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II Der Erste Weltkrieg als prägendes Erlebnis
ОглавлениеMünchen-Gladbach ist zu dieser Zeit bereits eine wirtschaftlich aufstrebende Mittelstadt.35 Doch die niederrheinische Idylle währt nur kurz. Denn der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ändert vieles. Hans Jonas wird den Krieg als prägendstes Ereignis seiner München-Gladbacher Jugendzeit beschreiben.36 Er berichtet: „Mein Bewußtsein der Weltereignisse setzte notwendigerweise am 1. August 1914 ein, als sich plötzlich das eigene Land im Krieg befand. Mit der dem Kinde eigenen Dummheit hatte ich das Gefühl, daß nun endlich etwas geschah. Bis dahin war ich unter bevorzugten Bedingungen aufgewachsen, in einem Land, das seit Jahrzehnten nur Frieden gekannt hatte, das wirtschaftlich blühte, als Kind eines Hauses, das gut gestellt war, wo der Vater ein geachteter Fabrikant und anerkanntes Mitglied der jüdischen Gemeinde war, wo man in den großen Ferien immer mit riesigen Koffern an die Nordsee fuhr und glaubte, das werde immer so weitergehen.“37
Doch es geht entgegen aller Erwartungen nicht immer so weiter: Bereits am Sonntag, den 28. Juni 1914, als die Schüsse auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand im gut 1200 Kilometer entfernten Sarajevo fallen, ändert sich die Lage in ganz Europa dramatisch. Die zwei mal acht Gramm Blei, die beiden Schüsse des bosnisch-serbischen Attentäters Gavrilo Princip aus der Browning FN 1910, läuten das 20. Jahrhundert, das „Zeitalter der Extreme“38 ein, wie es der britische Historiker Eric Hobsbawm treffend genannt hat.
Abb. 2: Hans Jonas, erste Reihe ganz rechts, als Schüler 1913, © Nachlass Hans Jonas, HJ 24-3-23.
Der Erste Weltkrieg gilt als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, weil er als Ausgangspunkt aller weiteren Konflikte in Europa angesehen wird. Denn er bricht mit vielen Tabus und zerstört langfristig die Möglichkeit einer europäischen Diplomatie, die zur Festigung demokratischer Strukturen in den europäischen Nationalstaaten unerlässlich gewesen wäre. Das Leben von Hans Jonas und allen anderen zu dieser Zeit in Europa lebenden Menschen prägt der Krieg nachhaltig.
Schon in den ersten Augusttagen des Schicksaljahres 1914 ruft auch die Jüdische Rundschau die deutschen Juden auf, ihr Vaterland zu verteidigen: „Wir erwarten, daß unsere Jugend freudigen Herzens freiwillig zu den Fahnen eilt.“39
Freudigen Herzens und freiwillig sollen die Juden ihren Fahneneid für das Deutsche Reich leisten. Unterzeichner sind der Reichsverein der Deutschen Juden, die Zionistische Vereinigung für Deutschland und das Präsidium des Kartells Jüdischer Verbindungen sowie der Ausschuss der Jüdischen Turnerschaft. Der Mitbegründer der jüdischen Jugendbewegung Blau-Weiß, der Jurist Adalbert Sachs, schreibt in einer Sonderausgabe der Blau-Weiß-Blätter im August 1914: „Wir erwarten von allen denen, die im Felde stehen, daß sie sich eines Blau-Weißen würdig halten und schlagen.“40 Die blau-weißen Ideale sollen im Kampf zwar nicht aufgegeben werden, fordert Sachs von der jüdischen Jugend. Doch der über allem stehende Patriotismus korrespondiert durchaus mit der Erwartung von Kaiser Wilhelm II., über Parteigrenzen und religiöse Unterschiede hinweg sein Vaterland im Krieg zu verteidigen.
Wie in vielen deutschen Städten, so überwiegt auch in München-Gladbach das Gefühl der „Befreiung aus einer unendlichen Langeweile.“41 Im Hause Jonas teilt man mit vielen anderen Deutschen die anfängliche Kriegsbegeisterung.42 Bereits am 28. Juli versammeln sich Schüler der Gladbacher Gymnasien auf dem Kaiserplatz, singen „patriotische Lieder, stimmen ein Hoch auf den Kaiser an“43 und ziehen geschlossen durch die Straßen. Doch ihre Begeisterung hält nicht lange vor. Denn es folgen mehr als 1500 Kampftage. Jede Minute zwischen 1914 und 1918 sterben in Europa vier Menschen an den Folgen der Kriegshandlungen. Auf heutige Geldwerte umgerechnet verfeuern allein die Kanonenrohre mehr als 600 Milliarden Euro. Die Not und auch der Hunger werden stetig größer in der Stadt, wenngleich die Textilindustrie und mit ihr die Firma Jonas zunächst vom Krieg profitiert, da sie durch ihre Heereslieferungen in Form von Militärdecken, Zeltbahnen und Brotbeutelstoffen förmlich aufblüht. Je länger aber der Krieg dauert, desto schlechter wird auch ihre Lage.
Der Sommer 1914 legt nicht nur das Schicksal der Gladbacher, sondern das von Nationen, Völkern und Millionen Menschen in die Hände einiger weniger mächtiger Individuen. Diese mächtigen Menschen (wie etwa Franz Conrad von Hötzendorf, Chef des Generalstabs der k.u.k-Armee) werden zu den Architekten der „Urkatastrophe“. Ihre Ursachen sind in Europa äußerst vielschichtig. Dazu zählt nicht zuletzt die bis weit in das 19. Jahrhundert zurückreichende, imperialistisch und kolonialistisch geprägte Vorgeschichte des Krieges. Als Katalysator des Vernichtungspotenzials manövriert der Weltkrieg die Gewalt schließlich aus den Kolonien in die Hauptstädte und Landstriche Europas.
Zur „Urkatastrophe“ wird der Erste Weltkrieg vor allem deshalb, weil mit ihm endgültig das aus dem 19. Jahrhundert stammende europäische Staatensystem, bis dato austariert zwischen der Pentarchie, zerbricht. Das Staatensystem war bereits mehrfach ins Wanken geraten, in seinen Grundzügen aber bis zum Ersten Weltkrieg bewahrt worden. Der Krieg markiert darum den Endpunkt einer fast hundertjährigen Entwicklung der alten Welt. Hans Jonas schreibt in seinen Erinnerungen: „Die Nachwirkungen des verlorenen Weltkrieges machten sich überall bemerkbar – die Verkehrsmittel funktionierten nicht immer, man ging ungeheure Wege zu Fuß, es war kalt, und die Straßenbeleuchtung war schlecht. Es war klar, daß um einen herum Hunger und Not herrschten, aber auch die Heftigkeit und Frische neuer politischer Konzeptionen und Experimente waren zu spüren.“44
Ein weiteres besonderes Merkmal des Ersten Weltkrieges war seine Totalisierung – nicht zuletzt in intellektueller Hinsicht. Denn der Krieg wird nicht nur um klar benennbare Ziele, territoriale Gewinne und verbesserte Machtpositionen geführt. Vielmehr wird er zum Prinzipienkrieg zwischen Gut und Böse erhoben, zum Endkampf zwischen deutscher Kultur und westlich-dekadenter Zivilisation, wie es mehrere hundert deutsche Professoren in einem Aufruf an die Kulturwelt sehen.45
Der Krieg wird anderswo zur Entscheidungsschlacht zwischen Zivilisation und teutonischer Barbarei stilisiert. In der Academie Française erklärt der Philosoph Henri Bergson in seiner Rede vom 8. August 1914, der Krieg gegen Deutschland sei der Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei. Jeder, so seine Auffassung, fühle das.46 Zu diesem Zeitpunkt war der Krieg noch keine Woche alt.
Sicherlich ist dieser Krieg nicht nur und auch nicht in erster Linie der Durchlauferhitzer für Völkermord und Eskalation militärischer Gewalt im 20. Jahrhundert; er markiert aber zweifellos eine Zäsur in der Gewaltgeschichte der Moderne. Denn rund 40 % der Kriegstoten sind Zivilisten. Etwas Derartiges hatte es in Europa seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr gegeben: „Für alle Großmächte gilt gleichermaßen, dass der nicht enden wollende Kampf die Vorstellungen davon veränderte, wie ein Krieg zu führen sei. Die Mobilisierung und Kontrolle der Bevölkerung nahm erheblich zu, aber eben auch die Kriegsmethoden wurden immer radikaler.“47
Die Maßstäbe von Recht und Unrecht verschieben sich. Zugleich zieht der Krieg auch die Heimat in immer stärkerem Maße in Mitleidenschaft, insbesondere durch Hunger und Unterversorgung. Man spricht erstmals von der „Heimatfront“.
Der Erste Weltkrieg hinterlässt in den beteiligten Staaten, vor allem aber in Deutschland, eine zerrissene Nation. Sie leidet auch nach dem Krieg an Hunger und hoher Arbeitslosigkeit. Unzufriedenheit über die Folgen des Krieges macht sich rasch breit. Ein tief greifender Strukturwandel der Gesellschaft ist die Folge.
Die Brutalisierung und Entgrenzung des Krieges prägt jedoch auch in vielen anderen Staaten das innenpolitische Geschehen der Zwischenkriegszeit sowie die Vorstellungen, wie Kriege zukünftig zu führen seien. In Deutschland verbreitet sich zudem in nationalistischen Kreisen die Interpretation, man habe den Krieg verloren, weil man ihn nicht radikal genug geführt habe. Die Totalisierung des Zweiten Weltkrieges ist insofern, neben der zunehmenden Ideologisierung in der Zwischenkriegszeit, maßgeblich auf die Erlebnisse und Erfahrungen des Ersten Weltkrieges zurückzuführen.
Hans Jonas ist bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs elf Jahre alt. Auch wenn er in diesem Alter noch nicht die Folgen des Krieges abschätzen kann, so besitzt er doch ein Gespür für die Bedeutung dessen, was in Europa vor sich geht: „Es brach also der Weltkrieg aus, und natürlich stimmte ein elfjähriger Junge in den allgemeinen Jubel ein, und es wurden die großen Siege gefeiert … Die ersten Zweifel stellten sich … während der Schlacht bei Verdun heraus, diesem schrecklichen gegenseitigen Morden.“48 Die Schlacht um Verdun beginnt Anfang 1916 und dauert das ganze Jahr über. Der deutsche Angriff auf die französische Stadt fordert viele Tote, ohne dass sich der Frontverlauf in all den Monaten des Kampfes bedeutend verändert hat. Im Niemandsland zwischen den Fronten bricht durch den massiven Einsatz von Granaten, Geschützen und Minen die Hölle auf Erden herein.
Im ersten Kriegsjahr aber ist die Wahrnehmung der Kriegshandlungen bei der Familie Jonas anders gelagert. Auch die Sorgen kreisen weiterhin eher um ganz private Dinge. So stellt die Familie bereits 1912 auf Vorschlag des Gymnasialdirektors Prof. Wilhelm Schurz einen Privatlehrer für Hans Jonas’ älteren Bruder Ludwig ein, der an einer seltenen Knochenkrankheit leidet und nicht mehr am Schulunterricht teilnehmen kann. Es handelt sich bei diesem Privatlehrer um Rudi Vitus,49 der später, nicht zuletzt dank des finanziellen Engagements der Familie Jonas, katholischer Priester wird und der Mutter Rosa so nahe steht als wäre er ihr eigenes Kind.50
Die innige Freundschaft zwischen Hans Jonas und Rudi Vitus währt bis zu dessen Tod Mitte der 1980er Jahre. Und auch in den 1960er Jahren tritt der Katholik unter anderem als Zeuge im Wiedergutmachungsprozess von Hans Jonas gegen das Deutsche Reich auf. Ich komme hierauf zurück.
Ludwig Jonas, geboren 1901, stirbt jedoch bereits 1916 nach einem Sturz als Folge seiner versteiften Knochen. Die Mutter Rosa versinkt in eine länger währende Depression. Hans’ jüngerer Bruder Georg Adalbert, der von Geburt an körperlich beeinträchtigt ist, leidet stark unter den melancholischen Phasen seiner Mutter. Hans Jonas selbst findet einen Weg, mit der Trauer umzugehen. Vielleicht hilft ihm dabei nicht zuletzt der Malunterricht, der im Todesjahr des Bruders bei Karl Cohnen beginnt. Er entdeckt damals seine Liebe zur bildenden Kunst und macht bei Cohnen auch die Bekanntschaft mit dem Mönchengladbacher Kesselschmied und autodidaktischen Arbeiterdichter Heinrich Lersch, der 1916 den angesehensten deutschen Literaturpreis, den Heinrich-Kleist-Preis, erhält.51 Der junge Hans Jonas scheint sich blendend mit dem rund 14 Jahre älteren Dichter (1889-1936) zu verstehen. Und noch der alte Hans Jonas wird gern auf die Zeit im Atelier und die Liebe zu den Gedichten Lerschs zurückblicken. So zeigt sich Hans Jonas in einem Brief an Lerschs Sohn Edgar, der ihm in den 1980er Jahren einen wiedergedruckten Gedichtband des Vaters zukommen lässt, insbesondere tief beeindruckt von dem 1915 entstandenen Gedicht „Brüder“, das mit den Worten endet: „Es irrten meine Augen. – Mein Herz, du irrst dich nicht:/Es hat ein jeder Toter des Bruders Angesicht.“52
Lersch, der „Sänger des deutschen Krieges“ (Julius Bab), ist eine hochinteressante Figur. Im Oktober 1933 legt er neben Gottfried Benn, Arnolt Bronnen und 85 anderen Kulturschaffenden das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“ für Adolf Hitler ab und wird 1935, ein Jahr vor seinem Tod infolge eines Unfalls und einer daran anschließenden Lungenentzündung, Mitglied der NSDAP (Nr. 3701750).53
Bereits 1934 dichtet der Katholik Lersch: „Wir sind die Soldaten der braunen Armee/Die Kolonnen der Eisernen Zeit/Unser Vormarsch ging durch Blut und durch Weh/Im bitteren Bruderstreit.“54 Lersch ist ein begnadeter Redner, oft kränklich, körperlich von schwerer Arbeit gezeichnet und klein gewachsen.
Gesellschaftsgeschichtlich gehört er zu jenen Zeitgenossen, bei denen sich „ein proletarisches Bewußtsein ins Nationale und Soziale aufspaltete – ein Vorgang, der durch den ersten Weltkrieg geweckt und im Nationalsozialismus, wenn auch stark verändert, wiederholt wurde … Was … bei Lersch und seiner Generation den nationalen und sozialen Begriff Volk so stark verklammerte, war ein nicht zu unterschätzendes Staatsgefühl. Es mochte sich auf eine revolutionäre Neuordnung richten oder auf eine allgemeine Umschichtung durch den Krieg – immer drückte es die existenzielle Bedeutung des einzelnen an ein Ganzes aus.“55
Lersch, einst ein weit über Gladbach und Deutschland hinaus bekannter Dichter, ist schon nach dem Zweiten Weltkrieg fast völlig in Vergessenheit geraten. Hans Jonas liest ihn als Jugendlicher während des Ersten Weltkriegs und in der Weimarer Republik. Neben Lersch sind vor allem Kant, Schiller, Zweig, Werfel, Heine und Goll zu nennen, die ihn begeistern. Auch die Lektüre von Martin Bubers Reden über das Judentum56 und die Reden der Propheten, vermittelt durch die religionsgeschichtliche Schule, eine Bewegung innerhalb der evangelischen Theologie (Wellhausen, Gunkel, Gressmann),57 beeinflussen Jonas nachhaltig. Hierzu berichtet er: „Was aus den Propheten sprach, war für mich das Wort Gottes, aber als Menschenwort.“58