Читать книгу SOULAC SUR MER - Tod eines Kommissars - Jürgen Nottebaum - Страница 4
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ОглавлениеGaston Berliot schaute aus dem Wohnzimmerfenster des Mobilhomes hinunter auf den Strand vor dem Campingplatz „Les Sables d‘Argent“. Das Feriendomizil seiner Familie, das vor wenigen Jahren noch in dritter Reihe vor dem Abhang zum Strand gestanden hatte, befand sich mittlerweile direkt am Steilhang, ohne dass man es extra hätte versetzen müssen. Für den „Standortwechsel“ hatte allein die stürmisch aggressive Strömung des Meeres gesorgt, die seit einigen Jahren besonders während der Frühjahrsstürme an den Dünen nagte, jährlich bis zu 10 Metern landeinwärts vordrang und die Sandmassen einfach fortspülte. Trotz aller Versuche, den Naturgewalten mit Stahlträgern, Holzbohlen und gewaltigen Felsbrocken Einhalt zu gebieten, war absehbar, dass auch das Mobilhome der Familie Berliot spätestens zum Ende dieser Feriensaison umgesetzt werden müsste. Seine Eltern überlegten noch, ob man auf diesem Campingplatz verbleiben würde oder auf einen anderen sichereren Platz wechseln wollte.
Gaston war deswegen ein wenig deprimiert, hatte er doch sämtliche Ferien von jüngster Kindheit an hier verbracht. Viele Erinnerungen und fröhliche Bekanntschaften verknüpften sich mit diesem Platz. Dieses Jahr war das letzte Jahr, in dem er seine Schulferien hier verbringen konnte. Das Abitur stand an, und was danach mit ihm sein würde, hatten die Eltern noch nicht entschieden. Auf den Rat eines guten Bekannten seines Vaters hin liebäugelten sie mit der Idee, ihren Sohn für ein oder zwei Jahre ins Ausland zu schicken. Und gerade in diesem Jahr genoss er den Aufenthalt ganz besonders.
Vor gut einer Woche hatte er zufällig morgens gegen 9 Uhr zwei junge hübsche Mädchen aus Richtung l’Amélie kommend am Strand joggen gesehen. Normalerweise war das nicht unbedingt die Tageszeit, zu der er in den Ferien schon wach war. Aber seine Schwester Julie hatte am Vorabend ihren Handywecker aktiviert, das Gerät dann aber versehentlich im Wohnzimmer liegen lassen, wo Gaston schlief. Erst nach einer ganzen Weile hatte Gaston noch schlaftrunken die Lärmquelle geortet und zum Schweigen gebracht. Als er danach missmutig aus dem Fenster geschaut hatte, waren sie ihm aufgefallen.
Schlank, mit geschmeidigen Bewegungen eilten die blonden Schönheiten im Licht der aufgehenden Sonne direkt an der Wasserlinie entlang zielstrebig in Richtung Soulac sur Mer. Gaston hatte das stets auf der Fensterbank bereit liegende Fernglas ergriffen, um die Mädchen genauer betrachten zu können. Sie liefen in Turnschuhen einer bekannten deutschen Marke. Ihr gesamtes Outfit wirkte absolut professionell. Anders als die üblicherweise barfuß daher rennenden Jogginganfänger, die im Urlaub gerade einmal einen Anfall von Sportlichkeit an sich entdeckten und schwerfällig schnaufend am Strand entlang durch den tiefen Sand keuchten, waren diese Sportlerinnen erkennbar durchtrainiert. Sie legten ein beachtliches Tempo an den Tag. Da sie von l’Amélie her kamen, mussten sie also mindestens schon gut zwei Kilometer zurückgelegt haben und ihr Lauf wirkte trotzdem noch immer spielerisch leicht. „Das könnten ambitionierte Nachwuchsläuferinnen sein.“ dachte er bei sich.
Gaston war fasziniert gewesen. Er hielt sich selbst auch nicht gerade für einen schlechten Sportler und bedauerte, dass er noch nicht für den Tag gerüstet gewesen war.
Am folgenden Tag hatte er, einer inneren Ahnung folgend, seinen eigenen Wecker auf 8 Uhr gestellt und sich der Hoffnung hingegeben, die Mädchen wieder zu sehen. Und tatsächlich! Durch das Fernglas sah er sie schon weit in der Ferne. Er legte das Fernglas beiseite, kontrollierte auf dem Weg zur Tür im Spiegel noch einmal den Sitz seiner Frisur, hielt kurz inne, modellierte mit einem Spritzer Gel noch einmal an der rechten Schläfe etwas nach und eilte dann zu dem provisorisch befestigten Abgang zum Strand rechts von ihrem Mobilhome. Eine steile Stahltreppe diente als Abstieg. Sie war auf den losen Sand aufgelegt und nur provisorisch an vier in den Boden getriebenen Holzpfählen gegen Verrutschen gesichert. Mehr Aufwand lohne nicht, hatte die Campingplatzverwaltung entschieden. Der Winter würde eh wieder alles fortreißen.
Zu seiner Verärgerung spielten Leute am Fuß der Treppe mit einem großen hellen Labrador und ließen diesen ständig „Stöckchen“ holen. Gaston hatte es nicht so mit Hunden. Sie waren ihm unheimlich. Und Beschwichtigungen wie „Der tut nichts. Der will nur spielen.“, waren ihm stets ein Gräuel gewesen. Solche Hundehalter ließen jede Distanz vermissen. Er drückte sich irgendwie an Herrchen und Hund vorbei und lief auf den Strand. Seine Zielobjekte waren inzwischen schon am Campingplatz vorbei. Er machte sich an die Verfolgung. Schon nach wenigen hundert Schritten fühlt er sich in seiner Einschätzung bestätigt, dass er es nicht mit einfachen Freizeitjoggerinnen zu tun hatte. Er musste kräftig beschleunigen, um den Abstand zu verringern. Nach gut dreihundert Metern war er ganz kurz hinter ihnen. Sie liefen nach wie vor locker und entspannt. Beide hatten lange blonde Haare. Beide hatten es mit einer auffälligen rosafarbenen Spange im Nacken zusammengebunden. Er musste schmunzeln. Zwei Pferdeschwänze wippten bei jedem Schritt wild von links nach rechts und zurück.
Lena hatte die Spangen vor einigen Tagen auf dem Markt von Le Verdon entdeckt und trotz des unwilligen Knurrens ihres Vaters für sich und ihre Freundin Janine gekauft.
„Das ist nur störender Firlefanz beim Training“, hatte der Vater geknurrt. „Ein einfacher Haargummi leistet genau so gute Dienste.“ Aber ihre Mutter hatte sie bestärkt. Und ihre Schwester Lily, die nicht mit auf den Markt gefahren, sondern auf dem Campingplatz geblieben war, hatte sie ganz neidisch angesehen.
Gaston hielt einen Abstand von wenigen Metern zu den Läuferinnen. Er musterte beim Laufen ihre Figuren. Sie waren beide perfekt durchtrainiert.
Die Joggerinnen hatten ihn auch bemerkt. Aus dem Augenwinkel heraus registrierten sie den schrumpfenden Abstand zwischen sich und dem Verfolger. Sie behielten ihn im Auge und verlangsamten das Tempo, bis er sich fast direkt hinter ihnen befand. Dann zogen sie das Tempo unversehens an, so dass sich der Abstand zwischen ihnen und Gaston plötzlich wieder auf fast 20 Meter vergrößerte. Dieser fühlte sich bei seiner Ehre gepackt. Mit einem kräftigen Zwischenspurt schloss er wieder zu den beiden auf und lief neben ihnen her.
„Hallo, guten Morgen! Ihr seht toll aus und seid wohl ausgezeichnete Läuferinnen.“, stieß er heftig atmend hervor.
Die Läuferin an seiner Seite blickte kurz zu ihm herüber und erwiderte ohne auch nur ansatzweise aus der Puste zu geraten oder das Tempo zu verringern: „Ich kann nicht gut Französisch.“
Inzwischen waren sie schon auf der Höhe des Ortseingangs von Soulac sur Mer angelangt. Dort, wo noch die traurigen Reste eines ehemaligen Appartementhauses darauf warteten, endgültig abgerissen zu werden, weil auch dieses Gebäude, ähnlich wie die Campingplätze südlich von Soulac, vom Meer bedroht wurde. Das Gebäude war bereits vor mehreren Jahren zwangsgeräumt und die Besitzer der Eigentumswohnungen nur kümmerlich entschädigt worden.
Gaston zuckte zusammen. An die Möglichkeit eines Verständigungsproblems hatte er überhaupt nicht gedacht. Er versuchte es erneut, diesmal auf Englisch: „Wo kommst du denn her?“
Die Joggerinnen verlangsamten das Tempo fast auf Schritttempo. Die, die er angesprochen hatte, musste sich beherrschen um nicht lauthals loszuprusten. Wenn ein Franzose Englisch spricht, dann wird die Basis der Verständigung nur noch enger. Also setzte sie ein spitzbübisches Lächeln auf und formulierte, die Wörter langsam suchend, ihre Antwort auf Französisch:
„Ich bin Deutsche und heiße Lena. Wir kommen aus Saarburg. Das ist in der Nähe von Trier. Saarburg ist die Partnerstadt von Soulac sur Mer. Unsere Schule macht einen Austausch mit dem Gymnasium ‚Georges Mandel‘ hier in Soulac. Jetzt wohne ich mit meiner Familie auf dem Camping de l’Océan in l’Amélie. Wer bist du? Wohnst du auf dem Camping Les Sables d’Argent? Da haben wir dich herunter laufen sehen.“
Gaston war verblüfft. Die Mädchen hatten ihn schon an seinem Campingplatz bemerkt. Aber es gefiel ihm. Und auch, dass er nun weiter auf Französisch reden konnte. Er sprach bewusst langsam und bemühte sich, die Sätze einfach zu formulieren:
„Ich heiße Gaston. Wir wohnen in Bordeaux. Hier hat meine Familie ein Mobilhome. Aber das werden wir wohl wegen der Küstenveränderung wegsetzen müssen. Das ist sehr schade, weil ich viele Jahre mit meinen Eltern und meiner Schwester die Ferien hier verbracht habe. Mein Vater liebt diese Gegend. Er gehe gerne auf die Jagd, behauptet er immer. Aber er hat noch nie eine Jagdbeute mitgebracht. Ich mache demnächst mein Abitur. Und danach soll ich vielleicht ein oder zwei Jahre nach England gehen.“
Janine grinste verstohlen. Sie ordnete Gaston wegen seiner Ausdrucksweise der sogenannten Eliteschicht zu. Lena hingegen gefiel die gewählte Art und Weise, wie ihr Begleiter sich ausdrückte. Sie sah Gaston mitfühlend an.
„Das mit dem Mobilehome ist wirklich schade. Uns kann das zum Glück nicht passieren. Wir, das heißt meine Eltern, ich und meine drei Geschwister Mike, Phil und Lily, kommen immer mit einem Wohnwagen. Da haben wir genug Platz, weil wir Kinder in Zelten schlafen.“
„Das müsst ihr wohl auch, wenn ihr so eine große Familie seid.“, erwiderte Gaston. „Ich habe euch übrigens schon mehrmals morgens am Strand laufen sehen. Machst du das nur zum Spaß?“ Gaston wandte sich an die andere Läuferin.
„Nein“, antwortete diese. Zu seiner Verblüffung erfolgte diese Antwort in astreinem, fließendem Französisch. „Ich habe Lena durch den Schüleraustausch kennen gelernt. Ich bin Französin. Ich bin hier aus Soulac. Übrigens“, sie streckte ihm während des Laufens die Hand hin, „ich heiße Janine. Ich mache Leichtathletik, Siebenkampf. Ich bin in einem Förderkader. Da muss ich auch während der Ferien sehen, dass ich nicht aus dem Training komme. Bei Lena ist es übrigens auch so. Unsere Väter helfen uns. Mein Vater bringt mich morgens mit dem Tandem nach l’Amélie. Während wir joggen, nimmt er Lenas Vater mit nach Soulac, wo der dann bei Lidl für die Familie Baguettes kauft, meinen Vater bei uns zu Hause absetzt und anschließend zur Strandpromenade fährt. Von dort aus fahren wir dann mit ihm auf dem Rad zurück. Da oben ist er übrigens.“ Janine wies mit dem Hand zur Strandpromenade hinüber, wo neben der Uhr ein großer Mann stand und zu ihnen herunter winkte.
Zu dritt auf einem Tandem? Gaston wunderte sich. Na gut. Janine musste ja nur irgendwo in Soulac abgesetzt werden. Oder sie ging vielleicht zu Fuß. Er würde es ja gleich sehen, wie das funktionierte. Beim Näherkommen musterte er den Mann genauer. Eine windzerzauste Frisur, die wohl vom Radfahren herrührte. Die Haarfarbe dunkel, mit einer Reihe von grauen Strähnen. Das Gesicht braun gebrannt, durchzogen von einer stattlichen Anzahl von Falten, besonders um die Augen herum. „Lachfalten“, dachte Gaston. „Ein fröhlicher Typ wohl.“ Rund um das Kinn wucherte ein zerzauster Bart. Er sprach mit einer freundlich klingenden tiefen Stimme.
„Hallo zusammen! Na Lena, kommst du auch schon? Da sind heute drei Minuten mehr auf der Uhr. Na, ich seh‘s schon, “ er deutete mit dem Kopf auf den jungen Franzosen, „du hast wohl auf jemanden Eindruck gemacht.“ Die Unterhaltung zwischen Vater und Tochter verlief auf Deutsch.
Gaston verstand nur so viel, dass das Mädchen seinen Namen nannte und den Campingplatz erwähnte. Dann wandte der Vater sich an ihn. Dessen Französisch schien begrenzt, was er aber geschickt verbarg, indem er nur kurze knappe Sätze formulierte:
„Besuch uns mal auf dem Campingplatz. Wir wohnen auf Stellplatz 89. Das ist leicht zu finden. Ich heiße Alwin.“ Mit diesen Worten schwang er sich auf den hinteren Sattel des Tandems, das von Lena, die inzwischen auf dem vorderen Sattel saß, mit lang ausgestreckten Beinen im Gleichgewicht gehalten wurde. Janine war kurzerhand auf den Gepäckträger gestiegen und Gaston bemerkte, dass hinten an dem Tandem noch ein Fahrradanhänger angekuppelt war, aus dem die Spitzen von mehreren Baguettes herausragten. Vater und Tochter stießen sich gleichzeitig mit dem linken Fuß ab und nach einem kurzen Schlenker hatten sie das Gleichgewicht gefunden. Während Lena vorne zum Gruß die Fahrradklingel betätigte, hob Janine noch einmal die Hand und winkte kurz zum Abschied.
Gaston blickte ihnen nach. „Das hatte sich doch gut angelassen!“, dachte er bei sich. Die Mädchen waren ausgesprochen hübsch und zugänglich. Der Vater schien auch soweit o.k. zu sein, wenn man mal davon absah, dass er tatsächlich mit der Stoppuhr in der Hand auf seine Tochter und deren Freundin gewartet hatte. „Das ist typisch deutsch“, dachte er bei sich. Im Übrigen fand Gaston, dass er selbst auch eine gute Figur gemacht hatte. Dabei kontrollierte er den Sitz seiner Frisur. Er war mit seinen 182 cm dem Anschein nach genauso groß wie Lena’s Vater, mit dem kleinen Unterschied, dass er nicht mit einem Bauchansatz zu kämpfen hatte. Und seine Haare waren noch einfarbig hellblond. Darüber hinaus hatte er immer darauf Wert gelegt, seinen Körper zu fordern, so dass er einen gut durchtrainierten Eindruck machen konnte. Manche Mädchen hatten ihn gelegentlich sogar schon mal mit schmachtendem Augenaufschlag als ‚baywatcher‘ tituliert. Das hatte ihm durchaus geschmeichelt, und Gaston erinnerte sich, dass er öfter schon solche Komplimente genutzt und übungshalber so manches ‚Date‘ am abendlichen Strand verabredet hatte. Und so war er mit sich und dem Verlauf der Dinge mehr als zufrieden. Ja, daran hatte sich seit Urzeiten nichts geändert: gutes Aussehen und Charme kamen beim anderen Geschlecht immer gut an.
In diesem Punkt aber irrte er. Lena und Janine waren ihm zwar höflich und freundlich begegnet, aber sie mochten es überhaupt nicht, dass er sich in der Folgezeit ständig auf die Lauer legte und sie ‚begleitete‘, zumal eine Unterhaltung mangels Vokabular hier wie dort kaum zustande kam. Der junge Franzose gab sich zwar Mühe, aber überwiegend bestritt er das Gespräch mit Janine. Wenn er sich aber an Lena wandte, lief es darauf hinaus, dass er mehr oder weniger stammelnd neben ihr her hechelte und davon erzählte, dass er ein Auto zur Verfügung habe. Ansonsten erklärte er ihr wieder und wieder, dass er eigentlich in den Ferien sonst nicht so früh aufstehe. Und beiden Mädchen war es auch lästig, dass der ungebetene Begleiter ihr normales Lauftempo über einen längeren Zeitraum gar nicht mithalten konnte, sie so aus dem gewohnten Rhythmus herauskamen.
So beschlossen die beiden nach gut einer Woche, in der sie aus Höflichkeit ihr eigenes Tempo gedrosselt hatten, die Strecke umgekehrt zu laufen, nämlich von Soulac aus nach l’Amélie. Dann waren sie früher an dem Camping Les Sables d’Argent und ihrem inzwischen doch lästigen Verehrer vorbei und konnten so hoffen, dass er sie verpassen würde.
Ihre Väter hatten nichts dagegen. Ihnen war es egal. Alwin fand die Regelung für sich sogar bedeutend angenehmer. Das Tandem stand dann halt bei ihnen auf dem Campingplatz. Er brachte Lena früh nach Soulac, holte bei Lidl die Baguettes ab und bereitete das Frühstück vor. Lena musste dann Janine nach Soulac begleiten und alleine mit dem Tandem von dort wieder zum Campingplatz zurückkehren. Alles prima. Und noch eine zusätzliche Trainingseinheit, fand er.