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1 FAMILIE, KRIEG UND JUDENTUM I Von Borken nach Mönchengladbach
ОглавлениеDie Familiengeschichte des Philosophen Hans Jonas lässt sich bis weit in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Damals wird im Anschluss an die napoleonischen Kriege die geo-politische Landschaft durch den Wiener Kongress der Jahre 1814/15 neu geordnet. Alte Grenzen verschieben sich, Staaten neuen Zuschnitts entstehen. Auch der Kreis Borken, 1811 in das französische Kaiserreich eingegliedert, muss sich nach dem Abzug der französischen Truppen und der Ratifikation der Wiener Kongressakte dem tiefgreifenden Wandel stellen: Der Ort wird ein Teil der preußischen Provinz Westfalen. Bereits ein Jahr später gehört der neu entstandene Landkreis Borken zum Regierungsbezirk Münster.
In dieser Zeit des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs gründet der junge Jude Benjamin Jonas (1791–1884) in der kleinen Garnisonsstadt der westfälischen Bucht einen Textilbetrieb. Seit 1807 Buchhalter des Manufakturwarengeschäfts der Firma A.H. Löwenstein, wird Jonas bald darauf Geschäftsleiter der Firma und baut 1815 seinen eigenen Betrieb auf. Im gleichen Jahr heiratet Jonas Löwensteins älteste Tochter Julie. Gesellschaftspolitisch ist er ebenfalls aktiv: Mehr als 50 Jahre steht er der jüdischen Gemeinde in Borken vor.8
Die Bedingungen vor Ort erweisen sich privat und wirtschaftlich als äußerst günstig, zumal die damals kleine, orthodox ausgerichtete jüdische Gemeinschaft, bestehend aus rund 75 Personen, am Borkener Nonnenplatz9 nicht nur eine Synagoge, sondern auch eine jüdische Schule errichtet.
Durch das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“10 werden die in Preußen lebenden Juden bereits im März 1812 Staatsbürger – sofern sie sich bereit erklären, einen eigenen Familiennamen zu führen. Ferner sollen sie ihre Handelsbücher und Verträge in deutscher Sprache abfassen. Das Edikt bewirkt nicht weniger als den steten Zuzug von Juden ins Münsterland nach 1815. Waren sie bis dato bloß geduldet, so etablieren sie sich – wie Benjamin Jonas – in Preußen insbesondere als Selbstständige. Erst im Zuge der industriellen Umstrukturierungen im 19. Jahrhundert und der zunehmend antisemitischen Stimmung auf dem Land11 wird das inzwischen von Benjamins Sohn Herz Jonas (1828–1907) geführte Geschäft am 17. März 1896 an den Niederrhein verlegt. In dem gut 100 Kilometer entfernten München-Gladbach wird der Betrieb zu einer mechanischen Leinenweberei umgebaut.
Die Webereifirma in Borken hat stets nach dem so genannten Verlagssystem gearbeitet: Sie vergab ihre Aufträge wie auch die Lieferung des Garns an Heimweber in den umliegenden kleineren Ortschaften. Diese lieferten fertige Stückware zum Vertrieb wieder an das Unternehmen. Durch die Mechanisierung und die Verlegung des Standortes hat sich dies geändert. Fortan ist die Ware direkt in der Firma erzeugt worden. Dazu war ein „Industriegebiet mit Lohnarbeiterbevölkerung“12, wie es Gladbach besaß, vonnöten. Ein weiterer Grund für die Verlagerung dürfte das wachsende, die Stadt gleichwohl einschnürende Eisenbahnnetz rund um Gladbach gewesen sein. Es ermöglichte schnelle Transportwege für den Vertrieb der Ware. So baute die Rheinische Eisenbahngesellschaft eine Strecke zwischen Krefeld und Rheydt in Konkurrenz zu der bereits bestehenden Bergisch-Märkischen Eisenbahngesellschaft. Darüber hinaus entstand 1879 die für die Textilindustrie bedeutende „Baumwollbahn“ von Gladbach über Roermond bis zum Seehafen von Antwerpen. 1899 folgte zudem der Streckenausbau nach Köln über Grevenbroich. Mit Eröffnung der Textilschule 1901 festigte Gladbach schließlich seinen Ruf als das „Rheinische Manchester“.
Bereits im September 1883 wurde die Synagoge in der Karlstraße, einem gut situierten Viertel der Stadt, feierlich eröffnet.13 Dies war ein deutliches Zeichen für das gewachsene soziale Ansehen der überwiegend gemäßigt konservativen Juden in Gladbach. Gladbach ist damals aber auch eine Stadt der Gegensätze: Fachwerk- und Patrizierhäuser stehen gleich neben älteren und neu errichteten Fabriken. Wiesen, Wälder und Mühlen prägen die niederrheinische Landschaft ebenso wie die „neblige Stimmung“ und der „Rauch der Kartoffelfeuer.“14 Die kleine Stadt wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um etwa das Vierfache und hat im Jahr 1900 etwas mehr als 58.000 Einwohner.15 Unter ihnen leben auch gut 700 Juden – etwa sieben Mal so viel wie in der alten westfälischen Heimat von Benjamin Jonas16 – zumeist in den für die damalige Zeit typischen Dreifensterhäusern.
Der Ort Gladbach gehört bis 1801 zum Herzogtum Jülich und anschließend zu Frankreich. 1815 fällt er ebenso wie Borken an den Staat Preußen. Im Jahr 1888 wird Gladbach kreisfreie Stadt und erhält nun auch offiziell den Namen München-Gladbach. Das neue, in der Hofstraße nahe der Bahnstrecke gelegene Geschäft der Familie Jonas hat damals ca. 60 Mitarbeiter,17 die Halbleinen, Handtücher und Ähnliches produzieren. Am 25. Oktober 1902 scheidet auch Herz Jonas altersbedingt aus dem Betrieb aus. Zwei seiner insgesamt elf Kinder, seine Söhne Gustav18 und Alfred Abraham, führen von nun an die mechanische Weberei. Bis zum Ersten Weltkrieg ist die Firma in gemieteten Fabrikräumen untergebracht. Erst nach dem Krieg errichtet die Familie einen eigenen Fabrikbau.19
Im August 1930 wird die Weberei in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt.20 Mit der abermaligen Umstrukturierung der Firma werden Gustavs Sohn Hans sowie Alfreds Sohn Gerald Jonas Kommanditisten, das heißt: Gesellschafter der Firma mit beschränkter Haftung. Die Cousins Hans und der 1909 geborene Gerald Jonas bleiben zeitlebens nicht nur geschäftlich, sondern auch freundschaftlich miteinander verbunden. Anders jedoch als Hans Jonas arbeitet Gerald zeitweise selbst in der Firma mit.
Der Umsatz der Firma ist über all die Gladbacher Jahre hindurch trotz immer wieder kehrender Probleme des Industriezweigs (Streiks, internationale Konkurrenz) sehr gut. Selbst nach Hitlers Machtübernahme geht das Geschäft bis etwa 1937 weiter. Ende 1938 ist es dann schlicht unmöglich, als Jude im Deutschen Reich noch unternehmerisch tätig zu sein. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wird die Firma Jonas endgültig zerschlagen. Auch das Hausgrundstück der Familie geht im Mai 1939 für 29.000 Reichsmark an einen neuen Besitzer.21
Das unternehmerische Elternhaus prägt Hans Jonas stark. Die überdurchschnittlich hohe Leistungsmotivation wird im erzieherischen Alltag weitergegeben. Aber auch betriebswirtschaftliche Kenntnisse, Erfahrung mit Verwaltungsaufgaben, ein Gespür für strategische Planung und liberal-konservative politische Einstellungen sind nicht nur typische Eigenschaften von Unternehmern; sie kommen auch bei der Familie Jonas zur Geltung.22 Freilich lässt sich ein Nachweis der übernommenen Ideale im Einzelfall nur schwer führen. Bei Hans Jonas fällt jedoch ins Auge, dass er trotz widrigster Umstände in seinem Leben nie den Mut verliert und immer nach vorn blickt. Der Wille, etwas bewegen zu wollen, ist zeitlebens ungebrochen. Er ist nicht nur in seinem Denken flexibel, auch sein Lebensweg zeugt davon, dass er sich situationsangemessen, Chancen und Risiken genau abwägend, verhält. Allerdings verwirft gerade seine Ethik, von der noch zu sprechen sein wird, das Diktum der Risikobereitschaft zugunsten einer von Demut und Vorsicht getragenen Haltung. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, bedenkt man, dass ein Unternehmer mit Weitblick keinesfalls so risikobereit ist, ein Projekt als Ganzes aufs Spiel zu setzen und damit schlicht alles zu gefährden.
Das war auch nie das Credo der Familie Jonas. Sie gehört zum bürgerlich-liberalen Milieu München-Gladbachs. Der Familienname „Jonas“ war ursprünglich der Vorname eines Manufakturwarenhändlers aus Langenberg.23 Im Zuge des Judenedikts von 1812 macht Benjamin Jonas, einer der Söhne dieses Langenberger Händlers, den Namen des Vaters zu seinem Nachnamen. Sein Enkel Gustav wird im 20. Jahrhundert durch den Erfolg der mechanischen Leinenweberei zu einer gesellschaftlichen Größe in München-Gladbach sowie zu einer wichtigen Figur des jüdischen Lebens dort.
Am 4. Dezember 1900 heiratet Gustav Jonas in Krefeld die elf Jahre jüngere Rosa Horowitz (1875–1942)24, Tochter von Jakob Horowitz, einem damals weithin bekannten Rabbiner, der 1837 in Krakau geboren wird und 1907 in Düsseldorf verstirbt. Am 27. Mai 1869 soll eben dieser Jakob Horowitz in Krefeld zum Oberrabiner ernannt werden. Die Stadt und die angeschlossenen Synagogengemeinden wählen ihn, den damaligen Rabbiner von Märkisch-Friedland,25 einstimmig. Die Düsseldorfer Regierung aber verweigert zunächst ihre obligatorische Zustimmung aus verfahrenstechnischen Gründen. Als Düsseldorf am 10. August 1869 dann doch noch die Genehmigung erteilt, wird ihm der Titel eines Oberrabbiners aber weiterhin verwehrt. Trotzdem hat er ihn in Krefeld getragen.26 Ein halbes Jahr nach seiner Krefelder Wahl heiratet Horowitz die damals neunzehnjährige Celestine Heymann.27 Aus der Ehe gehen insgesamt vier Kinder hervor: Leopold, Marcus und Kurt sowie Rosa Horowitz als einziges Mädchen. Mit Gustav Jonas hat Rosa drei Kinder: Ludwig (1901–1916), Hans (1903–1993) und Georg Adalbert (1906–1994).
Abb. 1: Die Mutter Rosa Horowitz und der Vater Gustav Jonas, © Privatsammlung Hans und Eleonore Jonas.
Hans Jonas erblickt am 10. Mai 1903 als zweites Kind in München-Gladbach zwischen Weizenfeldern und Fabrikschloten das Licht der Welt. Vor allem zu seiner Mutter entwickelt er ein ganz besonderes Verhältnis. In seinen Erinnerungen spricht er ihr „überströmende Menschlichkeit“28 zu und charakterisiert sie mit den Worten: „Meine liebevolle Mutter litt am Leben, und zwar nicht an den Welträtseln, sondern daran, daß es so viel Leid auf der Welt gab, so viel Armut und Unglück. Sie nahm daran ungeheuren Anteil und versuchte zu lindern, wo sie konnte.“29
Hans Jonas selbst wird sich zeitlebens eher als einen Horowitz denn als einen Jonas betrachten.30 Er gehört wie auch Leo Baeck, Martin Buber und Franz Rosenzweig zu einer Generation der „postassimilatorischen“ Juden.31 Das Judentum ist für ihn nicht unbedingt eine religiöse Praxis. Vielmehr überwiegt sein Wunsch nach Bewahrung des Judentums und seiner Kultur allgemein. Wie Hans Jonas später einmal mit Hannah Arendt sagen wird, könne er sich eine Welt ohne Juden nicht vorstellen: „Es gibt ein Geheimnis, das uns alle über die zeitgebundenen, privaten, persönlichen Stellungnahmen hinaus, die wir geistig und bewußt vollziehen, bindet.“32
Im September 1910 zieht die Familie in eine „neue errichtete Elf-Zimmer-Villa“33 in der Mozartstraße 9 gegenüber der am 29. November 1903 eröffneten und im Jugendstil für Konzert und Theater erbauten Kaiser-Friedrich-Halle, benannt nach Friedrich III., dem 99-Tage-Kaiser (1888) der Hohenzollern. Von hier aus läuft er die rund 1000 Meter neun Jahre lang zum Stiftisch-Humanistischen Gymnasium, „keuchend und oft genug zu spät den Klassenraum erreichend.“34