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2 STUDIENZEIT UND JAHRE DER EMIGRATION I Wissenschaftliche Prägungen
ОглавлениеKurz nach dem Abitur in München-Gladbach macht Hans Jonas seine ersten wissenschaftlichen Erfahrungen im Sommer 1921. Er geht als Student an die Universität Freiburg, weil er den damals wichtigsten deutschen Philosophen, Edmund Husserl,101 hören möchte. Husserl hatte 1916 dort die Nachfolge des Neukantianers Heinrich Rickert angetreten und versuchte, die philosophische Phänomenologie als strenge Wissenschaft zu etablieren: „Phänomenologie bezeichnet eine an der Jahrhundertwende in der Philosophie zum Durchbruch gekommene neuartige deskriptive Methode und eine aus ihr hervorgegangene apriorische Wissenschaft, welche dazu bestimmt ist, das prinzipielle Organon für eine streng wissenschaftliche Philosophie zu liefern und in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller Wissenschaften zu ermöglichen.“102
Der mit 27 Jahren zum Christentum konvertierte Jude Husserl lockt viele Philosophie-Studenten nach Freiburg. Hans Jonas trifft dort ebenfalls das erste Mal auf Günther Anders. Für beide entwickelt sich daraus eine lebenslange, von vielen Missverständnissen und Krisen geschüttelte Freundschaft. Da das Studium der Judaistik in Freiburg jedoch nicht möglich ist, geht Jonas im Wintersemester 1921/22 nach Berlin, wo er seine Studien an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, einem liberalen Rabbinerseminar, sowie an der Friedrich-Wilhelms-Universität fortsetzt und bis zum Wintersemester 1922/23 bleibt. In Berlin trifft er erneut auf Günther Anders, mit dem er seine Freundschaft intensiviert.
Schon im ersten Berliner Semester entsteht eine ausführliche Mitschrift „über die Idealität der Zeit“,103 in der er sich kritisch mit Kants transzendentaler Ästhetik auseinandersetzt. Kants erkenntnistheoretischen Zugriff auf die menschliche Wahrnehmung greift Jonas mit dem Zweck an, darzulegen, „daß die Zeit, als eine Bestimmung des aktuellen Bewußtseins selber … einen ganz anderen und gesteigerten Anspruch auf objektive Fakticität erhebt als der Raum, und daß sie daher eine durchaus andere Behandlungsweise erfordert als dieser, daß also der schematische Parallelismus, den Kant in der Erörterung dieser beiden angewandt hat, unmöglich dem fundamentalen Unterschied, der zwischen ihnen besteht, gerecht wird.“104 Der 20-jährige Jonas interpretiert in diesen ersten Versuchen wissenschaftlichen Arbeitens die Zeit als die „tatsächliche … Form, in der sich mein Ich einzig aktualisiert, die faktische Vollzugsform meiner gesamten Innerlichkeit.“105 Ein wenig von sich selbst überrascht, stellt er am Ende fest, es sei gewiss ein „Unterfangen, sich mit Kant auseinanderzusetzen, und zumal für einen Anfänger in der Philosophie.“ Doch wolle er die Widerstände, die sich hinsichtlich Kants Gedankengängen bei ihm auftun, „zu klarer Formulierung“ erheben. Denn erst die Äußerung von Bedenken ermögliche eine fruchtbare Diskussion. Insofern sei seine kurze Abhandlung per se gerechtfertigt, „selbst wenn jene Auffassung eine irrtümliche sein sollte.“106
Jonas besucht in Berlin auch die Seminare des Pädagogen Eduard Spranger, hört den Rabbiner und Religionsphilosophen Julius Guttmann, den evangelischen Theologen Ernst Troeltsch, den Historiker Eduard Meyer, den Alttestamentler Ernst Sellin, den Dozenten für Bibelwissenschaft und Semitische Philologie Harry Torczyner, den Rabbiner Leo Baeck, den Talmudisten Eduard Baneth und den Althistoriker Eugen Täubler. Erstaunt stellt er in seinen Erinnerungen fest: „Berlin als Weltstadt war damals kolossal, wenn auch durch Unruhen, Konflikt und Not und die widerstreitendsten Bewegungen geschüttelt. Es war dort wirklich etwas los.“107
In der Tat ist Berlin in den 1920er Jahren kulturelles Zentrum in Deutschland und politisches Experimentierfeld, eine hektische, laute und verkehrsreiche Metropole, eine der größten Städte Europas mit Vergnügungsvierteln, Sechstagerennen und Fußballspielen. Berlin zeigt sich damals als eine Stadt der Widersprüche: Es gibt die Armenviertel und die Haute Volée. Rechte und Linke, Intellektuelle und einfaches Volk, kommen hier zusammen.
Abb. 3: Hans Jonas als Student, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
Abb. 4: Hans Jonas als Student, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
In Berlin kommt es im Jahre 1923 auch zur ersten Begegnung mit Gershom Scholem während einer Versammlung von jüdischen Studentenverbindungen. Die Versammlung läuft jedoch ohne direkten persönlichen Kontakt der beiden ab.108 Jonas beobachtet Scholem, ein vehementer Kritiker des Blau-Weiß,109 und hört seiner Rede zu ohne ihn anzusprechen. Im selben Jahr lässt er sein Studium ruhen und geht für die Monate März bis Oktober nach Wolfenbüttel. Über die Hachschara-Bewegung, die die Vorbereitung der Alija (Rückkehr) nach Israel mitorganisiert, bekommt er eine Lehrstelle in der Großgärtnerei von Richard Grabenhorst.110 Dort soll er für landwirtschaftliche Arbeiten in Palästina gemäß der Parole von HaPoel HaZair, jüdische Bauern für Palästina auszubilden, geschult werden. Jonas resümiert diese Zeit mit den Worten: „Mir wurde in Wolfenbüttel klar, daß es, was immer aus meinen Palästina-Absichten würde, doch eine gewisse Verschwendung wäre, wenn ich in die Landwirtschaft ginge, und daß ich doch mit meinem Kopf etwas mehr leisten könnte als mit den Gliedern.“111
Deshalb widmet er sich im Wintersemester 1923/24 und im Sommersemester 1924 wieder intensiv seinem Philosophie- und Theologiestudium in Freiburg. Er vertieft die Freundschaft mit Günther Anders und diskutiert mit seinem Lehrer Julius Ebbinghaus, der später, kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, Rektor der Universität Marburg werden sollte. In dessen Kant-Seminar112 streiten beide über die Möglichkeit analytischer Urteile geometrischer Begriffe. Da Jonas keineswegs die Ansicht seines Lehrers vertritt, dass solche Urteile möglich seien, macht er sich ausgiebig eigene Gedanken zum Thema. In einem rund 20 Seiten umfassenden Papier, einer Mitschrift von November 1923, die ihren Ausgang in Kants theoretischer Philosophie nimmt, wirft er dem 1921 bei Husserl mit einer Arbeit über die Grundlagen der Hegelschen Philosophie habilitierten Ebbinghaus vor, die Unterschiede zwischen analytischen und synthetischen Urteilen zu verwischen. Die Mitschrift ist um Wissenschaftlichkeit bemüht, doch noch von sprachlichem Schmuckwerk begleitet. Vergessen wir jedoch nicht: Jonas ist zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt, verfügt aber bereits über ein beachtliches Reflexionsvermögen und ein stark ausgeprägtes Abstraktionsdenken. Darüber hinaus vertraut er nicht blind Autoritäten, sondern versucht stets, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Dass es sich bei Ebbinghaus um einen Kant-Experten mit exzellenten Kenntnissen der Mathematik handelt, scheint Jonas nur umso mehr zu bestärken, kritisch nachzufassen. Es zeugt zweifellos von enormem Selbstbewusstsein, ja von einer gewissen Chuzpe, wenn er seitenlang philosophisch-mathematische Beweise anführt, um sich am Ende gegenüber dem jungen Privatdozenten Ebbinghaus zu rechtfertigen. Dies scheint ihm insbesondere deshalb vonnöten, weil Ebbinghaus seines Erachtens die vorgebrachten Argumente in der sich an die Debatte anschließenden Zusammenfassung abermals verzerrt dargestellt habe.113 Nachdem er in einem an die Auseinandersetzung anschließenden Teil „von den Verhältnissen analytischer Urteile überhaupt“ handelt, fügt er deshalb in einem dritten Teil eine „Kritik des Diktats von Herrn Dr. Ebbinghaus“ an. Jonas sieht sich zu einer Richtigstellung der Seminardiskussion genötigt, weil Ebbinghaus den Verlauf der Debatte nicht korrekt wiedergegeben habe. Der Student Jonas schließt seine Ausführungen mit den Worten, er habe genug Gründe für die Unhaltbarkeit der Thesen von Ebbinghaus geliefert. Somit sei seine Aufgabe nun erledigt. Die Unstimmigkeiten der beiden Denker im Wintersemester 1923 hat jedoch keine langfristigen Folgen, im Gegenteil: Zeitlebens bleiben beide freundschaftlich verbunden.
Im Wintersemester 1924/25 folgt Jonas sodann seinem Lehrer Martin Heidegger nach Marburg. In Heidegger sieht er einen begnadeten Pädagogen und großen Denker, der eine völlig neue Philosophie formuliert hat. Andererseits neige Heidegger, so Jonas später, zu orakelhaften Äußerungen: „Heidegger war ein Hinterwäldler. Er fühlte sich eigentlich nur wohl in seiner Hütte im Schwarzwald, unter den Bäumen, unter den Bauern dort, in den Bergen.“114
Zunächst aber nimmt Heidegger die ordentliche Professur (auf einem außerordentlichen Lehrstuhl) in Marburg wahr und freundet sich rasch mit dem evangelischen Theologen Rudolf Bultmann an, der auch für Hans Jonas eine überaus wichtige Rolle spielen wird. Denn in Bultmanns Seminaren lernt Jonas Geschichte und Grundgedanken der christlichen Theologie kennen.115 Er und Hannah Arendt sind die einzigen Juden in Bultmanns Seminar. Diese Konstellation schweißt die beiden eng zusammen. Gemeinsam unternehmen sie viel in der hessischen Kleinstadt mit ihren insgesamt rund 500 Juden. Sie lernen ebenfalls den bereits promovierten Karl Löwith,116 Hans-Georg Gadamer, Leo Strauss und Walter Bröcker kennen. Mit Bröcker spielt Jonas regelmäßig Schach, ehe sie das Königsspiel zugunsten ihrer philosophisch-theologischen Studien aufgeben.117
Jonas lässt sich jedoch nicht davon abhalten, Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, der 1924 erschien, geradezu zu verschlingen. Auch Jahre später noch wird er von dieser Lektüre hellauf begeistert sein. So, als am 15. August 1940 im Hause des soeben in die Vereinigten Staaten emigrierten jüdischen Verlegers Salman Schocken eine Geburtstagfeier für Gershom Scholem (*5.12.) abgehalten wird. Jonas liest dort aus einem ungedruckten Fragment zum Zauberberg, in dem es u.a. heißt: „In der Tat, eine fremdartigere Erscheinung war selten hier oben gesehen worden. Auf langen Beinen daherschreitend, die bei jedem Schritt eine leichte Auswärtsbewegung beschrieben, sodass sie der ganzen Gestalt eine Art von Schlingern mitteilten; mit langen Armen und riesigen Händen gestikulierend, wobei die eine noch ihr besonderes Spiel mit einem Gegenstand trieb, der sich bei näherem Zusehen als ein in rastlosem Zwirbeln abwechselnd zu einem Röhrchen gerollter und wieder entrollter Papierstreifen erwies; den Oberkörper leicht vorgebogen und den Kopf aus dem Nacken nochmals vorgeschoben…“118 Das bezog sich natürlich auf Scholem selbst und muss für die Anwesenden ein großer Spaß gewesen sein. Gemeinsam mit seinem Freund Hans Jacob Polotsky hatte Jonas schon im August 1937 anlässlich „der zwanzigsten Wiederkehr des Tages, da er aus heeresamtlich angeordneter psychiatrischer Beobachtung als »unheilbar geisteskrank« und daher dienstuntauglich entlassen worden war“ ein Spottgedicht auf Scholem verfasst. Damals, im Jahr 1917 wurde Scholem zum Militärdienst eingezogen, spielte aber mit Erfolg einen Geisteskranken und wurde im August desselben Jahres wieder entlassen und im Januar 1918 dauerhaft freigestellt. Nun, zwanzig Jahre danach, witzeln Jonas und Polotsky in ihrem Sonett mit dem Titel „25. August 1917 – 1937“119:
Als Scholem zu den Irren ging,
Manch Freundesherz im Stillen bangte,
Ob’s zu dem irren Spiel auch langte,
Das er zu spiel’n sich unterfing.
Nicht bangte Scholem, der Beherzte.
Sein ward der Sieg nach schweren Schlachten.
Die zu entlarven ihn gedachten,
Es irrten sich die Irrenaerzte.
Was sie gelernt, das liess sie hier im Stiche.
Er kannte ihre, sie nicht seine Schliche
Im Fechterspiel der Scheinbarkeiten
Und focht’s, bis dass der Preis zuteil war
Dem Klaren: Aus dem Wahn der Zeiten
Entlassen ward er als – unheilbar.
Die Begeisterung für Poesie und stilvolle Prosa ist immer wieder spürbar und bleibt Jonas sein Leben lang erhalten. Voller Bewunderung wird er noch in seinen Erinnerungen in Bezug auf Thomas Mann formulieren: „Eine Seite Thomas Mann enthält tiefere Einsichten als ganze Abhandlungen über die Konstitution der Gegenstandswelt in intentionalen Akten des Bewußtseins.“120 Mit dieser Einschätzung, die sich vor allem auf den „Zauberberg“ bezieht, hat er nicht ganz Unrecht. Denn Manns Roman behandelt sehr eindringlich philosophische und politische Themen. Im Zentrum stehen Krankheit und Tod in einem nahezu von der Außenwelt abgeschiedenen Ort. Angesiedelt ist die Geschichte zwischen den Jahren 1907 und 1914. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der die zunehmende Langeweile, Routine und innere Leere der Protagonisten durchbricht, endet der Roman. Das Schicksal der Hauptperson bleibt ungewiss.
Abb. 5: Rudolf Bultmann mit seiner Frau Helene, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
Ungewiss ist zunächst auch, wie sich in der Studienzeit die Beziehung zu Hannah Arendt weiterentwickeln würde. Es gibt zwischen ihnen wohl mehr als nur Sympathien, doch zu einer Liebesbeziehung kommt es nicht. Stattdessen beginnt Arendt, nach damaligem Recht noch minderjährig, Anfang 1925 ein Verhältnis mit dem gemeinsamen, seit 1917 mit Elfriede Petri verheiratetem, Lehrer Heidegger. Dieses Verhältnis gesteht sie Hans Jonas eines Tages und verhindert so, dass Jonas sich Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft mit Arendt macht. Ihre Beziehung zu Heidegger dauert allerdings nicht allzu lange.121 Nachdem sie zunächst nach Freiburg geht, folgt sie Hans Jonas bald nach Heidelberg. Heidegger wird 1928 der Nachfolger Husserls in Freiburg.
Die Arendt-Biografin Elisabeth Young-Bruehl erzählt eine wundervolle Geschichte aus der Heidelberger Studienzeit: Hans Jonas war darum bemüht, den knapp 20 Jahre älteren, einflussreichen Verfechter des Zionismus in Deutschland, Kurt Blumenfeld, zu einem Vortrag nach Heidelberg einzuladen. Young-Bruehl schildert die Situation wie folgt: „Jonas hatte Blumenfeld eine schriftliche Einladung geschickt und dann in Berlin angerufen, um die Veranstaltung mündlich vorzubereiten. Jonas hatte immer schon Probleme mit dem Telefonieren gehabt, und seine Nervosität nahm mit der Entfernung und der Hochachtung vor der Person am anderen Ende der Leitung zu; ganze Sätze entgingen ihm, und Blumenfeld mußte darauf bestehen, die endgültigen telefonischen Vereinbarungen mit einem anderen Gesprächspartner zu treffen. Jonas verdonnerte seine Freundin Hannah Arendt zu der Aufgabe, und sie ging in der Rolle einer Adjutantin mit zu dem Vortrag … Sie und Jonas luden Blumenfeld nach seiner Rede zum Abendessen ein, und als sie aßen, kräftig tranken und dann durch die Straßen Heidelbergs zu dem schönen Philosophenweg schlenderten, der sich über den Hügel gegenüber der Stadt zieht, verhielt sie sich sowohl kokett als auch töchterlich. Blumenfeld und Arendt sangen – Arm in Arm – Lieder, rezitierten Gedichte und lachten ungestüm – während Jonas hinterhertrottete.“122