Читать книгу Die Servator Verschwörung - Jürgen Ruhr - Страница 5

I. Der Neue

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„Setzen Sie sich.“ Der Mann hinter dem Schreibtisch sah nicht einmal auf, sondern widmete sich weiter den vor ihm liegenden Papieren.

Ronald C. Nayst ließ sich langsam auf den angebotenen Stuhl sinken. Der hinter dem überdimensionalen Möbelstück sitzende Mann entsprach genau dem, was man ihm im Vorfeld erzählt hatte: klein, zirka ein Meter siebenundsechzig, dick, Glatze, aber dafür mehr Haare im Gesicht, die er in Form eines Henry des Vierten, eines sogenannten Henriquatre Bartes, trug. Das Bild wurde durch eine dicke Hornbrille abgerundet. Ronald - oder besser Ron, wie ihn seine Freunde nannten - empfand direkt so etwas wie Unbehagen beim Anblick dieses Mannes. Aber er wollte nicht voreingenommen sein und erst einmal abwarten, wie dieser Chefradakteur der Berliner Zweigstelle ihrer Zeitung ‚New York News Paper‘, kurz NYNP, sich ihm gegenüber verhalten würde.

Der nahm allerdings zunächst keinerlei Notiz von seinem Gegenüber und blätterte weiter in einigen Papieren. Dann setzte er die Brille mit einem Seufzen ab, fuhr sich mit einer Hand über die Augen und fixierte den Mann auf dem Stuhl mit zusammengekniffenen Augen.

„Sie also sind Ronald Nayst?“

Ron nickte und zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. „Und sie sind Thorsten Fellger, der Chefredakteur“, stellte er fest, erhob sich und hielt dem Mann hinter dem Schreibtisch die Hand hin.

Fellger übersah sie geflissentlich und setzte stattdessen seine Brille wieder auf. „Gut, gut. Sie waren ja für heute angekündigt“, ließ er sich nach einer kurzen Pause vernehmen und blätterte erneut in den Papieren herum. „Mir ist allerdings schleierhaft, warum man sie hier zu uns versetzt hat. Wir brauchen niemanden aus der New Yorker Zentrale. Was wir brauchen, ist ein der deutschen Sprache mächtiger Online Redakteur. Und so welche finden wir hier auf dem deutschen Arbeitsmarkt zuhauf!“

Ronald Nayst nickte. Man hatte ihn schon gewarnt, dass dieser Fellger ein eher schwieriger Typ sei. Schließlich hatte der sich lange erfolgreich dagegen gewehrt, jemanden aus der Zentrale in die Berliner Redaktion zu bekommen. Aber letztlich gingen dem Mann die Argumente aus, insbesondere da die Fluktuation unter den Redakteuren hier besonders hoch war. Fellger hatte inzwischen vier Online Redakteure verschlissen, die alle schon nach sehr kurzer Zeit das Handtuch warfen.

„Also brauchen wir niemanden aus New York, auch wenn es der Sohn vom Boss ist. Gerade, wenn es der Sohn vom Boss ist“, ergänzte der Dicke und tippte mit dem Mittelfinger der rechten Hand auf die Papiere. „Sie sind ja noch nicht einmal lange genug im Geschäft, um hier effektiv arbeiten zu können. Herr Nayst, wie ich lese, haben sie ihr Studium vor zwei Jahren beendet und sind erst seit sechs Monaten in der Redaktion tätig.“

Ron nickte erneut: „Und davor die anderthalb Jahre habe ich bei verschiedenen Redaktionen Erfahrungen gesammelt. Ganz so unbedarft, wie sie denken, bin ich also nicht.“

Der Dicke seufzte, nahm die Brille ab und fuhr sich wieder über die Augen. Das schien so eine Art Ritual bei ihm zu sein. „Gut, gut. Dann beweisen sie einmal, was sie können. Wie steht es eigentlich mit ihren Deutschkenntnissen? Sind sie überhaupt in der Lage, sich entsprechend auszudrücken?“

Ron lächelte: „Deutsch ist meine zweite Muttersprache. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn meine Mutter war Deutsche, als sie meinen Vater heiratete. Ich bin quasi viersprachig aufgewachsen, denn meine Eltern erzogen mich in Englisch, Deutsch, Französisch und - ein Steckenpferd meines Vaters - in Chinesisch. Spanisch habe ich dann während meines Studiums gelernt.“

Fellger winkte ungeduldig ab: „Hier reicht es, wenn sie ein anständiges Deutsch zu Papier bringen. Und erwarten sie keine Sonderbehandlung, nur weil sie der Sohn vom Chef sind. Wir ziehen alle an einem Strang und wenn sie aus der Reihe tanzen, dann sorge ich dafür, dass sie schneller wieder in ihrem geliebten Amerika sind, als sie denken. Und jetzt an die Arbeit. Wenden sie sich an Fräulein Rienatz, die leitet momentan unsere Online Redaktion. Oder leitete, denn jetzt sind ja sie da. Lassen sie sich von Fräulein Rienatz alles erklären. Entsprechende Computererfahrung werden sie doch wohl haben? Fräulein Rienatz kann sie ja unmöglich in der Beziehung auch noch anlernen. Also, auf junger Mann. Es gilt keine Zeit zu verlieren. Time it‘s monday, wie sie so schön sagen!“

Ron erhob sich, nickte dem Dicken kurz zu und korrigierte: „Time is money. Zeit ist Geld.“

„Sag‘ ich doch. Und jetzt an die Arbeit ...“

Ronald verließ das Büro des Chefredakteurs mit einem flauen Gefühl im Magen. Kein Wunder, dass sich die Mitarbeiter hier nicht allzu lange hielten. Wer um alles in der Welt hatte diesen ‚Chefredakteur‘ eigentlich eingestellt? Er nahm sich vor, beim nächsten Kontakt mit seinem Vater einmal danach zu fragen. Aber möglicherweise verfügte der dicke Mann ja über Talente, die bei dem kurzen Gespräch eben nicht zum Ausdruck gekommen waren.

Fräulein Rienatz fand er nach einigem Suchen in der Kaffeeküche. Eine Blondine von zirka ein Meter vierundsiebzig stand mit dem Rücken zur Tür und beschäftigte sich intensiv mit der Kaffeemaschine. Ron klopfte leise an den Türrahmen. „Hallo.“

Die Blonde drehte sich erschrocken um, lächelte dann aber: „Du bist der Neue, stimmt‘s? Die gesamte Redaktion spricht von nichts anderem. Bist du wirklich der Sohn vom großen Boss? Kommst du gerade aus New York? Du heißt Donald, nicht wahr? Warst du schon beim Chef?“

Während die Frau kurz Luft holte, nutzte Ron die Pause: „Ja, ja, ja, nein, ja.“

Sie sah ihn fragend an. „Ja? Nein? Ja? Nein?“

Ronald grinste: „Ja, ja, ja, nein, ja. Deine Fragen: Ja, ich bin der Neue. Ja, ich bin der Sohn vom Boss, auch wenn das hier keine Bedeutung haben sollte. Ja, ich komme direkt aus New York. Nein, ich heiße nicht Donald, sondern Ronald, Ronald Nayst. Meine Freunde dürfen aber Ron zu mir sagen. Und schließlich: ja, ich war schon beim Chef. Der schickt mich direkt zu dir. Ich darf doch ‚du‘ sagen?“

„Ja, sicher.“ Die Blonde ließ die Kaffeemaschine stehen und kam mit ausgestreckter Hand auf Ron zu. „Ich bin die Maike. Maike Rienatz. Du darfst ‚du‘ zu mir sagen.“ Sie schüttelten sich die Hände. „Danke, Maike. Fellger meinte, du könntest mir meinen Arbeitsplatz erklären. Du bist für die Onlineredaktion verantwortlich?“

Maike nickte und wandte sich wieder ihrer Kaffeemaschine zu. „Momentan muss ich die Onlinesache alleine bewältigen. Gut, dass du jetzt hier bist, denn mir wächst das Ganze allmählich über den Kopf. Du musst nämlich wissen, dass ich lediglich die Praktikantin bin. Bis der letzte Onlineredakteur den Kram hingeschmissen hat, war ich hauptsächlich für das Kaffeekochen zuständig. Und jetzt auf einmal soll ich die ganzen Artikel schreiben und auch noch reschelscheren.“

„Recherchieren“, korrigierte Ron automatisch, konnte aber nicht erkennen, ob die Blonde seine Worte aufnahm oder zu sehr mit dem Kaffee beschäftigt war. Er wartete geduldig und sah der Praktikantin beim Kaffeekochen zu. Die füllte jetzt Wasser in die Maschine, setzte den Filter auf das Gerät und betätigte den Einschaltknopf. Dann stand sie nur noch da und beobachtete, wie die braune Flüssigkeit langsam in die Kanne tropfte. Plötzlich drehte sie sich lächelnd herum: „Hast du Lust, heute Abend zu einer kleinen Party zu mir zu kommen?“

Ronald schaute das Mädchen fragend an: „Eine Party? Sorry, aber da habe ich heute wirklich keine Zeit zu.“ Obwohl ihm die Blonde schon ein wenig gefiel. Das Kleid, das sie trug, fiel zwar etwas gewagt aus und zeigte mehr Bein und Busen, als wirklich notwendig war, aber ihre Figur war schlichtweg perfekt.

Doch Ron steckte der Jetlag in den Knochen, er war vom Flughafen direkt in die Redaktion gefahren. Außerdem müsste er sich noch um eine vorläufige Unterkunft kümmern. Da stand ihm der Sinn nun wirklich nicht nach Party. Nur aus Höflichkeit fragte er dann aber: „Feierst du deinen Geburtstag? Kommen viele Leute?“

Maike kicherte kurz, dann machte sie einen Schmollmund und sah Ron direkt ins Gesicht: „Eine kleine Party. Zu deinen Ehren. Nur du und ich ...“

Ronald schüttelte den Kopf: „Wie gesagt - sorry. Ich leide noch unter der Zeitverschiebung und muss mich auch um eine Unterkunft kümmern. Vielleicht ein anderes Mal.“

Die Praktikantin wandte sich wieder ihrer Kaffeemaschine zu, die ein letztes Röcheln von sich gab. Der Raum war erfüllt von Kaffeeduft und Ron freute sich schon auf eine gute Tasse des schwarzen Gebräus.

„Wie du willst“, ließ die Blonde sich jetzt vernehmen, „aber du kannst notfalls auch bei mir übernachten. Zumindest heute Nacht. Überleg‘s dir.“ Sie füllte einen Becher und stellte ihn zusammen mit Zucker und einem Milchkännchen auf ein kleines Tablett. Dann wandte sie sich zur Tür. „Wenn du auch Kaffee möchtest, bedien‘ dich ruhig. Ich muss den hier zum Chef bringen. Danach zeige ich dir deinen Arbeitsplatz.“

Ron trat zur Seite, damit sie mit dem Tablett durch die Tür gelangen konnte.

Während die Praktikantin das tat, was sie offensichtlich am besten konnte, nämlich Kaffee ausschenken, sah Ron sich in den Redaktionsräumen um. Es handelte sich um ein Großraumbüro, der Kaffeeküche, zwei Toilettenräumen im Gang zur Eingangstüre und dem im hinteren Bereich gelegenen Büro des Chefredakteurs. Wie Ron wusste, bestand die Mannschaft hier momentan lediglich noch aus drei Leuten und dem Chefredakteur. Und natürlich der Praktikantin, von der er eben erst erfahren hatte. Bevor der neue Chefredakteur seine Stelle angetreten hatte, waren es einmal acht Redakteure und zwei Onlineredakteure gewesen. Was ging hier vor, dass so viele Leute gekündigt hatten?

Die Berliner Zweigstelle bestand jetzt gerade einmal etwas über sechs Monate und - so wie Ron es nachgelesen hatte - wurde anfänglich von einem äußerst talentierten Chefredakteur geleitet. Der Mann war allerdings bei einem Kletterunfall ums Leben gekommen und seitdem ging es ständig bergab mit der Redaktion.

Ron nahm einen tiefen Schluck Kaffee und musste zugeben, dass Maike eines wirklich konnte: Kaffeekochen.

„Hier steckst du!“ Die Blonde war unbemerkt hinter ihn getreten. Jetzt roch er ihr Parfum, das aufdringlich süß zu ihm herüberwehte. Ron drehte sich um und trat gleichzeitig einen Schritt zurück.

„Der Alte hat seinen Kaffee und ich könnte dir jetzt eigentlich deinen Arbeitsplatz zeigen“, meinte sie und hob ihren Kaffeebecher und trank einen Schluck. Auf dem Becherrand blieben kleine halbrunde Lippenstiftabdrücke zurück.

„Wo sind eigentlich die anderen?“, wollte Ron wissen. „Alle außer Haus tätig?“

Maike lachte leise: „So ähnlich. Dirk und der Inder sind wegen einer Story im Bundestag. Irgend so eine Korruptionssache. Aber frag‘ mich nicht, davon habe ich keine Ahnung. Egon ist krank. Magen Darm Grippe oder so. Der ist mit Sicherheit zu Hause. Wir stehen übrigens vor seinem Arbeitsplatz.“

Ron kannte die Namen von den Unterlagen her. Dirk Meizel, neunundvierzig Jahre, Zinad Changa, ein sechsundfünfzigjähriger Mann aus Indien, der aber schon ewig in Deutschland lebte und die deutsche Sprache in Wort und Schrift perfekt beherrschte. Und der sechzigjährige Egon Müller, der einen ungewöhnlich hohen Krankenstand aufwies. Insgesamt eine ziemlich alte Truppe. Aber die Jüngeren hatten ja das Weite gesucht …

Maike zog ihn am Arm fort. „Da vorne, das ist dein Arbeitsplatz. Der Schreibtisch ist leer und falls von dem letzten Onlineredakteur noch etwas darin sein sollte, behalte es oder wirf es fort. Ansonsten kannst du dich hier nahezu so einrichten, wie du möchtest. Aber übertreibe es nicht mit der Gemütlichkeit, denn der Chef hat ein Auge auf so etwas. Also keine Blumen oder Kerzen - oder so.“ Maike kicherte leise vor sich hin. Dann schob sie Ron einen einfachen Drehstuhl hin. Sie selbst hockte sich halb auf den Schreibtisch, wobei ihr ohnehin kurzes Kleid noch ein wenig höher rutsche. Ron sah geflissentlich weg.

„Die Computer hängen alle an einem System. Du loggst dich mit deinem Na...“

Ron unterbrach sie: „Ich kenne das System. Wir benutzen schließlich die gleiche Hard- und Software in Amerika, auch wenn in englischer Sprache. Wie du weißt - oder wissen solltest - sind die Systeme alle mit der Zentrale in New York verknüpft.“

Maike produzierte wieder einen Schmollmund: „Okay, dann brauche ich dir ja nichts darüber zu erzählen. Du schreibst die Artikel und stellst sie mit entsprechenden Bildern ins Netz. Die Themen gibt uns der Chef vor, schließlich ist er der Chef. Unter der Rubrik ‚Aufgaben‘ findest du eine Auswahl über die Artikel, die du schreiben sollst. Und wenn du Fragen hast, dann wende dich getrost an mich.“

Maike glitt langsam vom Schreibtisch, ging zwei Schritte in den Raum und drehte sich dann noch einmal um: „Und? Was ist mit heute Abend? Noch einmal wiederhole ich mein Angebot nicht.“

Ron schüttelte den Kopf: „Ich arbeite mich hier ein und danach suche ich mir eine Bleibe. Heute läuft bei mir nichts mehr, dazu bin ich zu müde. Ein andermal vielleicht ...“

Nachdem Maike davongerauscht war, machte er sich direkt an die Arbeit. Schon von New York aus hatte er sich ein wenig mit dem Stil und Inhalt der hiesigen Online Ausgabe vertraut gemacht und als erstes waren ihm die gravierenden Rechtschreibfehler ins Auge gefallen. Die Erklärung fand er hier, denn wenn eine Praktikantin die Artikel schrieb, so war die Fehlerquote wenig verwunderlich. Trotz bestmöglicher Rechtschreibprüfung schien das Verfassen von Artikeln nicht wirklich Maikes Ding zu sein.

Ronald sah in dem angegebenen Ordner für die Aufträge nach und stellte fest, dass nach seinem letzten Besuch auf dieser Seite zahlreiche neue Aufgaben hinzugekommen waren. An Ideen für seine Onlineredaktion schien es dem Chefredakteur nicht zu mangeln. Zahlreiche Themen beschäftigten sich mit dem aktuellen Tagesgeschehen und konnten von den Kollegen gekürzt aus der Tagespresse übernommen werden. Für andere Artikel, gerade die, die das lokale Geschehen repräsentieren sollten, würde er selbst vor Ort recherchieren müssen. Zunächst aber musste die Onlineausgabe einmal auf den aktuellen Stand gebracht werden.

Da sein Kaffeebecher mittlerweile ohnehin leer getrunken war, schlenderte Ron zur Kaffeeküche, in der er auch prompt Maike antraf. Die blätterte in einer Frauenzeitschrift und schien lediglich die Kaffeemaschine zu bewachen. Als er den Raum betrat, sah sie ihm fragend entgegen.

„Ich brauche die aktuelle Ausgabe der heutigen Zeitung, sowie die von gestern. Außerdem benötige ich einen Schreibblock und verschiedene Stifte. Möglichst in schwarz, blau und rot. Wärst du so gut und würdest du mir das besorgen?“

Maike nickte: „Sicher. Aber wofür einen Block und Stifte? Wir arbeiten hier alle online und direkt am Computer. Schreibt man in der Zentrale noch von Hand?“ Sie lachte kichernd, machte sich aber auf den Weg, die gewünschten Dinge zu holen. Ron bediente sich inzwischen an der Kaffeemaschine und wollte gerade zu seinem Arbeitsplatz zurückkehren, als Fellger durch die Türe trat.

„Hier stecken sie!“, donnerte er auch gleich los. „Ich habe sie schon gesucht. An ihrem Arbeitsplatz sind sie ja nicht ...“

Ron blickte dem Mann entgegen, wusste allerdings nicht, was er erwidern sollte. Nein, an seinem Arbeitsplatz war er gerade nicht. „Jetzt haben sie mich ja gefunden. Worum geht es denn, Herr Fellger?“

Der Chefredakteur blickte auf den Becher in Rons Hand, dann bemerkte er: „Na, unser Kaffee scheint ihnen ja zu schmecken ... Haben sie schon Ergebnisse vorzuweisen? Die Onlineausgabe muss dringendst aktualisiert werden. Und sie stehen hier herum und trinken Kaffee.“

Ron nickte: „Ist in Arbeit. Ich habe Fräulein Rienatz gerade gebeten, mir die aktuelle Ausgabe der Tageszeitung zu besorgen.“

„Genau, wo ist die Rienatz eigentlich? Und sie sollten zusehen, dass sie an ihren Arbeitsplatz kommen und endlich anfangen zu arbeiten!“

In diesem Moment betrat Maike die kleine Küche. „Die Sachen liegen auf deinem Schreibtisch. Ah, Herr Chefredakteur? Wollen sie noch einen Kaffee?“

Fellger betrachtete die schlanke Blonde wohlwollend. „Danke, das ist sehr nett. Aber nein danke. Ich wollte sie auch nur darüber informieren, dass ich jetzt zu Tisch bin. Sie übernehmen hier kommissarisch die Leitung, bis ich wieder da bin.“

Ronald warf einen unauffälligen Blick zu der über der Tür hängenden Wanduhr. Elf Uhr dreißig. Nun, der Mann begann ja recht früh seine Mittagspause. Aber der Chefredakteur war schon wieder fort. Maike hob in gespielter Theatralik die Arme: „So geht das hier immer. Jetzt kann ich den ganzen Laden wieder alleine schmeißen. Aber ich bin doch nur die Praktikantin und ...“

Ron ließ sie nicht ausreden: „Keine Sorge. Ich bin ja jetzt hier. Wenn also etwas sein sollte, so kannst du dich ruhig an mich wenden.“

Zurück an seinem Arbeitsplatz vertiefte der neue Onlineredakteur sich direkt in die aktuelle Zeitung. Es würde nicht lange dauern, die Berichte zu aktualisieren. Eine Aufgabe, die die Praktikantin schon längst hätte erledigen können. Den Nachmittag würde er dann dazu benutzen, die ersten von Fellger auferlegten Themen durchzuarbeiten.

„Soll ich dir etwas mitbringen?“ Maike riss ihn aus seinen Gedanken. Ron wusste zunächst nicht, was das Mädchen meinte und sah sie nur fragend an.

„Na, etwas zu essen“, erklärte sie dann auch ein wenig unwirsch, so als wäre es selbstverständlich, dass er wissen müsste, was ihre Frage zu bedeuten habe. „Ich gehe zum Chinesen um die Ecke. Wenn du auch etwas möchtest ...“

Ron nickte: „Okay, bring‘ mir irgendetwas mit.“ Ein gewisser Hunger machte sich jetzt bemerkbar, die letzte karge Mahlzeit hatte er im Flugzeug zu sich genommen.

„Und was?“ Maike hielt ihm eine Liste hin. „Such‘ dir etwas aus.“

Ron warf einen Blick auf die Liste und wählte irgendetwas mit Nudeln. Im Grunde war es ihm völlig egal, was er essen würde. Maike nickte und sah ihn abwartend an.

„Noch etwas?“ Ron wusste nicht, was die Blonde jetzt noch von ihm wollte.

„Geld, ich brauche Geld. Zwölf Euro fünfzig.“ Sie tippte auf die Liste. „Das Gericht kostet zwölf fünfzig!“

Ronald kramte in seiner Geldbörse und brachte drei fünf Dollarnoten zum Vorschein. „Ich habe leider noch keine Euro, geht das hier auch?“

Maike schüttelte den Kopf: „Nee, die nimmt hier keiner. Die müssen erst gewechselt werden. Aber die Banken haben jetzt zu. Also, ohne Euro läuft hier nichts.“

„Kannst du mir das Geld vorstrecken, ich zahle es dir dann morgen zurück.“

Die Praktikantin sah Ron abschätzend an: „Ungern. Aber ausnahmsweise einmal. Du musst es mir aber morgen ganz bestimmt zurückzahlen! Nicht, dass du das dann vergisst.“

Ron widmete sich wieder seiner Aufgabe. In der Mittagspause würde er anhand eines Stadtplans eine günstige, in der Nähe gelegene Pension und eine Bank ausfindig machen. Jetzt bereute er, diese Dinge nicht schon von Amerika aus geklärt zu haben. Aber ehrlich gesagt hatte er auch nicht damit gerechnet, hier direkt so eingespannt zu werden. Vielleicht ließ Fellger ihn ja ein wenig früher gehen, so dass er noch etwas erledigen konnte.

Die Blonde kam erst fünfundvierzig Minuten später zurück. Entweder befand sich der Chinese doch weiter entfernt als gedacht, oder sie legte die Pausenzeiten sehr großzügig aus. Dafür waren die Nudeln lieblos in eine Pappschachtel gequetscht und ziemlich kalt. Ron nahm sich vor, zukünftig auf dieses chinesische Essen zu verzichten.

Seine Arbeit dagegen zeigte deutliche Fortschritte. Auch hatte er inzwischen ein Zimmer in einer kleinen Pension bekommen können. Und das noch nicht einmal sehr weit von der Redaktion entfernt. Es befand sich sogar eine Bank auf dem Weg zu seiner neuen Unterkunft, so dass er sich ebenfalls mit Bargeld würde versorgen können.

Den Rest der kalten Nudeln entsorgte er schließlich im Papierkorb. Dann wandte er sich den Aufgaben zu, die eigene Recherchen erforderten. Hierbei handelte es sich ausschließlich um lokale Ereignisse. Ein Fußballspiel irgendeiner unbekannten Mannschaft gegen einen ebenso wenig bekannten Gegner, die Eröffnung einer Ausstellung impressionistischer Bilder eines Berliner Künstlers, das Konzert einer Laienmusikergruppe oder irgendein Straßenfest. Der interessanteste Termin schien noch die Gerichtsverhandlung gegen einen Einbrecher zu sein. Ron notierte sich die Daten. Es würde genügen, bei allen Veranstaltungen jeweils kurz anwesend zu sein und ansonsten den Rest seiner Phantasie zu überlassen. Er seufzte. Sicher: Er hatte nicht erwartet, besonders anspruchsvolle oder interessante Themen vorzufinden. Das würde hier kaum anders sein, als in New York. Aber Ron wusste auch, dass es die spontanen und plötzlich geschehenden Dinge waren, die seinen Beruf erst interessant machten. Ein Überfall, ein Unfall oder einfach die selbstlose und aufopfernde Hilfsleistung eines Menschen. Dinge, über die es sich zu berichten lohnte. Wie in New York würde es auch hier in Berlin an diesen Vorfällen kaum mangeln.

Wider Erwarten zeigte sich Fellger großzügig und gab ihm den Rest des Nachmittags frei. Ron wollte dem Chefredakteur noch seine Ergebnisse und die Aktualisierung der Onlineseite präsentieren, doch der winkte lediglich ab. Dabei gab er sich alle Mühe, seine Rotweinfahne zu verbergen.

Ronald lernte seine neuen Kollegen am nächsten Morgen kennen, auch wenn der kranke Egon Müller noch fehlte. Die Begrüßung fiel freundlich aus, man konnte merken, dass die beiden froh waren, Verstärkung zu bekommen. „Ronald Nayst“, stellte er sich vor.

„Dirk Meizel, du kannst Dirk zu mir sagen.“

„Zinad Changa, für dich Zinad.“

Sie schüttelten sich die Hände. „Okay“, grinste Ronald, „für euch Ronald oder besser Ron. So nennen mich meine Freunde.“ Sie unterhielten sich noch eine Weile und Ron beschloss, dass die beiden eindeutig zum netten Teil der Belegschaft gehörten.

Die kleine Pension, die er sich tags zuvor ausgesucht hatte, erwies sich als Glücksgriff. Es handelte sich um ein Stadthaus, gerade einmal vier Straßen von der Redaktion entfernt und zu Fuß gut zu erreichen. Eine ältere, sehr freundliche Dame, wies ihm ein großzügiges Zimmer im ersten Stock zum Hof hinaus zu. Dabei betonte sie mehrere Male, dass es sich um das schönste und ruhigste Zimmer handele. Ron war zufrieden. Der Raum war hell, modern möbliert und sehr gepflegt. Es stand ihm ein Fernseher zur Verfügung und das Haus verfügte sogar über einen Internetzugang. Selbst ein kleiner Safe befand sich ein wenig versteckt in einem der Schränke. Ron würde eine eigene Zahlenkombination einstellen können, müsste aber beim Auszug diese wieder löschen. Und ein umfangreiches Frühstücksbuffet würde er morgens in dem kleinen Gemeinschaftsraum vorfinden. Er verstand sich mit der kleinen, älteren Frau auf Anhieb prächtig.

Am nächsten Tag klopfte Ron, kurz bevor der Chefredakteur wieder in seine verfrühte Mittagspause verschwand, an dessen Bürotür. Nach einem unwirschen ‚Herein‘ betrat er den Raum.

„Herr Nayst, was kann ich für sie tun?“

„Es geht um meine Termine. Ich habe mir die Themenvorgaben angesehen und ich mü...“

Fellger unterbrach ihn: „Völlig freie Hand, mein Lieber. Sie haben völlig freie Hand. Und arbeiten sie selber einmal weitere Themen aus. Am besten sie schauen einmal in die lokale Presse, was hier so los ist.“ Fellger lachte leise. „Ich kann ihnen zwar hin und wieder Themen vorgeben, aber sie sind ja ein großer Junge ...“ Wieder lachte er. Dann sah er Ron fragend an: „Oder ist sonst noch etwas?“

Ron schüttelte den Kopf: „Nein, nein. Ich wollte lediglich die Termine mit ihnen durchsprechen.“

„Freie Hand. Machen sie ihre Arbeit und so lange alles flutscht ...“ Auch diesen Satz ließ der Chefredakteur unbeendet. Ron stellte sich vor, dass der Mann seine Artikel ebenfalls unbeendet lassen würde. Aber da hatte Fellger ihn schon wieder hinauskomplimentiert.

‚Auch gut‘, dachte Ron. ‚Völlig freie Hand‘. Aber was war mit den Redaktionssitzungen? Er wusste, dass die Kollegen gestern am späten Nachmittag noch die heutige Ausgabe besprochen hatten. Musste er als Onlineredakteur nicht daran teilnehmen? Bisher war das bei allen Zeitungen, bei denen er gearbeitet hatte, der Fall gewesen. Ron schüttelte den Kopf und nahm sich vor, Fellger beim nächsten Mal darauf anzusprechen.

Doch zunächst wartete ein Berg Arbeit auf ihn. Der erste Termin auf seiner Liste war die Vernissage eines unbekannten Berliner Künstlers. Der Veranstalter hatte im Vorfeld alle ihm bekannten Pressestellen informiert und es auch nicht versäumt, Funk und Fernsehen auf das bevorstehende Ereignis hinzuweisen. Ron traf genau zu Beginn der Veranstaltung, die in einer kleinen Galerie in einer Berliner Seitenstraße stattfand, ein. Gerade einmal ein Dutzend Leute scharrten sich um einen Tapeziertisch, der mit einer weißen Decke als Getränkebuffet diente. Auf dem Tisch standen halbvolle Sektkelche aus Plastik. Der Redakteur sah sich um. Es hatte nicht den Anschein, als wären irgendwelche Kollegen anderer Zeitungshäuser anwesend. Auch vom Radio oder Fernsehen schien niemand anwesend zu sein.

Eine Frau mittleren Alters, die sich als Veranstalterin zu erkennen gab, hielt eine kurze Rede, in der sie immer wieder das herausragende Talent des Künstlers hervorhob. Dann nötigte sie ein kleines, dürres Männchen zu sich, das sich als der Künstler vorstellte. Mit piepsiger Stimme wiederholte der einige Worte seiner Vorrednerin und fügte anschließend hinzu, dass alle Bilder zum Verkauf freistünden. „Ich freue mich, dass ihr so zahlreich erschienen seid“, piepste er und hob sein Plastikglas. „Das Buffet ist eröffnet. Und - ach ja“, er sah Ronald mit einem treuherzigen Dackelblick an, „ich danke auch der Presse für ihre Anwesenheit. Prost!“

Die Gäste, die dem Vortrag nur mit einem halben Ohr zugehört hatten, wurden beim letzten Wort aufmerksam, hoben ebenfalls die Gläser und schütteten den Sekt in sich hinein. Ronald schoss derweil mit einer kleinen Digitalkamera mehrere Fotos. Schon kam die ältere Dame mit dem Künstler im Schlepptau zu ihm. „Sie sind von der Presse“, stellte sie unnötigerweise fest. Ron nickte nur.

„Das ist der Künstler, Hermann Dööppel. Doppel Ö und doppel P. Dass sie mir den Namen ja auch richtig schreiben! Dööppel. Und nun zu ihren Fragen, der Künstler wird ihnen alles gerne beantworten.“

Ron stellte einige Standardfragen, ließ sich ein Glas unheimlich klebrig schmeckenden Sekt aufdrängen und fotografierte noch einmal den Künstler mit seiner Veranstalterin. Dann schoss er noch einige Fotos der ausgehängten Bilder. Endlich stand er wieder draußen auf der kleinen Straße. Nun, bei allem Zynismus, den er in seinen Artikeln sonst an den Tag legen konnte - über dieses arme Würstchen von Künstler würde er doch eher positiv berichten. Das nahm er sich vor. Und wenn nicht positiv, so doch wenigstens neutral. Der Mann war ja nicht unsympathisch gewesen.

Die Tage vergingen wie im Flug, Ron war mit seiner Aufgabe sehr gut beschäftigt, zumal Maike sich wohl ausschließlich der Kaffeezubereitung zu widmen schien. Aber die Gestaltung der Onlineseite kam gut voran. Es würde bald Zeit werden, mit Fellger über einen zweiten Onlineredakteur zu sprechen, der nach Rons Rückkehr in die Staaten den Job hier übernehmen könnte. Doch noch war keine Eile geboten.

Der nächste Auswärtstermin galt dem ominösen Fußballspiel. Dies sollte an einem Samstagnachmittag stattfinden. Ron machte sich nicht viel aus Fußball und traf erst kurz vor dem Schluss des Spieles ein. Zwei Mannschaften, die eine in roten Trikots, die andere in blauen, kämpften auf einem Ascheplatz, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, gegeneinander.

Ron traf genau in dem Moment ein, als der Schiedsrichter gellend seine Pfeife ertönen ließ und einem blauen Spieler die rote Karte zeigte. Der trat daraufhin zu dem Unparteiischen und schickte ihn mit einem gekonnten Kinnhaken zu Boden. Ron konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Hier würde es wenigstens etwas zu berichten geben.

Aber die Schlacht setzte sich weiter fort. Jetzt gingen rote und blaue Spieler aufeinander los, der Ball war vergessen und die Männer prügelten nur noch aufeinander ein. Der Schiedsrichter kroch auf allen Vieren vom Platz und Ron schoss einige Bilder. Auf diesen Bericht freute er sich schon!

Genau zehn Tage, nachdem Ronald Nayst zum ersten Mal seinen Fuß in die Berliner Filiale der New York News Paper gesetzt hatte, fand die Gerichtsverhandlung gegen den Einbrecher statt. Ron hatte versucht, etwas über diesen Einbruch in Erfahrung zu bringen, fand aber lediglich eine kleine Zeitungsnotiz, die von einem Hauseinbruch sprach. Gestohlen wurden laut Polizeibericht eine Münzsammlung, sowie Schmuck. Beides konnte aber direkt sichergestellt werden, da die Polizei glücklicherweise rechtzeitig am Tatort erschien. Der Täter war polizeibekannt und kein unbeschriebenes Blatt.

Ron las sich noch einmal die karge Meldung durch. Offensichtlich hielten weder die Staatsanwaltschaft, noch die Presse diesen Fall für besonders erwähnenswert. Er schaute auf die Uhr. Die Gerichtsverhandlung begann um elf. Ihm blieb noch genügend Zeit, um pünktlich mit der U-Bahn dort einzutreffen. Die Station befand sich nicht weit von seiner Unterkunft entfernt und er beschloss, die kurze Strecke zu Fuß zu gehen. Bis zum Amtsgericht Berlin Mitte würde er vielleicht gerade einmal fünfzehn Minuten mit der Bahn brauchen.

Im Gerichtssaal herrschte gähnende Leere. Ein Beamter verlangte sein Handy und klärte ihn darüber auf, dass das Fotografieren während der Verhandlung strengstens verboten sei. Dann zeigte er ihm den Weg zum Verhandlungsraum.

Als Ron eintrat, fand er zu seiner Linken Richter, Anwälte und Angeklagten und zu seiner Rechten mehrere Stuhlreihen. Der Richter und ein Anwalt tuschelten leise miteinander und blickten nur kurz auf, als er den Raum betrat. Ein Gerichtsdiener schloss derweil die Tür und postierte sich davor. Ein deutliches Zeichen, dass Ron keine Minute zu früh gekommen war und die Verhandlung nun beginnen würde. Der Anwalt nahm seinen Platz neben dem Angeklagten ein und rückte seine Akten zurecht.

Ron besah sich den Einbrecher. Aus den wenigen Informationen, die zugänglich waren, wusste er, dass der Mann Oliver Inat hieß, zweiundvierzig Jahre alt und vorbestraft war. Der ein Meter achtundsechzig große Mann wirkte durchtrainiert, verfügte über eine schlanke Figur und volle, dunkle Haare. Ron befand, dass der Knabe nicht einmal unsympathisch aussah.

Inat rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum und blickte immer wieder sorgenvoll zu seinem Anwalt.

„Ich erkläre die Verhandlung für eröffnet“, begann der Richter und fügte direkt eine Auflistung der Vergehen des Angeklagten hinzu. Demnach wurden dem Mann Einbruch, Diebstahl und Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworfen. Da Inat schon einschlägig vorbestraft war, würde er diesmal kaum mit einem blauen Auge davonkommen.

Ron langweilte sich. Dies war ein null - acht - fünfzehn Prozess, über den es sich kaum lohnte zu berichten. Zwei, maximal drei Zeilen. Wie es schien, stand auch das Strafmaß schon fest, vermutlich im Vorfeld zwischen Anwalt und Richter ausgehandelt. Ron kramte seinen Schreibblock hervor und begann einen Abriss der Szene aufzuzeichnen. Er hatte in New York während des Studiums einen Zeichenkurs belegt und war ein leidlicher Zeichner. Kein großer Künstler aber für den Alltagsgebrauch reichte es. Vielleicht ließ sich die Zeichnung ja später in den Computer einscannen und zum Bericht Online stellen. Das würde bestimmt mehr hermachen, als die zwei oder drei Zeilen zur Urteilsverkündung.

Die Gerichtsverhandlung endete schon nach fünfzehn Minuten mit einem Schuldspruch. „Ich verurteile sie wegen schweren Einbruchs, Diebstahl und Widerstand gegen die Staatsgewalt zu drei Jahren und acht Monaten Haft“, verkündete der Richter, nachdem sich alle im Saal erhoben hatten. „Sie können gegen das Urteil Berufung einlegen.“

Oliver Inat sah zunächst den Richter an, dann seinen Anwalt. Plötzlich hob er die Hände wie in wilder Verzweiflung gegen den Himmel. „Herr Richter“, drang es aus ihm und im Saal herrschte Totenstille. „Ich bin dort eingebrochen, ja das gebe ich zu. Aber ich habe keine Münzen oder Schmuck gestohlen! Und ich habe mich auch nicht gegen die Polizei gewehrt. Es ging ja alles so schnell und dann war da ja noch der tote Mann im Arbeitszimmer!“

Ron bemerkte, wie der Richter und die Anwälte sich erschrocken anblickten. Dann nickte der Richter dem Polizisten an der Tür zu, der auch sofort zu Inat hin stürmte, ihm die Arme auf den Rücken drehte und mit Handschellen fesselte. Rasch zerrte er den Verurteilten zur Türe. Bevor die beiden den Saal aber verlassen konnten, schrie Inat noch einmal: „Ich weiß doch, was ich gesehen habe. Der Mann war tot, durch den Kopf geschossen!“ Brutal stieß der Polizist den Einbrecher auf den Gang.

„Ruhe bitte, Ruhe bitte“, ließ sich der Richter vernehmen. „Der Angeklagte redet wirr, die gerechte Verurteilung wird ihm einen Schock versetzt haben. Bitte streichen sie sein Verhalten aus ihrem Gedächtnis, es hat keinerlei Bewandtnis.“ Dann blickte er auf Ron und wiederholte: „Die letzte Aussage des Verurteilten hat es nie gegeben! Bitte nehmen sie das zur Kenntnis. Die Verhandlung ist beendet.“

Ron steckte an der Pforte sein Handy in Gedanken versunken zurück in die Jackentasche. Die unerwartete Wendung und das eben Gesehene ließen ihn grübeln. Während der ganzen Fahrt zurück zur Redaktion dachte er über die Reaktion des Angeklagten nach. Oliver Inat wurde doch nicht zum ersten Mal verurteilt. Der Mann war in dieser Beziehung eher ein alter Hase. Aber dann diese Reaktion? Und wieso ein Toter? Welchen Grund sollte es geben, so etwas zu erwähnen? Wollte der Einbrecher nur von seiner Tat ablenken? Ron schüttelte in Gedanken den Kopf. Das machte keinen Sinn. Hätte es einen Toten gegeben, dann würde davon auch etwas im Polizeibericht stehen. Und Inat wäre am Ende vielleicht wegen Mordes angeklagt worden. War Inat drogensüchtig und redete deswegen wirr? Ron schüttelte erneut den Kopf. Nein, es machte wirklich keinen Sinn. Inat musste dummes Zeug geschwafelt haben.

Der Bericht über die Verurteilung fiel wie erwartet dementsprechend kurz aus. Ron konnte seine Zeichnung wirklich noch unterbringen und war mit seinem Werk recht zufrieden. Allerdings bedauerte er die verlorene Zeit, denn ein kurzer Anruf im Gericht hätte auch genügt. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit solch einer Verhandlung nicht mehr beizuwohnen.

Maike, die Praktikantin, hatte aufgegeben ihm nachzustellen. Entweder erwartete sie, dass er von sich aus auf sie zukäme, oder sie war einfach nur sauer, dass er nicht schon am ersten Tag auf ihr Angebot eingegangen war. Sie beschäftigte sich jetzt ausnahmslos mit dem Brühen von Kaffee und zeigte auch keinerlei Interesse an sonstiger redaktioneller Tätigkeit. Ron war es so ganz recht, jedoch fragte er sich, warum das Mädchen überhaupt ein Praktikum hier absolvierte. Im Grunde blockierte sie ja doch nur den Platz, den eine mehr engagierte junge Person viel besser gebrauchen konnte. Aber das war schließlich Sache des Chefredakteurs. Trotzdem müsste er über den einmal dringend mit seinem Vater sprechen ...

Fellger ließ es sich am Freitagnachmittag nicht nehmen, sie mit einigen Worten bezüglich der bevorstehenden Pfingstfeiertage in das Wochenende zu schicken. Das waren neue Töne, die Ron von dem Mann noch gar nicht kannte. Doch seine Meinung änderte sich, als der Chefredakteur einen Freiwilligen für den Dienst am Montag suchte und seine Wahl natürlich auf Ron fiel. „Die Onlineausgabe muss auf jeden Fall raus. Ob Feiertag oder nicht“, schwadronierte Fellger und legte Ron die Hand auf die Schulter. „Es macht ihnen doch bestimmt nichts aus, hier am Montag die Stellung zu halten?“

Ronald Nayst erschien am Montag erst gegen zehn Uhr in der Redaktion. Es spielte ja ohnehin keine Rolle, denn die wenigen Onlineartikel waren schnell verfasst. Gestern hatte eine Besichtigung Berlins auf seinem Plan gestanden und wie ein jeder Tourist hakte er eine Sehenswürdigkeit nach der anderen ab. Ron war zuvor noch nicht in Berlin gewesen, hatte aber viel darüber gelesen. Insbesondere die Teilung der Stadt interessierte ihn und er studierte die wenigen übriggebliebenen Hinweise auf die Grenze und die ehemalige DDR. Er ließ es sich sogar nicht nehmen, an einer geführten Städtetour teilzunehmen. Da das Wetter recht gut war, genoss er den Tag.

Aber merkwürdigerweise ging ihm die Gerichtsverhandlung um den Einbrecher Oliver Inat nicht mehr aus dem Kopf. Warum hatte der von einem Toten gesprochen? War der Mann wirklich verwirrt, so wie es der Richter bemerkte? Warum leugnete der Einbrecher den Diebstahl von Münzen und Schmuck? Dann schlug Ron sich vor den Kopf: Wo war Inat überhaupt eingebrochen? Nirgendwo fand sich ein Hinweis darauf. Ron nahm sich noch einmal sämtliche Unterlagen vor. Nichts. ‚Einbruch in ein Einfamilienhaus‘. Aber wo? Keine Adresse, kein Hinweis auf einen Ortsteil, einfach nichts. Ob in dem Gerichtsurteil etwas zu finden sein würde? Ron nahm sich vor, gleich morgen beim Amtsgericht anzurufen. Es müsste doch möglich sein, eine Abschrift des Urteils zu erhalten.

Schließlich recherchierte er im Internet. ‚Einbruch in ein Einfamilienhaus‘, ‚Oliver Inat‘, ‚Schmuckdiebstahl‘, ‚Münzendiebstahl‘ - alle diese Suchbegriffe brachten kein zufriedenstellendes Ergebnis. Dann suchte er nach Getöteten in dem in Frage kommenden Zeitraum. Aber auch dort fielen die Ergebnisse nicht zufriedenstellend aus. Ron notierte sich die Namen der Redakteure, die bei den verschiedenen Zeitungen die Meldung über den Einbruch verfasst hatten.

Am späten Nachmittag und beim fünften Becher Kaffee - der zugegebenermaßen nicht annähernd so gut schmeckte, wie der von Maike aufgebrühte - fasste er den Entschluss, den Menschen zu befragen, der ihm bestmöglich Auskunft würde geben können: Oliver Inat selbst. Er hoffte nur, dass er im Gefängnis eine Besuchserlaubnis erhalten würde.

Am nächsten Morgen befand sich Ron schon vor allen anderen in der Redaktion, was ihm später einige fragende Blicke einbrachte. Jetzt lernte er auch endlich den Kollegen Egon Müller, einen unscheinbaren Sechzigjährigen, kennen. Müller war Ron nicht unsympathisch, gab ihm die schlaffe Hand und schlurfte schließlich an seinen Arbeitsplatz. Maike, die wie immer sehr spät erschien, versorgte nach einiger Zeit alle mit Kaffee.

Kurz nach neun Uhr rief er beim Amtsgericht an. Einerseits hoffte Ron darauf, eine Abschrift des Urteils zu erhalten, andererseits versuchte er in Erfahrung zu bringen, in welche Haftanstalt Inat verlegt worden war. Beides erwies sich als schwierig. Man verwies ihn immer wieder an andere Stellen, niemand schien so richtig zuständig zu sein. Und jedes Mal musste er sein Anliegen erneut hervorbringen. Ron war kurz davor aufzugeben, als er mit einer jungen Frau verbunden wurde.

„Amtsgericht Berlin Mitte. Sie sprechen mit Vera Hagerl, was kann ich für sie tun?“

Ron atmete hörbar auf: „Mein Name ist Ronald C. Nayst. Ich arbeite für die Berliner Filiale des New York News Papers. Es geht um die Gerichtsverhandlung gegen den Einbrecher Oliver Inat, die am Ersten stattfand. Können sie mir gegebenenfalls weiterhelfen?“

Es folgte ein kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Was kann ich denn für sie tun? Ich habe zwar mit den Strafsachen nichts zu tun, aber ich könnte ja einmal im Computer nachsehen.“

Ron schickte ein kurzes Dankesgebet gen Himmel. Endlich einmal jemand, der ihn nicht direkt abwimmelte. „Es geht um diesen Oliver Inat. Wäre es möglich, eine Abschrift des Urteils und der zugehörigen Papiere zu bekommen und zu erfahren, in welche Haftanstalt Inat gebracht wurde?“

Erneut folgte ein kurzes Schweigen und Ron konnte das leise Klappern einer Tastatur vernehmen. Dann seufzte die Dame am anderen Ende der Leitung hörbar auf. „Es tut mir Leid, aber eine Abschrift kann ich ihnen nicht zukommen lassen. Da müssen sie sich direkt an den Richter wenden und ein berechtigtes Interesse nachweisen. Auch über die Haftanstalt, in der Herr Inat einsaß, darf ich keine Auskunft geben.“

„Einsaß?“ Ron meinte nicht richtig gehört zu haben. „Wurde Inat denn verlegt? Und wo befindet er sich jetzt?“

„Darüber darf ich keine Auskunft geben, da müssen sie sich ebenfalls an den zuständigen Richter wenden.“ Dann hustete die Frau leise und murmelte: „Sagt ihnen RIP irgendetwas?“

Ron nickte. RIP - Rest in Peace. Ruhe in Frieden. Aber was sollte das bedeuten? War Inat plötzlich verstorben?

Wieder meldete die Frau sich zu Wort: „Ich darf jetzt nicht mehr sagen. Aber ich bin hungrig und würde mich über eine Einladung zum Abendessen freuen ...“

Ron verstand. Die Frau schien vor irgendetwas oder vor irgendjemandem Angst zu haben. Und die Möglichkeit, dass ihr Gespräch mitgehört wurde, bestand immer. Sie räusperte sich vernehmlich und sagte leise, so dass er sie kaum verstehen konnte: „Ich schaue um zwanzig Uhr immer Fernsehen und sitze gemütlich auf meinem Kissenturm.“

Nach diesen Worten legte sie hastig auf.

Ron hielt den Hörer in der Hand und überlegte noch einmal beim Amtsgericht anzurufen und sich mit der Frau verbinden zu lassen. Dann verwarf er den Gedanken und zog seinen Schreibblock zu sich heran. ‚Vera Hagerl‘ notierte er auf dem jungfräulichen Blatt und darunter: ‚Möchte zum Essen eingeladen werden‘. Soweit war es ja noch ganz verständlich. Der Sinn dessen, was er dann aber darunter schrieb, blieb ihm allerdings verborgen: ‚Schaut um zwanzig Uhr Fernsehen und sitzt auf einem Kissenturm‘. Ziemlich blöde. Wen interessierte denn, wann und wie die Frau Fernsehen schaute. Außerdem: Um zwanzig Uhr wurden hier in Deutschland die Nachrichten ausgestrahlt. Sollte dies ein Hinweis sein?

Ron wurde unsanft aus seinen Gedanken gerissen, als sich zwei Hände auf seine Schultern legten. Die Stimme des Chefredakteurs erklang direkt neben seinem Ohr: „Na mein Lieber? Back to the Roots, wie ich sehe. Sie kehren zu Papier und Stift zurück?“ Fellger lachte leise, wobei Ron etwas Feuchtes an seinem Ohr spürte.

„Oder planen sie jetzt schon ihren Feierabend? Wie heißt ihre neue Flamme? Vera? Aha. Mit Vera heute Abend schon auf Kissen kuscheln und fernsehen. Aber bitte, bitte lieber junger Sohn des Bosses aus Amerika: Kümmern sie sich jetzt um ihre Arbeit. Der Artikel über die Verurteilung des Einbrechers war ja mehr als dürftig und auf ihr merkwürdiges Krickelkrakel, was sie für eine Zeichnung halten, wollen wir in Zukunft auch verzichten. So etwas mögen unsere guten deutschen Leser nicht!“

Fellger drückte noch einmal aufmunternd beide Schultern Rons und wandte sich dann ab.

Der Onlinejournalist aber hätte seinem Chef in diesem Moment die Hände küssen können. Das war es! Vera Hagerl hatte ihm eine versteckte Botschaft zukommen lassen. Zwanzig Uhr, gut die Zeit war nicht verschlüsselt. Aber ‚Fernsehen‘ und ‚Kissenturm‘ machten dann einen Sinn, wenn die Silben zusammengefügt und daraus ‚Fernsehturm‘ würde. Und sie wollte sich zum Essen einladen lassen. Also war vermutlich das Restaurant im Fernsehturm gemeint. Aber war diese Schlussfolgerung auch logisch und korrekt?

‚Viel kann ja nicht passieren‘, dachte Ron. ‚Sollte sie nicht erscheinen, so genieße ich wenigstens ein schönes Abendessen, wenn auch alleine.‘ Minuten später reservierte er einen Tisch für zwei Personen im Restaurant ‚Spehre‘, zweihundertsieben Meter über der Stadt. Man sagte ihm sogar einen Platz am Fenster zu. Ob die Frau wirklich kommen würde?

Den Tag verbrachte er schließlich mit Routinearbeiten. Sein nächster Termin wäre am Samstag der Auftritt der Laienmusikergruppe und Ron recherchierte im Internet, ob er etwas darüber in Erfahrung bringen könnte. Die Informationen waren eher mager, würden aber den Grundstock für einen kurzen Artikel bilden können.

Die Servator Verschwörung

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