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II Gnosis-Studien
ОглавлениеIn Heidelberg macht Jonas im Sommersemester 1927 ebenfalls Bekanntschaft mit dem vier Jahre jüngeren Dolf Sternberger, der nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der herausragenden Politikwissenschaftler der Bundesrepublik Deutschland werden sollte. Berühmt wurde Sternberger im gleichen Jahr wie Hans Jonas: 1979 prägte er anlässlich des 30. Jahrestags des Grundgesetzes den Begriff „Verfassungspatriotismus“.123 In einer politisch unruhigen Situation unmittelbar nach dem Deutschen Herbst fragt Sternberger, ob es den Verfassungsfeinden nicht etwas entgegenzuhalten gelte. Im Blick hat er die Identifikation des Bürgers mit den Grundwerten der Verfassung und den demokratisch legitimierten Institutionen der Republik. Ihm geht es dabei in erster Linie um eine aktive Staatsbürgerrolle, getragen von einem stärkeren Sich-Einbringen in das politische Geschehen. Es gelte, so Sternberger, ein Interesse für politische Fragen herauszubilden, das über die bloße Beteiligung an Wahlen hinausgeht. Eine Möglichkeit sind Bürgerinitiativen, die in den 1970er Jahren auch regen Zulauf verbuchen.124
Sternberger geht wie Jonas 1927 nach Heidelberg und promoviert 1931 bei Paul Tillich mit einer Arbeit über Heideggers 1927 erschienene Schrift „Sein und Zeit“. Hans Jonas legt bereits am Mittwoch, den 29. Februar 1928, sein Rigorosum bei Heidegger125 ab. Die eisigen Temperaturen der vergangenen Wochen mit Werten bis zu -40 Grad Celsius sind vorüber, dennoch hat der Winter Deutschland fest im Griff, als sich Jonas bei Heidegger zur Prüfung einfindet und seine Thesen verteidigt.
Die Dissertation beschäftigt sich mit dem Begriff der Gnosis. Der erste Teil seiner Schrift erscheint 1934 bei Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen. Von dem Buch werden bis Ende 1937 allerdings nur rund 150 Exemplare verkauft. Der Verlag ist der Ansicht, der Erfolg wäre größer gewesen, hätte auch der 2. Teil schon vorgelegen, da sich viele Bibliotheken schwer täten, nur einen Teilband zu bestellen ohne genau zu wissen, ob und wann der Folgeband erscheinen wird. Ruprecht bittet Jonas abschließend, den 2. Teilband deshalb nicht allzu lange hinauszuzögern und ihn diesbezüglich auf dem Laufenden zu halten.126
Worum geht es aber eigentlich in Jonas’ Buch? Der Begriff Gnosis bezeichnet eine neu formierte Bewegung im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus, die sich radikal von antikem und klassischem Denken unterschied. Die Gnosis gehört zu den spätantiken Wurzeln des Christentums. Sie bildete „den Titel und gleichsam das Stichwort für die ganze Fülle mythischer (auch quasi philosophischer) Spekulationen und soteriologischer Kultpraxis, in denen sich die von Osten her vordringende eschatologische Weltstimmung der Zeit aussprach.“127
Die Grundmotive der Gnostiker charakterisiert Jonas hierbei wie folgt: „Schroffer Dualismus Gott-Welt; d.h. streng transmundane Gottesidee – und Widergöttlichkeit der Welt als solcher. Der »Kosmos« als das Reich der Finsternis; feindliches Gegeneinander von »Licht« und »Finsternis« … »Schöpfung« als Folge einer Depravation oder eines partiellen Falles … des Göttlichen, oder das Werk der widergöttlichen Mächte oder beides zusammen. Anthropos-Spekulation: vorzeitiger Fall und Weltverknechtung des göttlichen »Urmenschen« … Irdisches Dasein als Knechtschaft in der Fremde … Erhebung des Einzelnen über diesen Weltzwang durch die »Gnosis«“128, die nichts anderes bedeutet als „Erkenntnis“.
Jonas zeichnet den Weg von der mythologischen zur philosophisch-mystischen Gnosis im zweiten und dritten Jahrhundert nach. Entlang von Begriffsklärungen (Kosmos, Heimarmene, Pronoia, Psyche, Pneuma etc.) und der Darstellung einzelner Autoren dringt Jonas im ersten Teil bis zum (valentianischen) Evangelium der Wahrheit vor. Sein Ziel ist es, den Geist der Gnosis zu begreifen, der aus den vielen unterschiedlichen Stimmen spricht. Bei dem „Evangelium“ handelt es sich der Form nach „um eine Homilie oder Meditation; ihr Stil besteht in einer andeutenden, oft schwer greifbaren mystischen Rhetorik mit einem ständig wechselnden Reichtum an Bildern.“129
Jonas berichtet in seinem Buch von gnostischen Sekten und der geistigen Krise der Zeit, die dieses Denken forciert hat. Ein Gefühl der Einsamkeit und Weltfremdheit durchzieht die Schriften der Gnostiker. Sie formulieren eine Art Erlösungsreligion, in der das Wissen von Gott ein Mittel der Erlösung darstellt. Gott zu erkennen bedeutet zugleich, von ihm erkannt zu werden. Durch Gotteserkenntnis können die Befreiung aus der Knechtschaft der Welt und eine Rückkehr ins Reich des Lichtes gelingen. Allerdings fehlt eine Tugendlehre im strengen Sinne. Jonas sieht in diesem Fehlen einen Zusammenhang „mit der antikosmischen Haltung, das heißt mit der Weigerung, den Dingen dieser Welt und entsprechend auch den Handlungen des Menschen irgendeinen Wert einzuräumen.“130
Nach dem Fund weiterer gnostischer Texte bei Nag Hammadi am Fuße des Gebel-al-Tarif Ende 1945 ändert sich die Quellenlage nochmals dramatisch. Hans Jonas bezeichnet den Fund in seiner populären Darstellung „The Gnostic Religion“ in der dritten Auflage von 1970 als einen Wendepunkt in der Erforschung der Gnosis, weil nun über einen großen Reichtum an gnostischen Schriften verfügt werden konnte.131
Man könnte die gnostische Welt mit ihrer Symbolik und ihrer Neigung, die Verschwörung zu denken, gut mit der politischen Situation der späten 1920er- und frühen 1930er Jahre vergleichen. In dieser Zeit entstand der erste Gnosis-Band, und eine vergleichende Lektüre brächte vermutlich einige Übereinstimmungen zutage. Jonas hat davon allerdings nicht direkt Gebrauch gemacht. Er bemüht sich vielmehr darum, die Gnosis als eine Gesamterscheinung begreifbar zu machen. Dennoch ist zu spüren, dass die Auseinandersetzung mit der Gnosis gerade in dieser Zeit nicht ganz zufällig geschieht.
Im zweiten Teil, der trotz der Bitte Ruprechts auf Grund der politisch-gesellschaftlichen Umstände und Jonas’ eigenem schwierigen Lebensweg erst 1954 erscheinen wird, steht der areté-Begriff der Gnostiker im Zentrum der Untersuchung, ehe er sich speziell Philo von Alexandrien und Origines widmet, um das »System« der Gnostik zu veranschaulichen, das von der Einheit ausgehe, von dort zur Vielheit voranschreite, um letztlich wieder zur Einheit zurückzukehren. Ziel der Arbeit ist es, diesen „natürlichen Verlauf jedes gnostischen Systems“132 nachzuzeichnen.
Am 23. September 1934 bedankt sich Oswald Spengler für die Übersendung des ersten Bandes mit den Worten, die Gnosis sei der Schlüssel zum Gang der Weltgeschichte. Bis heute sei sie nicht verstanden worden: „Was ich darüber gesagt hatte, hat ausser Ihnen niemand verstanden.“133
Jonas belohnt sich nach der bestandenen Promotion und seinem Besuch auf dem 6. Deutschen Soziologentag in Zürich134 mit einem Kurzvortrag zu Karl Mannheim135 im Winter 1928/29 selbst mit einer Reise nach Paris, wo er in der Rue de la Sorbonne Nr. 10 unterkommt und dort mit Hans Yorck von Wartenburg136 zusammentrifft. Von Wartenburg ist der Bruder von Peter Graf Yorck von Wartenburg, der zum Kern des Widerstands vom 20. Juli 1944 gegen Hitler gehörte.
Im Herbst 1929, zu einer Zeit, in der sich der jüdisch-palästinensische Konflikt in Jerusalem zuspitzt, trifft Jonas in Heidelberg erneut auf seine Freunde Arendt und Anders,137 die sich ebenfalls aus ihrer Marburger Zeit kennen und im selben Jahr heiraten. Jonas macht zudem Bekanntschaft mit Gertrud Fischer, seiner baldigen Geliebten. Ihre Beziehung hält bis zu seiner Emigration Anfang September 1933 nach London.138 Währenddessen bekommt Gershom Scholem die Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern hautnah mit, da sich seine Wohnung nur einen Steinwurf weit von der Klagemauer befindet. Seiner Mutter berichtet er von strapaziösen und aufregenden Tagen, von Verwundeten, Toten und Pogromen. Er hoffe, es kämen bald bessere Zeiten.139 Doch diese Hoffnung wird arg enttäuscht werden.
Hans Jonas bekommt von den Konflikten nur durch Hörensagen mit. Noch weilt er in Deutschland und ist auf seine Studien fokussiert. So ist er im Winter 1932/33 unter anderem in Köln, um die Veröffentlichung seines Gnosis-Bandes vorzubereiten. Vermutlich kommt er bei seiner Tante Julie Seligmann unter, die in Köln-Kalk wohnt. Er berichtet, in Köln habe er vom Sieg Hitlers erfahren.140 Dabei kann es sich nur um die Reichstagswahl vom 6. November 1932 handeln. Die NSDAP muss bei dieser Wahl allerdings deutliche Verluste hinnehmen: 33,1 % statt der 37,3 % der Stimmen bei der Juli-Wahl. Und es scheint zunächst kein Sieg Hitlers zu sein, denn eine Regierungsbildung bleibt problematisch.
Von Köln aus unternimmt Hans Jonas erneut Abstecher nach Heidelberg, Paris und Frankfurt. Am 30. Januar 1933 ist er zurück in seiner Heimatstadt. In der Kaiser-Friedrich-Halle in Mönchengladbach vis-à-vis des Elternhauses erfährt er, dass Hitler zum Reichskanzler ernannt worden ist.141 Seine Reaktion schildert er später so: „Ich muß gestehen, daß ich zu denen gehört habe, die dafür waren, daß die Nazis einmal an die Macht kommen sollten. Meine Vorstellung war, dieses Fieber, diese Krankheit muß ausgeschwitzt werden. Einer Partei, die so groß geworden ist und mit solchen Ansprüchen auftritt, und eine solche Verführungsmacht besitzt über das ganze deutsche Volk, sollte Gelegenheit gegeben werden, abzuwirtschaften.“142
Das mag heute naiv klingen, da die Zeichen schon früh auf Krieg in Europa gestanden haben. Doch selbst als der Krieg bereits in vollem Gange war, berichtet Ruth Klüger, die in allen drei Lagern in Auschwitz inhaftiert war, über die gesamte Hitlerzeit hinweg habe sie keinen einzigen Juden „je den Gedanken aussprechen hören, Deutschland könne siegen. Das war eine Möglichkeit, die einer Unmöglichkeit gleichkam, ein Satz, der tabu war, ein Gedanke, den man nicht zu Ende dachte. Hoffnung war Pflicht.“143 Ähnlich denkt Jonas 1933, als der Alptraum begann. Seine Hoffnung, die Nationalsozialisten würden rasch abwirtschaften erfüllte sich hingegen nicht.