Читать книгу Im Malstrom - Jürgen Petry - Страница 19
XI
ОглавлениеBis hierhin, mein lieber Freund, verlief unser, das heißt dein und mein, Leben, abgesehen von einigen leichten, zeitbedingten Höhenunterschieden, sehr ähnlich. So, wie es uns der Saarländer vielleicht als Ziel einer „sozialistischen Menschengemeinschaft“ vorgegeben hatte. Alle in etwa gleich. Die nicht planbare Ausnahme war vielleicht, dass du und ich bereits über vier Jahrzehnte Freunde waren und unsere Frauen das nicht nur akzeptierten, sondern sich ebenfalls gut verstanden. Auch das soll ja nicht selbstverständlich sein. Beide hatten wir unser festes Wohnumfeld, langjährige Arbeitskollegen, eine im Großen und Ganzen intakte Familie, annähernd gleiche Neubauwohnungen, nur dass deine in Leipzig und meine in Wolfen Nord stand. Wir fuhren das gleiche Auto, jeder einen Wartburg. Deinen bekamst du nach 16 Jahren Anmeldungszeit und ich hätte, wenn Vater Waldemar nicht … na, du weißt schon, genauso lange warten müssen. Alles war annähernd gleich in unserer schönen DDR. Gehälter, Garderoben und sogar die Wohnungsausstattungen unterschieden sich nicht nennenswert. Ähnliche Schrankwände, Sitzmöbel und, dank deiner Hilfe, sogar vergleichbare Buchbestände und Schallplatten. Die Unterschiede bestanden nicht in der Kaufkraft, sondern in den Beziehungen. Siehe mein Vater Waldemar. Aber sonst? Dass du Chef eines Großbetriebes warst und ich der bescheidene Leiter der Elektrikerbrigade „Stromschnelle“, war äußerlich kaum zu bemerken.
Doch es änderte sich viel in den letzten Monaten. Die Gesellschaft krachte in allen Fugen und häufig zerbrachen auch über Jahre gewachsene menschliche Verbindungen und Freundschaften. Unsere hielt, obgleich ich fast jeden Montag in Leipzig um den Ring marschierte, wenn auch mit wachsenden Bedenken. Du dagegen versuchtest und schafftest schließlich auch den Spagat, die Unruhen aus deinem späteren Betrieb rauszuhalten, ihn am Markt neu zu etablieren und ihn zugleich vor den rigorosen Plattmachungsbestrebungen der Treuhand, die besonders nach der Ermordung Rohwedders am 1. April 1991 einsetzten, zu schützen. Du allein weißt, was dir das an Kraft gekostet hat. Aber schließlich hast du vielleicht nicht alles, aber viel richtig gemacht, während ich unter den neuen Bedingungen scheiterte. In Tritt kam ich nicht wieder, vielleicht auch, weil ich irgendwann nicht mehr wollte und konnte. Dabei ging es uns später nicht einmal schlecht. Alles andere wäre gelogen.
Vor uns stand das Weihnachtsfest 1989. Es sollte für meine Familie und mich für lange Zeit das letzte sorgenfrei und ohne Zukunftsangst gefeierte „Fest der Familie“ bleiben. An jenem Heiligen Abend ließ ich mich von Jana sogar überreden, in unserer heimatlichen Dorfkirche die Christmesse zu besuchen. Das hatten wir seit ein paar Jahren nicht mehr getan. Hinterher erschien mir dieser Schritt fast wie ein Symbol. Waldemar Henry und Ilona hatten sich uns angeschlossen. Natürlich nicht, um mit uns in die Kirche zur Christmesse zu gehen, sondern weil sie unbedingt noch die neue Freundin eines alten Kumpels aus Waldemar Henrys Schultagen begutachten wollten. Die Besichtigung muss erfreulich verlaufen sein, denn sie wurde ordentlich gefeiert. Auf der Rückfahrt musste ich mich jedenfalls um die „Unversehrtheit“ der hinteren Sitze in meinem Wartburg sorgen. Es lief aber alles gut ab. Nur das blöde Kichern der beiden brachte mich in Rage.
Den 1. Weihnachtsfeiertag besuchte uns wieder meine Mutter, ohne dass es zu mehr als den üblichen kleinen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und Jana gekommen wäre. Mein Vater hatte dringend zu tun, ließ er uns ausrichten. Und am zweiten trafen dann wir uns. Auch das sollte ein langer Abschied werden! Einmal von unserer bereits traditionell zu nennenden Zweiten-Weihnachtsfeiertags-Begegnung. Zum anderen war es auch euer letzter Besuch in Wolfen Nord. Einige Wochen später hatte dieser Teil des Vaterlandes keine Verwendung mehr für mich. Die mir bekannte Welt zerbrach, die vor mir liegende verstand ich nicht und versuchte es dann bald auch nicht mehr, sie zu verstehen. Aber das ahnten an diesem Weihnachtstag weder du noch ich. Die Stimmung blieb, trotz aller Bemühungen von beiden Seiten, recht gedrückt. Weniger durch Jana und mich, denn wir ahnten nicht einmal, was uns persönlich bevorstand, als durch euch. Ihr wart ja schon mitten drin in dem allgemeinen Schlamassel, der besonders dich bis zur letzten Grenze fordern sollte. Trotzdem gelang es uns dann noch einmal, die schwarzen Wolken beiseite zu schieben und es wurde doch noch ein schönes Fest. Ja, unerforschlich sind des Herrn Wege.