zunehmend - auch in Verbindung mit anderen Forschungsergebnissen - konnte sie sich als aktiv handelnde Frau begreifen, Grenzen setzen etc.

4.2 Aspekt: Individualität und Kooperation Schule - Elternhaus

Aufgrund persönlicher Geschichte und auf Grundlage des Selbstverständnisses der Schule als Korrektiv zu "schlechten" Elternhäusern handeln Lehrer und Lehrerinnen, wie auch Schulleitungen häufig so, dass sie Familienidentität in Frage stellen. Eltern wehren sich dagegen, können schulische Anliegen nicht unterstützen, müssen sie gar abwehren. Sie spüren deutlicher als der Lehrer selbst, dass dieser das Kind vor seinen Eltern bewahren will oder etwas ganz Neues aus ihm machen will.

Beispiel: Patrick ist übergewichtig, aggressiv und unangepasst. Bei Zuwendung ist er ganz zugänglich. Die Lehrerin weiß, dass P.s Vater ein Stiefvater ist, der seinen eigenen jüngeren Sohn vorzieht. Von einem Hausbesuch weiß die Lehrerin ebenfalls, dass die Familie sich überwiegend von Pommes frites mit Mayonnaise zu ernähren scheint, dass die Wohnung unsauber ist. Der Junge tut der Lehrerin leid. Die Analyse ihrer Familiengeschichte, die unterschiedlichen Bedeutungen von Sauberkeit, Essen, Trinken, Fürsorge zeigen, dass die Familie des Schulkindes die Gegenbilder zu dem "Gutsein" der Lehrerinnenfamilie repräsentiert. Folge: Das "Schlechte" muss "bekämpft werden. Das Verstehen des eigenen Wertesystems, der spezifischen Moralität ermöglicht es ansatzweise, den Reflex, die in der eigenen Familie abgewerteten und zu bekämpfenden Lebensgewohnheiten auf die Familie des Schulkindes zu übertragen, zu bremsen.

Die Auseinandersetzung mit der (Lehrerinnen-) Familiengeschichte ermöglichte es der Lehrerin, die Verschiedenheit zu erfassen. Das wiederum hatte zur Folge, dass sie der Familie des Schulkindes mehr mit einer Haltung des Interesses gegenübertreten konnte, als mit der Haltung, korrigierend eingreifen zu sollen.

Lehrer und Lehrerinnen können dann in eine gute Zusammenarbeit mit Kindern und ihren Eltern kommen, wenn sie sich als Personen einbringen, die die das Besondere des Kindes und seiner Familie zu erfassen suchen, um es für die eigene Aufgabe evtl. nutzen zu können, um es mit schulischen Mitteln weiterzuentwickeln und nicht, um es auszulöschen.

4.3 Aspekt Individualität und Leitung

Eine besondere Beachtung für die Entwicklung der Schulen verdient die Leitungspersönlichkeit. So sehr von Schulentwicklung, Profil der Schule etc. die Rede ist, so wenig wird in der Praxis der Persönlichkeit des Leiters, der Leiterin Aufmerksamkeit geschenkt. Vielleicht ist das ein Hinweis darauf, wieweit wir tatsächlich noch von einer Individualisierung entfernt sind und wie sehr immer wieder aufs Neue die Lösung in verbesserter Funktionalität, Anpassung, Kommunikationstechnik gesucht wird. Dies alles hat sicherlich seinen Stellenwert - ohne Individualisierung wären die Reformen lediglich technokratisch, deren erneuernde Kraft bald erlahmt.

Eine Schule mit Profil benötigt eine Leiterin, einen Leiter mit Profil (und ebensolche Lehrer und Lehrerinnen). Da helfen keine Merkmalslisten der guten Schule. Um eine differenzierte, flexible Schule zu haben, muss die Leitung ebenso beschaffen sein. Sie muss Vielgestaltigkeit der Personen im Kollegium nicht nur dulden können; sie muss sie vielmehr auf der Grundlage eigener vielfältiger Identität zu einem neuen Ganzen integrieren können. Familiengeschichtlich bedeutet das, dass Erfahrungen mit Vielfältigkeit als Bereicherung (und nicht als Bedrohung) zur Verfügung stehen sollten.

Beispiel: In der Zusammenarbeit mit einem Leiter geht es darum, wie denn konkret der Anspruch zu erfüllen wäre, die Visionen des Schulleiters für die Gestaltung der Schule zu nutzen. Die familiengeschichtliche Erkundung dessen, was ihn als Person ausmacht, erbringt u. a., dass in der Familie sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Auswanderung, Flucht, Integration und Scheitern der Integration vorhanden sind. Aus hier nicht genauer zu beschreibenden Bedingungen wurden diese Erfahrungen von seinen Eltern gleichsam mit einem Tabu belegt - das Schweigen und Verdrängen diente ihnen offensichtlich dazu, ein Minimum an Lebenstüchtigkeit zu bewahren; sie hatten sich nach Vertreibung im Wesentlichen über Verlust definiert. Von dem Gedanken angetan, Schule persönlich zu gestalten, begann eine längere Forschungsarbeit des Leiters. Er befragte seine Eltern und er recherchierte die Lebensbedingungen in deren Heimat. Der Leiter überwand das Tabu, wurde zupackender. Aus dem nun freien Umgang mit der eigenen Geschichte und dem hautnah erlebten Drama von Auswanderung, Flucht, Integration erwuchs die Überlegung, dieses Thema zu einem Teil des Schulprofils zu machen. Die Familiengeschichte wurde zu einem Motor der Schulgestaltung.

Selbstbewusste Schulleiter und Schulleiterinnen, die möglichst wenig Negation in sich tragen, von ihrer Persönlichkeit her ein weites Spektrum unterschiedlicher Individualitäten integrieren können, sind eine gute Voraussetzung für die Entwicklung von Schulen mit Profil, von Schulen, die sich, gemäß den Besonderheiten des Kollegiums, der Schüler und Schülerinnen, des Stadtteils differenzieren können.

4.4 Aspekt Analyse des Umfelds

Ich habe bisher nicht erwähnt, dass für den Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten des Individuums die Charakteristik der Beziehungsgestaltung und die Art der Einbindung in sein institutionelles Umfeld untersucht werden müssen. Erst dann ist eine bestmögliche "Platzierung" seiner Individualität möglich, wie auch die Klärung, ober deren Nutzung überhaupt möglich ist. Dazu können Fragen dienen, wie: Welche bildungspoltischen und pädagogischen Leitlinien bestehen, welche unterschiedlichen Richtungen gibt es, welche Geschichte hat die Schule, wie prägten Leiter/innen sie, wie viele Lehrer und Lehrerinnen haben unter der "alten" Leitung gearbeitet?

Gibt es "Markenzeichen" der Schule? Welche Bedeutung hat sie für den Stadtteil und die Stadt? Welche informellen Gruppierungen und Strukturen gibt es? Die Beantwortung dieser (und anderer) Fragen ermöglicht eine Einschätzung, wie individuelles Entwicklungspotenzial eingesetzt werden kann und wie begrenzt die Möglichkeiten sind.

4.5 Individualität, Berufsausübung, Berufswahl und Ausbildung

Es ist deutlich geworden: Die Berufsausübung ist Ausdruck von Familiengeschichte, die sich in der Person konkretisiert und sich in der Berufsausübung "verwertet"; hier im Kontext gesellschaftlich organisierter Bildungs- und Wissensvermittlung.

Es können, wie gesehen, Inkompatibilitäten auftreten, die durch größere Verfügbarkeit über Potenziale überwunden werden können. Die Art der "Auftragserledigung" (Unterrichtserteilung, Konfliktregelung, Leitung etc.) entspricht dem persönlichen Muster. Dabei werden nicht nur die offiziellen Ziele verfolgt, sondern auch die inoffziellen, persönlichen. Diese "zirkulieren" in der Institution, entfalten ihre Wirkung oft unverhofft, unkalkulierbar und störend, weil die auf technische Rationalität angelegten Strukturen der Bildungsorganisation keine Möglichkeit bieten, das Persönliche einzufangen, es kommunizierbar und nutzbar zu machen. Das nicht integrierbare Individuelle sucht sich seine Formen: Isolation, Klagen, Schuldzuweisungen, innere Emigration. Das, was Potenzial sein könnte, muss ausgegrenzt und umdefiniert werden. Von Individualität abzusehen, ist oft die (in verschiedenerlei Hinsicht) teure, unvermeidliche, jedoch von der Institution gedeckte Lösung.

Das wird oft für Berufsanfänger und diejenigen zu einer Last, die bei ihrer Berufsauswahl an Schule als kreativen Ort gedacht haben; als Ort, an dem Wissensvermittlung und Persönlichkeitsentwicklung eine Einheit bilden und im Mittelpunkt stehen. Eine rechtzeitige Analyse des persönlichen Potenzials in Verbindung mit einer Analyse der Bedingungen von Schule ist einer realistischen Ausbildungs- und Berufsplanung dienlich und beugt Missverständnissen vor.

Eine Unkenntnis der "heimlichen" Motive von Lehrern und Lehrerinnen kann im pädagogischen Alltag zu Schwierigkeiten führen, wie auch zu Schwierigkeiten, sich an der Entwicklung von Schule zu beteiligen - sofern dieses zu einem wesentlichen Merkmal von Schule werden sollte. Eine sog. "karitative" Haltung, wenn sie denn auf einer noch unverstandenen familiengeschichtlichen Konstellation beruht, kann destruktiv werden, weil sie "blind" zur Anwendung drängt. Abhängigkeit, Unbeholfenheit von Kindern und Eltern wären dann Mittel zum Zweck - des Lehrers, sein Muster zu realisieren und zu verwerten. Dabei träte das gesellschaftliche Interesse, wie auch das Interesse der Schüler und Schülerinnen, Handlungsspielräume zu gewinnen, in den Hintergrund.

Oder: Eine distanzierte Haltung des Lehrers, der Lehrerin, eine Beschränkung auf Wissensvermittlung, kann dann zum Problem werden, wenn auf Lehrer und Lehrerinnen die Aufgabe zukommt, sich mehr auf die subjektiven Lerninteressen und Lebenswelten der Schüler und Schülerinnen einzustellen. Selbstverständlich sollte auch Schulleitung unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, wie sich die persönlichen Muster blockierend auf Schule auswirken beziehungsweise, welche Potenziale verfügbar gemacht werden können [hier ging Text verloren, den ich nicht wiederherstellen konnte]; als Ort, an dem Wissensvermittlung und Persönlichkeitsentwicklung eine Einheit bilden und im Mittelpunkt stehen. Eine rechtzeitige Analyse des persönlichen Potenzials in Verbindung mit einer Analyse der Bedingungen von Schule ist einer realistischen Ausbildungs- und Berufsplanung dienlich und beugt Missverständnissen vor.

Eine Unkenntnis der "heimlichen" Motive von Lehrern und Lehrerinnen kann im pädagogischen Alltag zu Schwierigkeiten führen, wie auch zu Schwierigkeiten, sich [Textverlust] anAuseinandersetzung mit dem Charakter von Schule früh gesucht werden.

Das Referendariat ist leider häufig eine Epoche, die nicht der Persönlichkeitsentwicklung im Sinne von Individualisierung und Identitätsbildung dient. Einerseits werden die zukünftigen Lehrer und Lehrerinnen in dieser Ausbildung durch Abhängigkeit und Prüfungsangst geformt. Andererseits aber dürfte sie einem erheblichen Teil der Lehrer und Lehrerinnen entsprechen: als Fortsetzung von etwas, was man kennt.

Das Referendariat ist kein Ort, wo diese Haltungen der Anpassung und Abhängigkeit aufgedeckt und Alternativen entwickelt werden. Gerade Letzteres wäre aber wichtig, um Schule "neu denken" und neu machen zu können. Eher kann man davon ausgehen, dass im Referendariat das Grundprinzip von Schule - Funktionalisierung, Abhängigkeit, Loyalität - klar und deutlich vor Augen geführt wird.

Es ist nicht davon auszugehen, dass nach dem Eintritt in das Lehrerdasein ein Interesse an Individualisierung und Entwicklung von Schule einträte. Eher kann man damit rechnen, dass Genugtuung eintritt: Immerhin hat man es geschafft; man ist in Sicherheit. Nun das Ausbildungssystem in Frage zu stellen, hieße auch, die eigene - auch fragwürdige - Leistung in Frage zu stellen. Und es würde u.U. erschreckend bewusst, dass man an seiner eigenen Unterwerfung verantwortlich mitgewirkt hat. Da mag die Duldung dieses Systems erträglicher sein.

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