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IV. Das Geheimnis der Karte

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Obwohl Ron die Nacht über wenig Schlaf bekommen hatte, erwachte er schon recht früh und fühlte sich topfit. Den Rucksack mit dem Einbruchswerkzeug deponierte er in dem kleinen Safe, dessen Nummer er zuvor eingestellt hatte. Ebenso verfuhr er mit einer Kopie der handschriftlich verfassten Zettel und seiner Notizen, die er auf seinem Kopiergerät und Drucker anfertigte. Den Umschlag mit den Zetteln steckte er anschließend ein. Er freute sich schon auf die Gesichter seiner Kollegen Meizel und Changa, wenn er ihnen diese Unterlagen geben würde. Hiermit bekamen die beiden schließlich eine Menge Informationen über die Verbindungen der Politiker zur Industrie. Vielleicht würden sie ja auch herausfinden, wer der Verfasser dieser Notizen war.

Zurück in der Redaktion sah Ron seinen Arbeitsplatz wieder von dem jungen Mann besetzt, der offensichtlich seinen Weg aus der Kaffeeküche zurück gefunden hatte. Ron überlegte, dass es vielleicht sinnvoller sei, ihn an einen der anderen verwaisten Schreibtische zu setzen. Aber das hatte Zeit. Zunächst drängte es ihn, mit Meizel und Changa wegen der gefundenen Unterlagen zu sprechen. Auch Egon Müller schien wieder gesund zu sein, denn er kam gerade mit einem Kaffeebecher aus der kleinen Küche.

Ron nickte dem Mann freundlich zu: „Guten Morgen Herr Müller. Geht es ihnen wieder besser?“

„Danke, ja. Und ihnen auch einen guten Morgen.“ Müller schob sich an ihm vorbei und verschwand in Richtung seines Schreibtisches. Ron warf einen kurzen Blick in die Kaffeeküche und begrüßte Maike, die ihrer Kaffeekochaufgabe nachging. Kurz angebunden grüßte sie zurück.

Zinad Changa fand er an dessen Schreibtisch, wo der Inder heftig auf seiner Tastatur herumtippte. Changa maß vielleicht ein Meter achtundsechzig und war eher von gedrungener Statur. Der Sechsundfünfzigjährige trug eine dicke Brille und verfügte nur noch über spärliche Haare. Ron sah über dessen Kopf hinweg auf den Text am Bildschirm und stellte fest, dass es sich um einen Artikel über irgendein Fußballspiel handelte.

„Morgen Zinad. Alles klar?“, grüßte er den Kollegen.

Der hob nur kurz den Kopf und sah Ron mit ausdruckslosen Blick an. „Ja, alles klar.“ Dann tippte er wieder wie wild an seinem Artikel.

Ron, der ein feines Gespür dafür hatte, wenn etwas so gar nicht stimmte, legte Zinad die Hand auf die Schulter. „Nichts ist klar. Was ist los, Zinad? Ich habe etwas für euch.“ Er hielt den Umschlag hoch. „Äußerst brisante Informationen, die ihr für euren Korruptionsfall bestimmt gebrauchen könnt.“

Zinad schüttelte den Kopf: „Es gibt keinen Korruptionsfall mehr“, brachte er dann leise hervor. Und noch leiser fügte er hinzu: „Und mich bald auch nicht mehr. Jedenfalls nicht hier.“

Ron meinte sich verhört zu haben. Was hatten die Worte Zinads zu bedeuten? „Das musst du mir erklären. Wieso gibt es keinen Korruptionsfall mehr, ihr habt doch schon ziemlich umfangreich recherchiert. Und was soll das bedeuten: dich gibt es bald auch nicht mehr? Bist du krank? Was ist los, Zinad?“

Zinad Changa nahm die Hände von der Tastatur und wandte sich zu Ron um: „Der Artikel über die Korruption ist gestorben. Ausdrückliche Anweisung von Fellger. Meizel ist jetzt deswegen beim Chef drin. Er will versuchen, noch etwas zu retten, da unsere Recherchen doch schon sehr weit gediehen sind. Uns fehlt eigentlich nur noch ein letzter kleiner Beweis.“

Ron grinste und schüttete den Inhalt des Umschlages auf Zinads Schreibtisch. „Und den habe ich hier für euch.“

Changa blickte auf die Zettel und hob einen davon hoch. Er betrachtete ihn eingehend und las schließlich die wenigen Notizen darauf. Dann wandte er sich an Ron: „Was soll das sein?“

„Das sind handschriftliche Vermerke über Verbindungen verschiedener Politiker zur Industrie. Quasi eine Auflistung, wer wen geschmiert hat. Nur die Beträge fehlen noch.“

Zinad betrachtete die Papiere halbherzig. „Gestorben, alles gestorben“, seufzte er dann und schob sie zu Ron zurück. Der aber winkte ab. „Warum eigentlich? Welchen Grund hat Fellger genannt, den Artikel nicht zu bringen?“

„Keinen Grund. Er sprach nur von ‚Entscheidungen an höherer Stelle‘. Was er aber damit meinte, ist mir schleierhaft. Vielleicht bezieht er sich auf eine Anordnung vom Mutterhaus in New York.“

Ron schüttelte den Kopf: „Niemals. Die würden sich nur einmischen, wenn es sich um unmoralische oder ethisch verwerfliche Dinge handeln würde. Aber nicht bei so etwas. Nein, da muss etwas anderes dahinterstecken. Behalte die Papiere, ich werde mit dem Chefredakteur sprechen. Den Artikel werdet ihr schreiben können!“

Zinad sah Ron verzweifelt an: „Ich wohl kaum. Am Fünfzehnten ist für mich Schluss.“

Ron blickte den Kollegen ungläubig an: „Du willst hier aufhören? Hat man dir ein besseres Angebot gemacht?“

Der Inder schüttelte traurig den Kopf: „Nein, nein. Fellger hat mir zum Fünfzehnten gekündigt.“

Ronald Nayst war entsetzt: „Sag‘ das doch bitte noch einmal! Ist Fellger jetzt völlig übergeschnappt? Er kann dich nicht so einfach kündigen. Es gibt Fristen, an die er sich halten muss. Außerdem: Gute Leute lässt man nicht einfach gehen!“

„Doch kann er.“ Zinad klang ganz kleinlaut und schien am Boden zerstört.

Ronald sah den Kollegen scharf an: „Und warum? Da ist doch noch etwas ...“

Zinad nickte: „Er hat mich mit Maike in der Kaffeeküche erwischt.“

„Und? Ich war auch schon oft dort und für Maike ist es das zweite Zuhause.“

„Ich wollte mir einen Kaffee holen“, begann Zinad stockend. „Maike hatte wohl gerade frischen aufgebrüht. Als ich mir eine Tasse aus dem Schrank nehmen wollte und den Arm hochhielt, schlüpfte sie darunter hindurch und stand direkt vor mir. Zwischen der Anrichte und mir. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren und versuchte sie wegzustoßen, als sie plötzlich anfing zu schreien. Da wurde ich auch schon von hinten gepackt und der Chefredakteur stieß mich gegen die offene Tür. Anschließend teilte er mir in seinem Büro mit, dass ich als Mitarbeiter nicht mehr zu halten sei. Sexuelle Nötigung am Arbeitsplatz. Es würde keine Anzeige geben, wenn ich mich ruhig verhielte und nicht gegen die Kündigung angehen würde. So etwas habe ich noch nie gemacht - sexuelle Nötigung! Was soll nun werden?“

Ron hatte sich das Geständnis seines Kollegen mit wachsendem Zorn angehört. Sie brauchten hier jeden Mann und Zinad war einer der Besten. Welchen Grund gab es, so etwas zu inszenieren, nur um den Mitarbeiter los zu werden? Und warum hatte Maike sich darauf eingelassen?

„Ich werde mit Fellger sprechen. Jetzt erst recht“, meinte er zornig. „Und mit Maike. Das Spiel war doch abgekartet. Aber warum?“

Zinad sprach jetzt leise und stockend: „Fellger mag mich nicht. Weil ich Inder bin. Er versucht schon seit einer geraumen Weile mich loszuwerden. Bisher war ihm das aber nicht gelungen.“

„Und diesmal gelingt es ihm auch nicht. Dafür werde ich sorgen! Und die Zettel dort behältst du. Für eure Recherchen. Noch ist die Korruptionsgeschichte lange nicht tot!“

Zinad nickte, ließ aber nicht viel Optimismus erkennen. Für ihn war der Chefredakteur einfach zu mächtig. Mächtiger jedenfalls als so ein kleiner Onlineredakteur. Mochte er auch noch so sehr der Sohn vom großen Boss sein.

Ron steckte den leeren Umschlag in die Tasche und wandte sich Richtung Fellgers Büro. Gerade verließ es Dirk Meizel mit einem unglücklichen Gesichtsausdruck. Er bemerkte Ron erst, als sie sich gegenüberstanden. „Morgen Dirk. Alles in Ordnung?“

„Morgen. Ja, alles in Ordnung“, erwiderte der Angesprochene tonlos. Dann eilte er an seinen Arbeitsplatz.

‚Es wird langsam Zeit, dass sich hier etwas ändert‘, dachte Ron und betrat das Büro durch die offenstehende Tür.

„Nayst“, wurde er vom Chefredakteur unfreundlich begrüßt. „Können sie nicht anklopfen? Das wäre doch ein Minimum an Höflichkeit. Als ihr Chef kann ich das doch verlangen. Oder sind sie anderer Meinung?“

Ronald klopfte pro forma an den Türrahmen. „Herr Fellger. Ich glaube, es gibt da einige Dinge über die wir reden müssen. Wa...“

„Glauben heißt nicht wissen“, unterbrach ihn der Mann. „Wenn sie nur glauben, dann sollten sie in die Kirche gehen. Oder zurück in ihr New York. Wir haben hier genügend Leute. Unser neuer Onlineredakteur hat sich hervorragend eingearbeitet. Sie sehen also, dass sie überflüssig sind und endlich nach Hause zurückkehren sollten.“

„Herr Fellger“, Ron konnte seinen Zorn nur mühsam unterdrücken. „Hier geht es nicht um meine Person. Sondern um die Redaktion. Darum, dass sie meines Erachtens recht willkürliche Entscheidungen treffen, die dem gesamten Verlagshaus schaden.“

„Ihres Erachtens, ihres Erachten“, äffte Fellger ihn nach. Ron konnte seinen Zorn nur noch mühsam zurückhalten. „Hier, wissen sie, was das ist?“ Der Chefredakteur hielt ein Blatt Papier hoch. Ron konnte die kleingedruckten Buchstaben darauf nicht erkennen, sah aber, dass der Bogen von der New Yorker Zentrale stammen musste. Fellger hielt ihm das Blatt hin. „Lesen sie ruhig, dann wissen sie, woher der Wind weht.“

Ron überflog den Text. Im Groben ging es um mehrere Beschwerden Fellgers über Ronald C. Nayst, also ihn, worin von Vernachlässigung der Arbeit, mangelnder Kompetenz und arrogantem Auftreten als Sohn des Chefs gesprochen wurde. Fellger wurde von oberster Stelle volle Unterstützung zugesagt, wobei betont wurde, dass Ron nicht in seiner Eigenschaft als Sohn des Bosses, sondern als Hilfe in der Onlineredaktion in Berlin sei. Sollte eine Zusammenarbeit nicht mehr möglich sein, so könnte der Chefredakteur diese aufkündigen und Ron nach New York zurückkehren lassen.

Fellger betrachtete den jungen Mann mit einem süffisanten Grinsen. „Also, junger Mann. Es wird Zeit, dass sie ihre Koffer packen!“

„Nicht, bevor wir zwei Dinge geklärt haben: Erstens in Bezug auf die Korruptionsaffäre gibt es jetzt Beweise. Ich bin zufällig auf einen Umschlag mit handschriftlichen Notizen über korrupte Politiker und deren Verbindung zur Industrie gestoßen. Sie können den Artikel doch nicht einfach unter den Tisch fallen lassen! Und zweitens ist die Entlassung Changas nicht rechtens. Das war doch arrangiert! Changa ist ein hervorragender Journalist, den entlässt man nicht so einfach!“

Fellger grinste ihn an: „Man vielleicht nicht, ich aber schon.“ Dann pochte er mit dem Knöchel seines Zeigefingers auf das Blatt. „Sie erinnern sich aber schon, was dort geschrieben steht? Mischen sie sich gefälligst nicht in meine Entscheidungen ein. Und die Sache mit dem Artikel geht sie erst recht nichts an. Das sind Entscheidungen, die auf hoher Ebene getroffen werden.“

Ron hätte den Chefredakteur am liebsten laut angeschrien, hielt sich aber mühsam zurück: „Hohe Ebene? Meinen sie damit sich? Oder die Zentrale in New York? Wer entscheidet so etwas?“

Fellger grinste immer noch: „Das geht sie nichts an, junger Mann. Ich verrate nur so viel: Da steckt höchste Politik dahinter!“

Ron konnte seinen Zorn jetzt doch nicht mehr so ganz unterdrücken: „Höchste Politik? Herr Fellger wir sind ein unabhängiges Blatt. Niemand schreibt uns vor, worüber wir berichten.“ - „Papperlapapp. Ich bin hier der Chefredakteur. Und jetzt zeigen sie doch mal diese komischen Notizen her.“

Ron war froh, Zinad Changa die Papiere überlassen zu haben. „Die hat Herr Changa. Er arbeitet ja an der Korruptionsgeschichte.“

Fellger schüttelte grinsend den Kopf: „Hat gearbeitet. Jetzt gibt es keine Geschichte mehr. Sie können gehen, Nayst. Und schicken sie mir Changa herein!“

Ronald kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück, ohne Zinad zu benachrichtigen. Sollte der Chefredakteur sich doch selber darum kümmern. Er war schließlich nicht dessen Laufbursche.

Der Schreibtisch war verwaist, Matthias Prokas nicht da. Dafür lag überall Müll herum. Ron nahm sich vor, ein ernstes Wort mit dem jungen Mann zu sprechen und ihn dann an einen der freien Arbeitsplätze zu setzen. Seufzend ließ er sich auf seinem Bürostuhl nieder.

„Da ist man einmal kurz zur Toilette und dann das ...“

Ron blickte auf und erkannte Prokas, der mit einer Kaffeetasse vor ihm stand. „Der Chef meinte, dass das jetzt mein Platz hier ist. Hat er ihnen das nicht mitgeteilt?

Ronald spürte wieder diesen Zorn in sich aufsteigen, antwortete aber völlig ruhig: „In gewisser Weise eigentlich schon.“ Er dachte an Fellgers Worte, dass er nach New York zurückkehren sollte. In aller Ruhe suchte er die paar Habseligkeiten, die er hier hatte, zusammen. „Dann muss ich mir wohl einen neuen Platz suchen“, meinte er nur. Es gab ja genügend freie Arbeitsplätze. Plötzlich fiel ihm noch etwas ein und er kehrte zu Prokas zurück. „Hat der Chefredakteur ihnen eigentlich schon Aufgaben zugeteilt?“, fragte er den.

„Aber sicher doch. Ich übernehme alle ihre Aufgaben.“

„Fein, dann denken sie daran, dass Samstag der Auftritt der Laienmusikergruppe stattfindet. Den Termin werden dann wohl sie wahrnehmen müssen!“

Prokas sah ihn fragend an und Ron wusste, dass der junge Mann noch keine Ahnung von dem bevorstehenden Arbeitspensum hatte. Aber er nickte ihm lediglich zu und begab sich dann zur Kaffeeküche. Wie nicht anders erwartet, traf er dort auf die Praktikantin. Sie kochte zur Abwechslung einmal keinen Kaffee, sondern lackierte sich die Fingernägel.

„Hallo Maike.“

„Für dich bitte Frau Rienatz.“

Die Blonde lackierte sich seelenruhig die Nägel weiter. Ron sah, dass sie mit den Fußnägeln offensichtlich schon fertig war, denn zwischen ihren Zehen steckten kleine Wattebäusche.

„Frau Rienatz? Ich dachte wir duzen uns? Schon vergessen?“

Sie schüttelte den Kopf: „Bei deinem Ärger mit dem Chefredakteur lieber ‚sie‘.“

Ron hakte nach: „Welchen Ärger habe ich denn?“

„Ach, so dies und jenes. Jedenfalls hat er gesagt, dass es besser wäre, wenn ich mich mit dir nicht mehr unterhalte. Schließlich beginnt am Fünfzehnten meine neue Probezeit.“

Ron verstand nur Bahnhof. „Deine Probezeit?“

„Ihre!“

Jetzt verstand er noch weniger. „Wessen? Ihre?“

Maike nickte heftig und verschüttete dabei etwas blutroten Nagellack: „Ja, wir siezen uns doch, da heißt es ‚ihre Probezeit‘ und nicht deine.“

Ron seufzte gequält auf. Spielten denn jetzt plötzlich alle verrückt? Er hakte noch einmal nach: „Also, was für eine Probezeit?“

„Meine. Als Redakteurin. Dieser Inder hat doch gekündigt und ab dem Fünfzehnten bin ich die neue Kollegin. Also nicht wirklich so neu, aber als neu...“

Ron unterbrach das Geschwafel der Blonden: „So also läuft der Hase. Hat Fellger dich zu der Sache mit Zinad angestiftet?“

Sie zog einen Schmollmund und blies auf die lackierten Nägel. Dann bemerkte die Blonde leise: „Das sage ich nicht. Wer ist denn Zinad?“

Ron konnte ein Aufstöhnen nicht unterdrücken. „Zinad Changa.“

„Und wer ist Zinad Changa?“

„Der Inder!“

„Ach so, das hätten sie auch gleich sagen können.“

Ronald spürte, wie er allmählich einen roten Kopf bekam. Diese Praktikantin sollte plötzlich als Journalistin arbeiten? Wollte Fellger das Blatt eigentlich komplett ruinieren? Mühsam unterdrückte er, sie laut anzubrüllen. „Hat er nun oder nicht?“

Maike unterbrach ihre Tätigkeit des Lackierens und sah Ron an: „Das sage ich nicht.“

Ron holte tief Luft, dann meinte er gefährlich leise: „Jetzt höre mir einmal gut zu! Ich kann ja verstehen, dass du es zu etwas bringen möchtest. Allerdings wirst du erst dein Praktikum beenden und danach eine entsprechende Ausbildung durchlaufen müssen. Zum Journalismus gehört mehr als nur Kaffee zu kochen. Und jetzt frage ich nur noch einmal, denn danach wirst du dem Staatsanwalt Rede und Antwort stehen müssen. Also: Wie ist die Sache abgelaufen? Und wehe, du lügst mich an.“

Maike blickte hilfesuchend zur Türe, aber da war niemand. Vor allem kein Chefredakteur, der ihr zur Seite springen konnte. Leise und stockend brachte sie schließlich hervor: „Fellger meinte, es gäbe eine Chance, dass ich in Kürze Redakteurin werden könnte. Ich müsse dem Inder nur schöne Augen machen und mit ihm ein wenig poussieren. Leider hat der sich nicht darauf eingelassen, der Inder scheint ein wirklicher Gentleman zu sein. Als Fellger zu ungeduldig wurde, kam er auf die Idee mit der Belästigung. Was ja schließlich auch geklappt hat. Eigentlich ist das doch nicht wirklich schlimm, oder?“

„Und ob“, Ron sprach ganz ruhig, obwohl er innerlich kochte. „Mit der Sache kannst du ohne weiteres vor Gericht landen. Und ob dich dann noch jemals jemand in einer Redaktion einstellt, steht in den Sternen. Nicht einmal mehr zum Kaffeekochen!“

Maike sah ihn leichenblass an. Ein wenig tat sie Ron doch Leid, schließlich hatte er etwas zu dick aufgetragen. Aber dann wischte er die Gedanken fort und sah einen Weg, die Situation zu nutzen.

„Die Sache kann unter uns bleiben“, erklärte er. „Wir schreiben jetzt das alles auf und du unterschreibst es.“

„Dann werde ich keine Redakteurin?“

„Bestimmt nicht jetzt. Aber du kannst dein Praktikum beenden und nach einem Studium bewirbst du dich hier neu. Die Chancen für einen Job stehen bei ehemaligen Praktikantinnen hier sehr gut.“ Ron wusste, dass sie niemals Journalistin werden würde.

„Kann ich das nicht zunächst mit dem Chefredakteur besprechen?“

Ron lachte: „Natürlich. Aber dann gibt es keine Vereinbarung zwischen uns. Und ich bin schließlich der Sohn des großen Bosses. Eines Tages bin ich selbst der große Boss!“ Er spürte, dass die blonde Praktikantin fast überzeugt war. Aber eben nur fast.

„Aber Fellger hat gesagt, dass du hier nichts zu sagen hast. Allein sein Wort ist entscheidend!“

Ron schmunzelte, denn Maike war unwillkürlich doch wieder zum ‚Du‘ übergegangen. „Das ist das kleine Restrisiko das bleibt. Entweder glaubst du einem fast ehemaligen Chefredakteur oder einem baldigen Bigboss. Fellgers Zeit hier ist so gut wie abgelaufen.“

Maike betrachtete ihre Fingernägel und meinte leise: „Aber er hat einen Brief aus New York. Ich habe ihn selbst lesen dürfen.“

Ron wandte sich zur Tür. „Deine Entscheidung. Aber beklage dich später nicht bei mir. Komm jetzt mit oder lasse es sein.“ Damit machte er einen Schritt in das Großraumbüro.

„Warte“, hörte er sie hinter sich sagen und er wusste, dass er gewonnen hatte.

An seinem neuen Arbeitsplatz verfasste Ron eine kurze Erklärung zu den Vorgängen. Er betonte extra, dass Fellger den Inder schon seit Längerem aus der Redaktion heraushaben wollte und er die Praktikantin angestiftet hatte. Zögernd unterschrieb Maike und stürmte danach in die sichere Zuflucht ihrer Kaffeeküche.

Ron war zufrieden. Jetzt besaß er etwas, das auch seinen Vater überzeugen würde. Er überlegte kurz, ob er mit ihm heute schon in Kontakt treten sollte, entschied sich dann aber für eine in seinen Augen bessere Lösung: Er würde sich den morgigen Tag frei nehmen und selbst nach New York fliegen. Dort könnte er mit seinem Vater persönlich sprechen. Vielleicht wäre Vera ja zu einem Kurztrip zu überreden, könnte sich den Freitag ebenfalls frei nehmen und ihn begleiten.

Allerdings gab es noch keinen Anruf von Vera. Obwohl kein Hinweis über eine Mitteilung auf seiner Voicebox im Handy stand, hörte er sie trotzdem ab. Doch sie hatte sich wirklich noch nicht gemeldet. Ron blickte auf die Uhr. Es war noch zu früh, den Anruf bei ihr würde er auf später verschieben müssen.

Da er jetzt eigentlich nichts mehr zu tun hatte, schaute er sich die Onlineausgabe des Berliner New York News Paper an. Was er da sah, ließ ihn förmlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Nicht nur, dass die von Matthias Prokas verfassten Artikel durchweg schlecht und niveaulos formuliert waren, nein sie strotzten auch nur so von Fehlern. Aus reinem Pflichtgefühl heraus, korrigierte er die Artikel so gut es ging.

Im Laufe des Nachmittags informierte er Zinad darüber, dass er den morgigen Tag frei nehmen würde. Einen Grund nannte er nicht und der Kollege sollte den Chefredakteur auch nur auf Nachfrage darüber informieren. Ron glaubte aber nicht, dass Fellger nach ihm fragen würde. Schließlich beendete er seine Arbeit, fuhr den Computer herunter und schloss seinen Schreibtisch ab. In seiner Hosentasche fand er noch den Luftpolsterumschlag, in dem die Zettel gewesen waren. Er überlegte, ob er den Umschlag nicht ebenfalls Zinad überlassen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Es stand keine Adresse darauf, ebenso keine weiteren Hinweise. Also zerriss er den Umschlag, um das Papier von der Folie zu trennen. Hier in Deutschland wurde ja alles gesondert entsorgt. Sicher, in Amerika gab es das auch irgendwie. Aber halt nur irgendwie und lange nicht so penibel wie hier in Deutschland.

Ron ließ das Papier in den entsprechenden Mülleimer fallen und wollte gerade die Folie in den extra für Plastikmüll bereitstehenden Eimer werfen, als ihm ein Farbunterschied in der durchsichtigen Folie auffiel. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich der Blauschimmer als Micro SD Card. Was hatte solch eine Karte mitten in der Folie verloren? Ron untersuchte die komplette Luftpolsterfolie, fand aber nichts weiter als diese kleine Karte, die er schließlich sorgfältig in seiner Brieftasche verstaute. Das Geheimnis der Karte würde er in seinem Zimmer in der Pension lüften.

Plötzlich hatte Ron es sehr eilig, nach Hause zu kommen.

Kaum in seinem kleinen Zimmer in der Pension angekommen, startete er seinen Laptop. Um die kleine Karte benutzen zu können, benötigte er einen Adapter, den er aber, ebenso wie einige dieser SD Karten, standardmäßig mit seinem Laptop bei sich führte.

Ron hatte mit allen möglichen Schwierigkeiten gerechnet: Verschlüsselte Dateien, die ihren Inhalt nur nach einer Passwortabfrage preisgaben, ein Trojaner oder Schutzprogramm, das nur berechtigten Personen erlauben würde, auf die Daten zuzugreifen oder sogar eine vollkommen leere Karte. Aber er wurde im positiven Sinn enttäuscht. Das Programm listete ihm brav zahlreiche Dateien auf. Wer immer diese Karte zusammengestellt hatte, sah offensichtlich keine Notwendigkeit, die Daten zu schützen. Also, schloss Ron, kann es sich eigentlich nicht um etwas Wichtiges handeln. In der Redaktion schützten sie selbst die profansten Artikel oder Notizen mit Passwörtern. Wenn das hier nicht geschehen war, dann handelte es sich vermutlich auch nicht um wirklich wichtige Dinge. Er fand zahlreiche einfache Textdateien, die mit jedem beliebigen Programmeditor geöffnet werden konnten. Außerdem befanden sich in einem separaten Verzeichnis noch zahlreiche Bilddateien. Ron klickte die an oberster Stelle stehende Textdatei an. Auch hierbei zeigten sich keinerlei Probleme. Der Text erschien prompt auf dem Bildschirm.

Der Redakteur überflog den Text. Offensichtlich handelte es sich um die Beschreibung eines Konzeptes zu diversen Regierungstätigkeiten. Kein Wunder, dass die Daten nicht verschlüsselt waren. Hier handelte es sich um irgendwelche strategischen Pläne einer Partei. Die Formulierungen waren ziemlich allgemein gehalten und umschrieben offensichtlich ein universelles Konzept. Eigentlich nichts Weltbewegendes. Dann stutzte Ron und las einen Abschnitt erneut. Und noch einmal.

In diesem Zusammenhang‘, stand dort, ‚bleiben die avisierten Aktivitäten unerlässlich. Eine weitere Verifizierung erübrigt sich, da einige der Maßnahmen (s. Anhang B, Abschnitt B2) zur vollsten Zufriedenheit durchgeführt wurden. Alle maßgeblich Involvierten bekundeten unisono ihre Entschlossenheit zu diesen Schritten. Mit der Abwicklung besagter Maßnahmen wurde und wird auch weiterhin Bassam Abu Yusuf M., der seine Zuverlässigkeit schon mehrfach unter Beweis stellte, beauftragt. Einfachere Maßnahmen können Hassan C. (bekannt als G.) und Dimitri R. durchführen. Sie werden auf dem üblichen Weg kontaktiert. Die Liste(n) werden nach Beschlussfassung kontinuierlich aktualisiert.‘

Ron rieb sich über die Augen. Stand da wirklich, was er las? Hastig öffnete er weitere Dateien und überflog den Inhalt. Wer auch immer diese Gruppe sein mochte, es handelte sich ganz offensichtlich nicht um einen Scherz. Ron machte sich immer wieder Notizen, las bestimmte Abschnitte erneut und verglich die Formulierungen der Texte. Ihm war schwindelig. Dann ging er noch einmal das Geschriebene durch. Schließlich fasste er seine Gedanken zusammen: ‚Bei diesen Texten handelt es sich um das Konzept der Regierungspartei, um jeden Preis an der Macht zu bleiben‘, notierte er auf seinem Block und unterstrich den Satz zweimal.

Er zog eine Linie unter dieses entscheidende Fazit und begann Details aufzuschreiben. Die Texte gliederten sich in mehrere Gruppen. Einerseits Aktivitäten, die diverse Politiker oppositioneller Parteien durch Korruption gefügig machen sollten - Ron dachte an die Zettel in dem Luftpolsterumschlag - andererseits sogenannte ‚Maßnahmen‘, durch die unliebsame Politiker ausgeschaltet und durch ‚freundlich Gesinnte‘ ersetzt werden sollten. Die Texte blieben vage formuliert, aber oft war die Rede von ‚Unfällen‘.

Eine weitere Gruppe von Dateien umfasste Maßnahmen, um die Öffentlichkeit mit falschen Informationen gezielt zu beeinflussen. Dazu gehörte auch ein Konzept Presse, Funk und Fernsehen dank ‚regierungsgewogener‘ Mitarbeiter in einflussreichen Positionen in der Berichterstattung zu manipulieren. Ron dachte unwillkürlich an den Chefredakteur Thorsten Fellger und dessen Verhalten. War der vielleicht ‚regierungsgewogen‘ und stand irgendwo auf einer Liste mit Sonderzuwendungen?

Ron fand einen Text mit mehreren Namen. Er pickte sich den ersten heraus und suchte danach im Internet. Es handelte sich um eine Politikerin, die vor einem halben Jahr einen tödlichen Autounfall erlitten hatte. Merkwürdigerweise stand sie nachts mit ihrem Wagen auf einem beschrankten Bahnübergang und wurde von einem Güterzug erfasst. Vom Fahrzeug und der Frau blieb nicht viel übrig und man konnte sie letztlich lediglich anhand von DNA Spuren identifizieren. Ron fand mehrere kleine Meldungen, die mit wenigen Worten auf das tragische Schicksal eingingen. Damit schien die Sache damals abgehakt worden zu sein.

Ron verschränkte die Arme im Nacken, lehnte sich ein wenig zurück und dachte über das Gelesene nach. Dann strich er den Satz auf seinem Block durch. Nein, es ging hier nicht nur darum, die Regierungspartei an der Macht zu halten, hier handelte es sich um den Aufbau einer Diktatur unter dem Mantel der Demokratie. Wobei es nicht einen Diktator geben sollte. Wie Leute aus den eigenen Reihen, so wurde der Bundeskanzler oder die Kanzlerin ebenfalls zu einer austauschbaren Person erklärt. Einzig und allein die Gruppe im Hintergrund hielt die Macht in den Händen.

„Wer zum Teufel steckt dahinter?“, fragte Ron halblaut und löste sich damit aus seinen Gedanken. Es war keine Frage, dass dies an die Öffentlichkeit gebracht werden musste! Und Ron wusste auch schon, wer für diesen Artikel in Frage kam: Zinad Changa und Dirk Meizel, die ja schon in der Korruptionsaffäre mittendrin steckten.

Aber zunächst würde in der Redaktion aufgeräumt werden müssen. Fellger durfte nicht länger auf seinem Posten bleiben. Und dann müssten qualifizierte Leute, und nicht solche wie dieser Matthias Prokas, eingestellt werden. Ron spürte einmal mehr, wie dringend es war, mit seinem Vater zu sprechen.

Rasch kopierte er den Inhalt der SD Karte auf sein Handy. Damit dürfte er seinen Vater überzeugen. Eine weitere Kopie schickte er in sein Verzeichnis auf dem Server in New York und um ganz sicher zu gehen, legte er eine weitere SD Karte an, die er in einen Umschlag steckte, den er mit seiner New Yorker Privatanschrift versah. Er würde den Brief am Flughafen bei der Post abgeben.

Die Servator Verschwörung

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