Читать книгу Im Malstrom - Jürgen Petry - Страница 10
II
ОглавлениеNein, einen existentiellen Grund zum Revoltieren gab es eigentlich auch in der Endphase der DDR nicht. Niemand hatte Hunger im „real existierenden Sozialismus“. Brot war konstant sogar billiger als Getreide, Brötchen auch, und beides gab es immer. Stundenlang zur Arbeit pendeln musste auch niemand, weil die Neubaugebiete in der Nähe der Arbeitsplätze entstanden. Gemüse und Obst gab es ebenfalls. Na schön, aus heutiger Sicht gelten Rot- und Weißkohl, eine Apfelsorte und ein Dutzend Konserven nicht gerade als breit und tief gestaffeltes Obst- und Gemüsesortiment. Von der verfügbaren Menge je Verbraucher, Tonnage genannt, stimmte es schon, das Angebot. Klar, die innere Struktur! Aber die ist eine individuell empfundene Größe. Im sozialistischen Grundmodell weiter im Osten war das Niveau der DDR schon erstrebenswert. Hier dagegen mehr das unserer Brüder und Schwestern im Westen. Denn „das (die) im Dunkeln sieht man nicht“, schreibt wieder ein anderer Dichter, einer, der sicher auch bald vergessen sein wird.
Klar, Devisen für Importe waren knapp im „real existierenden Sozialismus“ und über Schlamperei schwieg man besser und begründete es damit, dass Obst und Gemüse nun einmal in unseren Breiten bei Frost nicht wachsen. So als hätte sich der siebirische Dauerfrost mit dem Gesellschaftssystem gleich bis zur Elbe ausgebreitet. Irgendwie vielleicht schon? Ja, das Vitaminangebot hätte besser sein können, zugegeben, aber tritt man deshalb gleich eine Revolution los? Unsere vom Skorbut geplagten Vorfahren kamen mit weit weniger aus, wie übrigens heute noch die größere Hälfte der Weltbevölkerung. Und die revolutionieren auch nicht gleich los, oder sagen wir, nicht immer. Das kann er also nicht gewesen sein, der Grund für das plötzliche Aufbegehren in der DDR.
Dursten musste auch niemand in der DDR, wenn ich mich verständlich ausdrücke. Und für weitere Bedürfnisse gab es ja immer noch die Kirche und die Gewerkschaft. Erstere war zuständig für die Seele des Volkes, zumindest für den Teil, der noch wusste, was das sein könnte: Seele! Letztere, im weitesten Sinne des Wortes, mehr für den Körper der Werktätigen. Dafür, dass sie friedlich blieben, die Volksmassen, und glaubten, dass die sozialistische Gesellschaft die höhere sei, die den Kapitalismus demnächst ablösen würde. Nicht sofort zwar, aber irgendwann bestimmt. Das schien sicher, deshalb brauchte man keine Reformen und auch keine Anpassungen an die Weltentwicklung. Wir waren es ja, die Erben des Manifests, nicht die da! Das wurde den Werktätigen geduldig erläutert. In Schulen, Universitäten, Parteischulen, Arbeitsbesprechungen, manchmal sogar auf Kampfdemonstrationen, Versammlungen während der Arbeitszeit, aber auch bei der Vergabe von Ferienplätzen oder Wohnungen. Komisch, warum blieb da nichts hängen?
Die Einheitsgewerkschaft garantierte die Vollbeschäftigung und dafür, dass Hinweise und Beschwerden der Werktätigen, über die Geschäftsleitung oder worüber auch immer, in den Gewerkschafts- und Parteigruppen zwar nicht behoben aber beraten wurden. Nicht wenige Völker der Welt haben uns auch um diesen Standard beneidet. Eine revolutionäre Situation sieht deshalb eigentlich anders aus. Schon Napoleon sagte einst zu seinem schlauen Minister, dem Fürsten Talleyrand-Périgord, dass er nur eine Revolution fürchte: die der leeren Mägen. Na und leere Mägen gab es nicht, trockene Kehlen genauso wenig. Was wir wollten, sei die Freiheit gewesen, behauptet unser Herr Bundespräsident. Ich dagegen bin überzeugt, dass viele Vieles wollten, die meisten aber die D-Mark. Das war sie, die eigentliche, die große Freiheit, wie … nein, lassen wir das Spekulieren!
Bleiben wir zunächst bei den kleinen Freiheiten, die in den Betrieben. Dort arbeitete die Gewerkschaft die allgemeinen Missfallensäußerungen der Werktätigen über alles und jedes ab. Insofern war sie wichtig, die Gewerkschaft, besonders wenn es in den Betrieben des Volkes brodelte. Angeheizt wurde die wachsende Unzufriedenheit natürlich durch das Westfernsehen. Das wussten wir. Aber auch die von Westreisen zurückkehrenden Rentner zeigten dafür, dass sie in den Westen reisen durften, keine Dankbarkeit, sondern schimpften wie Rohrspatzen auf Partei und Staat, die ihnen das erst ermöglicht hatten. Überhaupt wurde in der DDR immer mehr gemeckert. Diesen Unmut zu kanalisieren, war eine indirekte Aufgabe der Gewerkschaft. Das tat sie durch stundenlanges Palavern mit den Meckerern. Natürlich während der Arbeitszeit. Trat der Feierabend ein, gaben die Meckerer meist auf und entschieden, dass das Problem als gelöst betrachtet werden konnte. Warum gerade mit dem Feierabend? Weil im Arbeitsgesetzbuch der DDR geschrieben stand: „Schöpferische Auseinandersetzungen sind mit den Werktätigen zu führen.“ Von unbezahlten Überstunden zum Lamentieren stand darin nichts.
Entgegen der allgemeinen Annahme, besonders im Westen unseres Vaterlandes, gab es auch viele Kirchen in der DDR. Jedenfalls mehr als gefüllt werden konnten durch die Gläubigen. Das lag daran, dass sie, die Kirchen, eher unter der „nicht arbeitenden Bevölkerung“ wirkten. Die Damen und Herren Pastoren wollten sich einfach nicht den bewährten Praktiken der SED und ihrer Gewerkschaft anschließen und während der allgemeinen Arbeitszeit predigen. Sie änderten nichts und predigten stur weiter außerhalb der regulären Arbeitszeit. So als hätte sich nichts geändert im Staat des Saarländers. Kein Wunder, dass die Kirchen meist leer blieben. Man stelle sich nur einmal vor, Partei und Gewerkschaft hätten ihre Versammlungen nach dem offiziellen Feierabend organisiert! Dann wären ja die Kirchen besser als die Versammlungsräume gefüllt gewesen. Undenkbar!
Bezahlt wurden die Prediger aber alle vom Staat. Egal was sie predigten. Die Pastoren in den Kirchen, die Parteisekretäre in den Betrieben und die zahllosen hauptamtlichen Gewerkschafter auch. Nicht nur durch unsere unfreiwilligen Mitgliedsbeiträge. Erhalten wurden Kirchen vom Staat ebenfalls. So wie er die übrige Bausubstanz erhielt. Besser nicht, schlechter auch nicht. Einmal riss man auch eine Kirche ab. Das war in Leipzig und eine dümmliche Demonstration der Macht war es ganz besonders. Darüber wurde dann viel geschimpft. Sehr zu Recht. Dummheit muss eben bestraft werden, so oder so! Es gab aber auch neu gebaute Kirchen in der DDR, in Leipzig auch, sogar mehrere, aber über die redete man nicht. Höchstens über Mormonentempel, jüdische Synagogen und mohammedanische Moscheen. Ja, alles das wurde gebaut. In dieser Beziehung zumindest ging alles relativ gerecht zu in der DDR.
Ach ja, die Partei- und Staatsführung der DDR war schon ein stolzer Verein. Das heißt die Genossen waren stolz auf sich selbst, aber auch das ist ja eine Form von Stolz. Lange waren alle damit zwar nicht glücklich aber zufrieden. Ansonsten kümmerte sich jeder um seins. Jedenfalls ist es eine nachträgliche Erfindung der Altdissidenten, dass man keine kritische Meinung in der DDR haben durfte. Alles Quatsch, man sollte es sogar. Natürlich nicht gerade über die Partei, weil die ja immer recht hatte. Das wusste jeder und die meisten beachteten es auch. Die Regierung durfte man dagegen schon kritisieren, wenn sie, die Kritik, keinen allzu politischen Hintergrund hatte, gemäßigt vorgetragen wurde und ihr, der Regierung, zuvor genügend Erfolge zumindest aber positive Absichten bescheinigt wurden. Danach blieb dann meist alles so wie es war.
Bei Kritiken an den Firmenchefs und den sonstigen betrieblichen Leitern musste man keine Zurückhaltung üben. Im Ton nicht und auch nicht in der Sache. Die waren schuld an allen Missständen hieß es, nicht die Partei, die Regierung auch nicht. Doch in den Betrieben sollten die Anregungen und Hinweise der Werktätigen ernst genommen und beachtet werden. Auch das stand im Arbeitsgesetzbuch. Ich jedenfalls, als davon Betroffener, habe das kennengelernt, als ich die Politik von Partei und Regierung meiner Elektrikerbrigade in den noch zu beschreibenden „Arbeitsbesprechungen“ immer wieder positiv erläuterte. Gab es trotzdem Unmutsbekundungen an diesem oder jenem in der Firma, musste die Disziplin natürlich nach der Aussprache sanft wiederhergestellt werden. Der dafür gut geeignete Zeitpunkt, fand ich schließlich heraus, war die Quartalsprämienverteilung. Die Beratung darüber fand im Zusammenhang mit der Auswertung des sozialistischen Wettbewerbs in den Arbeitsberatungen statt. Da blieb der Ton gedämpft und Meckereien uferten nie aus. Waren sie verteilt, die Prämien, gingen wir zu den „kollektiven Gesamtinteressen“ über. Um diese „kollektiven Gesamtinteressen“ richtig zur Wirkung kommen zu lassen, wurde zu gegebenen Anlässen ein Schild mit der Aufschrift „Arbeitsbesprechung! Bitte nicht stören“ an die Tür unseres Aufenthaltsraumes gehängt und auch respektiert, zumindest fast immer. Leider war es dann so, dass irgendwann die Geschäftsleitung unseres Betriebes, die von vor der Wende natürlich, den Verkauf von Bier und Schnaps im Betriebskonsum untersagte. Natürlich belastete eine solche Entscheidung das Betriebsklima in den Kombinaten. Es ist vielleicht übertrieben, aber ich behaupte, dass es einer der Nägel für den späteren Sarg der DDR war. Daraus zum Beispiel hätte auch unser Kumpel Gorbi lernen können. Dann hätte er den Russen nicht das Saufen verboten. Ja, auch von der DDR lernen, kann siegen lernen bedeuten.
Das kannst du dir vielleicht nicht vorstellen, weil du ja nie in einem sozialistischen Großbetrieb unter, sondern nur über den Werktätigen gearbeitet hast. Und das, mein Lieber, ist eine ganz andere Perspektive. Wir lösten zwar das Problem, indem wir schweren Herzens „das Benötigte“ schon abends in den Heimatorten einkauften und früh mit in den Betrieb brachten. Doch das war ein Verstoß gegen die Arbeitsordnung und hätte nicht sein müssen.
Warum brach sie dann aber wirklich so plötzlich aus, die „Friedliche Revolution“? Ganz einfach zu sagen, erklärt man uns heute. Die Dissidenten leisteten Grundlagenarbeit. Der Staat war ein Unrechtsstaat! Und die Stasi ein Unterdrückungsinstrument! Und die Regierung unfähig! Und die Partei diktatorisch. Und das Volk wollte die Freiheit! Und die Wirtschaft war marode! Und die Presse war eine Lügenpresse! Nein! Stopp, stopp, stopp! Das kam ja erst später. Hören wir lieber auf, bevor wir uns verrennen! Nein, nein, es war durchaus nicht alles schlecht im „real existierenden Sozialismus“. Die garantiert sicheren Arbeitsplätze zum Beispiel. Hätten alle gewusst, wie die Arbeitsbedingungen im Westen wirklich waren, wer weiß …? Ich weiß es jetzt und eins ist sicher, dafür ginge ich nie mehr auf die Straße. Aber die Demonstranten gingen damals auch von anderen Zielen aus, obgleich sie auf keinem Plakat zu finden waren. „Wie im Osten arbeiten und wie im Westen leben“ zum Beispiel. Auch heute wird das noch keiner zugeben. Schwamm darüber. Rahmenkollektivverträge galten für alle und das wirklich. Leiharbeiter dagegen gab es überhaupt nicht, höchstens ein paar internationale aus Polen oder Vietnam, aber die mussten zurück, wenn die vereinbarte Ausleihzeit abgelaufen war. Und so etwas wie Hartz IV kannte man auch nicht! Aber das kam ja dann, später. Na schön, für irgendetwas mussten wir ja auf der Straße gewesen sein.
Überhaupt das Volkseigentum! „Man kann aus den Betrieben noch viel mehr rausholen“, lehrte uns die Partei und die Werktätigen setzten die Losung um. So, wie sie sie verstanden. Zur Arbeit wurden wir sogar mit dem Bus gefahren. Zurück ebenfalls. Umsonst natürlich. Da waren aber wenigstens alle zur gleichen Zeit da. Und abends hörten alle zugleich auf. Wer wollte schon laufen? Das ganze hieß geregelte Arbeitszeit. Wo sind sie geblieben, die hart erkämpften Privilegien der Arbeiter?
Na ja, die Privilegien! Eigentlich müsste man ja anders fragen. Warum sollte es das noch geben? Damals verdienten ja fast alle das Gleiche, heute ist es nicht mehr ganz so. Und wer heute schon Arbeit hat, soll gefälligst sehen, wie er da hinkommt. Das ist nur gerecht. Die Arbeitslosen werden schließlich auch nicht umsonst kutschiert, um ihre Stütze abzuholen. Und früher, in der DDR, gab es das ja nicht: Arbeitslose und Arbeitsämter. Es geht etwas durcheinander, mein alter Freund, ich weiß das, aber versteh mich bitte, ich muss für mich selbst erst herausfinden, was uns 1989 eigentlich so plötzlich auf die Straße getrieben hat. Scheinbar war ja alles in Ordnung im Staat mit dem Saarländer an der Spitze. Wer einige Jahrzehnte später in der damaligen Presse, nicht nur der im Osten, nachliest, was da so berichtet wurde über das zehntgrößte Industrieland der Welt, wird den Eindruck jedenfalls bekommen.
Und dann plötzlich wollte es das alles so nicht mehr, das undankbare Volk, und begab sich auf die Straße, um Freiheit einzufordern. Ich auch und sogar besonders freudig. Freiheit bedeutete, dass es anders werden sollte im „real existierenden Sozialismus“. Was genau alles anders werden sollte, war nicht ganz klar. Nicht alles jedenfalls, aber vieles, und diesen Forderungen schlossen wir uns an. Wir, das waren die Werktätigen unseres Kombinats. Ich auch und meine Kumpels aus der Betriebselektrikerbrigade „Stromschnelle“, die ich leitete. „Auf nach Leipzig zur Demo“, scholl ein Ruf wie Donnerhall durch die Betriebe! Und wir fuhren demonstrieren! Ja, sogar nach Leipzig und auf eigene Kosten. Zum ersten Mal so richtig freiwillig, wenn ich mich recht erinnere, und sogar nach der regulären Arbeitszeit, am Anfang zumindest, und das war auch gewöhnungsbedürftig.
Wochenlang waren wir an jedem Montag in Leipzig um den Ring marschiert. Erst ein Häuflein voller Neugier, Mut und Angst zugleich, dann wurde daraus ein Haufen, bei dem die Angst nicht kleiner war, der Mut aber wurde größer und das Gefühl, etwas ändern zu können, mächtig. Zu vorletzt demonstrierte wirklich das Volk. Aber wie sagte schon ein schlitzohriger englischer Politiker? „England darf in einem Krieg jede Schlacht verlieren, nur die letzte nicht.“ Hätten wir das nur beherzigt. Was war das für ein herrliches Gefühl damals, den Schulterschluss der Unzufriedenen zu spüren und im Chor hinüberzurufen zu den Mächtigen, dass wir es sind, das Volk, das gehört werden wollte. Erst riefen wir leise, dann lauter, schließlich machtvoll: „WIR SIND DAS VOLK!“ Ein Volk riefen wir nicht. Damals nicht. Das kam später. Dieser Ruf war nicht der unsere. Wer von den Gutmenschen ihn übernommen und demagogisch eingebracht hat, wird wohl nicht mehr zu ermitteln sein. Übernommen hat derjenige oder diejenigen ihn jedenfalls von Hitler. Geprägt hat der den Begriff. Das ist erwiesen, wenn er es auch nicht in Gedanken an die Demos von ’89/90 getan hat. Und zwar prägte er ihn am 4. Dezember 1930 in einer programmatisch, demagogischen Rede vor Studenten der Berliner Technischen Hochschule (abgedruckt: „Völkischer Beobachter“ vom 9. Dezember 1930). Doch das ist eine andere Geschichte. Überhaupt sollte man mit Begriffen nicht gar so spitzfindig umgehen. Schließlich ist auch die Wortschöpfung „Volksrepublik“ von Hitler. Den Begriff prägte er am 2. August 1938 in seiner Rede zum Richtfest der Neuen Reichskanzlei, gehalten in der damaligen Deutschlandhalle. Na ja, man kann ja nicht alles wissen als Lenker. Und wir, die einfachen Demonstranten, wollten nur, dass es besser wird. Nicht alles, aber vieles! Deshalb achteten wir nicht so genau auf Wortspiele. Hätten wir es nur beherzigt, dass wir es waren, das Volk, denn bald kam doch alles ganz anders.