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6. Kapitel

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Später würden alle, die dabei gewesen waren, darin übereinstimmen: Es waren diese Augenblicke, diese Minuten, die alles in wahrlich gigantische Sphären katapultiert hatten.

Es geschah bei einem dieser Treffen, die von der Familie alle drei Monate abgehalten wurden. Dabei musste sie von Mal zu Mal in eine noch größere Halle wechseln, da die Familie inzwischen auf über 8.000 Mitglieder angewachsen war und über die Hälfte davon an diesem Abend dabei sein wollte. Sie hatten eine große Tennishalle gemietet, die 5.000 Menschen fasste. Eine Sitzreihe folgte auf die andere und vorn, auf dem Podest, stand ein langer Tisch, der mit einem weißen Tuch bedeckt war. Die Treffen dienten dazu, Projekte vorzustellen, Referenten erklärten Untersuchungen im Schutzgebiet, und es wurden Pläne für die Zukunft erörtert. Aber es gab auch Raum für Visionen, die jeder der Anwesenden vortragen konnte und die realisiert wurden, wenn sie die Zustimmung der Mehrheit fanden. Nach den Berichten wurde ein Scheinwerfer auf ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren gerichtet, das eine Jeans und ein weißes T-Shirt trug. Es stand schüchtern am Rand des Podiums und hielt ein Mikrofon in der Hand, um es dem ersten Visionär zu bringen. Kurz war es still in der Halle. Das Mädchen blickte suchend in die Menge, als sich in der ersten Reihe ein großer, schlanker Mann erhob. Sein Haar war kurzgeschnitten und graumeliert. Er trug einen schlichten schwarzen Maßanzug, ein weißes Hemd und lächelte einnehmend. Er nahm das Mikrofon entgegen und räusperte sich kurz. »Vielen Dank für die Gelegenheit, hier sprechen zu dürfen.« Schon nach dem ersten Satz spürten es fast alle in der Halle. Dieser Mann war außergewöhnlich. »Ich heiße Max Bonnermann«, setzte er fort. »Ich habe lange für eine PR-Firma gearbeitet und dabei Privatpersonen, Firmen und sogar Staaten betreut, um sie in der Öffentlichkeit ins rechte Licht zu setzen. Ich war dabei so erfolgreich, dass ich bis an mein Lebensende nicht mehr arbeiten müsste. Nun, mit Anfang 50, habe ich mir gedacht, dass es an der Zeit ist, höhere Ziele in Angriff zu nehmen. Dass es Zeit ist, ohne finanzielle Gegenleistung zu arbeiten, sondern aus Überzeugung und Leidenschaft etwas Gutes für die Menschheit zu tun. Ich verfolge eure Arbeit schon lange und bin beeindruckt und berührt, wenn ich sehe, mit welchem Enthusiasmus von euch Projekte entwickelt und verwirklicht werden. Und ich spüre eines sofort: Ihr hört auf den Herzschlag der Natur und versucht diesem Herzschlag nachzuspüren. Und ganz ehrlich, das fasziniert mich.«

Er machte eine kurze Pause und oben, irgendwo auf den Rängen, setzte plötzlich Applaus ein, der sich wie eine Welle über die gesamte Halle ausbreitete. Als er leiser wurde, rief eine Frauenstimme: »Max for president!«

Kurz wurde Gelächter laut, und der Applaus schwoll abermals an. Es schien unglaublich. Ein Mann, der nur einige Sätze gesprochen hatte, schien 5.000 Menschen in nur wenigen Sekunden in seinen Bann gezogen zu haben. Max wartete und hob nach einer Weile behutsam die Hand. Der Beifall verebbte sofort. Es war vollkommen still, als Max erneut zu sprechen begann. »Vielen Dank«, sagte er. »Ja, Ich gebe es zu, ich habe etliche Angebote von Naturschutzorganisationen erhalten, aber als ich diese heutige Stimmung miterleben durfte, eure Leidenschaft und eure Hingabe, habe ich sofort gewusst, wenn es irgendwie möglich ist, möchte ich Teil dieser Familie werden.«

Noch an jenem Abend wurde Max Bonnermann mit 98 Prozent Zustimmung in den Beirat der Familie gewählt.

Nach dem Treffen saß ein Teil der Familie in einem Restaurant zusammen. Max sprach gewählt, sehr überlegt und überzeugend. Es ließ sich schwer beschreiben, aber fühlen. Da war etwas Väterliches an ihm, etwas Beschützendes und zugleich Respekteinflößendes. Niemand, der mit ihm sprach, wäre auf die Idee gekommen, ihn zu duzen, obwohl das Du in der Familie sonst üblich war. Und keiner stellte das in Frage oder erhob einen Zweifel.

Als er sich kurz vor Mitternacht verabschiedete, blickten ihm die anderen ehrfürchtig hinterher.

»So etwas habe ich noch nie erlebt«, schwärmte Mia, während sie die Ärmel ihres Pullovers zurückschob. Sie hatte längere Zeit neben Max gesessen und war sehr aufgeregt.

»Schaut euch meine Arme an. Ich habe noch immer eine Gänsehaut. Ich schwöre euch: Als er neben mir saß, habe ich andauernd diese Gänsehaut gehabt.« Sie konnte sich vor Aufregung kaum beruhigen. »Das ist wie Zauberei, wie Magie! Sitzt einfach nur da, und ich bekomme eine Gänsehaut.«

»Jetzt krieg dich wieder ein«, meinte Fynn freundlich.

»Er ist eifersüchtig«, antwortete Mia und stieß Amanda mit den Fingerspitzen schmunzelnd in die Seite.

»Kaum schwärmen wir ein bisschen, wird er eifersüchtig.«

Alle lachten.

»Übrigens«, setzte Mia fort, »findet ihr nicht auch, dass er beinahe so aussieht wie Patrick Dempsey?«

Erneut brachen sie in Gelächter aus, während Fynn mit der Zunge schnalzte und ihr innerlich zustimmte, als er den Kopf schüttelte.

»Was mir aufgefallen ist«, sagte er dann, »habt ihr die goldene Anstecknadel von Birdhelp am Revers seines Anzugs gesehen? Und das goldbestickte Emblem der WNO? Ich habe vorhin gegoogelt. Ich meine, die World Nature Organisation vergibt dieses Emblem nur an ausgewählte Naturschützer, und es gibt weltweit lediglich 21 Menschen, die diese Auszeichnung bis jetzt erhalten haben. Also, ich glaube, das ist kein großer Fisch, das ist ein Hai, der die einflussreichsten Menschen der Welt kennt.«

»Ich spüre gerade, dass ich Teil von etwas Großem bin«, ergänzte Mia. »Dieser Mann wird unsere Familie berühmt machen. Bald wird sie jeder kennen. Davon bin ich überzeugt.«

»Oh, nicht schon wieder«, unterbrach sie Fynn. Und noch im selben Augenblick dachte er: Verdammt, sie hat recht.

Wie von selbst drang Max in das Zentrum der Familie vor. Manchmal war es beinahe unheimlich. Wenn er einen Raum betrat, der mit Menschen überfüllt war, wurde es plötzlich leise und die Köpfe drehten sich in seine Richtung. Von Anbeginn musste er nicht auf die Mitglieder der Familie zugehen, um ein Teil von ihnen zu werden, sondern die Mitglieder kamen auf ihn zu, um ein Teil von ihm zu werden. Sie fragten nach seinem Rat, nach einem Tipp, nach einer Strategie. Denn es bestand kein Zweifel: Ein Mensch, der zu jenen 21 Personen zählte, die von der World Nature Organisation mit der höchsten Auszeichnung bedacht worden war, die sie zu vergeben hatte, konnte nur kompetent sein.

Einige Wochen später traf sich der innere Zirkel der Familie in einem abgeschiedenen Landhaus. Der Eigentümer des Hauses zählte zu den großzügigen Spendern des Vereins und stellte es ihnen für ein Wochenende zur Verfügung. In dieser kleinen Runde wollte man Max die Gelegenheit geben, seine Visionen genauer zu erklären.

»Ich gebe zu«, sprach er mit einer bewusst leisen Stimme, was die anderen zu absoluter Stille zwang, »früher war ich ziemlich extrem. Als ich noch nicht so besonnen war wie heute, besetzte ich mit radikalen Freunden eine Jugendstilvilla, die für eine exklusive Wohnanlage geopfert werden sollte. Das konnten wir nicht zulassen, denn die Villa war von Otto Wagner, einem der berühmtesten Architekten aus der Zeit des Jugendstils, entworfen worden. Und wir wollten alles dafür tun, um diese wunderschöne Villa zu erhalten. Wir hatten uns mit Vorräten eingedeckt, die es uns ermöglichen sollten, das Gebäude monatelang zu besetzen und Widerstand zu leisten. In einem Raum, in dem sich ein offener Kamin befand, stapelten wir Brennholz, schleppten Paletten mit Reis, Nudeln und Mineralwasser an, denn fließendes Wasser gab es in dieser Villa nicht. Ja, wir konnten sogar eine Regionalzeitung für uns gewinnen, die über uns berichtete und unseren Mut und unsere Überzeugung lobte. Aber spätestens als wir eines Nachts um 4 Uhr in die grellen Scheinwerferaugen von Raupen, Baggern und Lastern blickten, kamen uns erste Zweifel, ob wir unser Ziel erreichen konnten. Als schließlich die Schlägertrupps mit ihren Knüppeln auftauchten, wussten wir, dass wir chancenlos waren. Noch am selben Nachmittag mussten wir tatenlos zusehen, wie ein Kran mit einer schweren Abrissbirne die Wände dieser wunderschönen Villa einriss. Das hat uns sehr traurig gemacht. Es war das klassische Scheitern von Schwachen und Unorganisierten. Wir fühlten uns wie die größten Verlierer aller Zeiten. Ja, das war eine harte Lektion, und sie lehrte mich etwas sehr Essenzielles: Ohne Seilschaften, Beziehungen und Kontakte wirst du immer und überall unterliegen. Es ist wie mit einem Papierschiffchen, mit dem man einen Ozean überqueren will. Man wird versagen und weiß es schon, bevor man den Hafen verlässt.

Ich lernte die Gesetze der Menschen und ich lernte sie gut. Später beriet ich Unternehmen, Politiker, Regierungen und Staatschefs, und meistens gelang es meinem Team und mir, die Meinungen und Ziele unserer Klienten erfolgreich zu vermitteln. Aber irgendwann drängte sich mir beim Umgang mit den Mächtigen dieser Welt ein immer größerer Unmut auf. Ihr herzloses Vorgehen gegen die Natur, ihre rücksichtslose Gier, die sie Regenwälder abholzen und für Uranabbaustätten riesige Wunden in die Landschaft schlagen lässt. Ganz zu schweigen von den radioaktiven Uranwolken, die dabei entstehen und Landstriche auf Jahrhunderte verseuchen. Ich empörte mich über den Klimawandel, das Abschmelzen der Polkappen, das Elend der Eisbären und musste erkennen, dass keine Botschaft, kein Aufschrei irgendetwas zum Guten veränderte. Ja, und dann saß ich eines Abends in einem Flugzeug von Frankfurt nach Bangkok. Ich las in einem Naturschutzmagazin einen Artikel über junge Menschen, die allein mit Spendengeldern ein Moor gerettet hatten, das schon seit Tausenden Jahren existiert. Das faszinierte mich. Ich las über die Erbschaft dieser Witwe, über den Zulauf an Menschen, denen die Natur wichtig ist und die wissen, dass der Planet dünnhäutig und sehr zerbrechlich geworden ist. In Gedanken musste ich euch sofort zustimmen. Wir müssen diesem Planeten wieder Kraft geben und ihn gesund machen. Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, machte ich mich sofort schlau, und wenig später stand ich bei euch in dieser Tennishalle. Ja, ich gebe es zu, ich habe große, kühne Visionen. Ich habe in den letzten Tagen viel über dieses Gebiet gelesen. Seine Strukturen, seine Umgebung, seine Bevölkerung. Das Naturschutzgebiet ist von insgesamt sechs Tälern umgeben. Und in jedem Tal fließen wunderbare Bäche und Flüsse. Ihr Wasser ist in den Unterläufen jedoch meistens so verunreinigt, dass nur die widerstandsfähigsten Lebewesen darin überleben können.« Max nahm einen Schluck Wasser und machte eine Gedankenpause. »Ja, eines Tages will ich ein Emblem auf meinen Revers heften, und auf diesem Emblem soll ein wichtiger Satz stehen: ›Das Schutzgebiet der sieben Täler‹. Ja, unser Schutzgebiet soll im Vergleich zu heute die siebenfache Größe erreichen. Das ist mein Ziel.«

Nils, eines der ersten Mitglieder der Familie, hob die Hand. Seine Rastalocken zitterten, als er schüchtern zu sprechen begann: »Max, ich möchte Sie etwas fragen. In diesen sechs Tälern befinden sich Dutzende Bauernhöfe mit Feldern, Wiesen, Äckern und Vieh. Das kann doch nicht einfach so verschwinden. Wie sollen wir so ein Ziel erreichen können? Ist das nicht ein wenig überzogen?«

Max lächelte. »Danke, das ist eine sehr wichtige Frage. Ich habe gerade von Visionen gesprochen. Die Schuhe von Visionen sind stets größer als die Schuhe, in die wir gerade passen.« Max nickte und setzte fort: »Wir allein entscheiden. Wir können an ein Ziel denken und versuchen, es zu erreichen, oder wir denken nicht daran und werden es nicht einmal theoretisch erreichen können, da es in unseren Gedanken keinen Platz dafür gibt. Es liegt an uns, Visionen Leben einzuhauchen. Allein an uns.«

Kaum hatte er den Satz beendet, applaudierte die Menge. Es schien, als wollten sie damit eines deutlich sagen: Mit Max kann das alles möglich werden. Und keiner widersprach.

Als Fynn und Amanda in dieser Nacht nebeneinander im Bett lagen, schüttelte Fynn auf einmal den Kopf. »Ich weiß nicht. Seine Ideen sind manchmal, wie soll ich es sagen …? Verrückt. Ich meine, das Schutzgebiet der sieben Täler. Das ist schon mehr als visionär. Weißt du, was ich gerade gedacht habe?«

Amanda verneinte.

»Vielleicht ist er nur ein ausgezeichneter Blender und zugleich ein Spinner. Vielleicht bläst er nur heiße Luft in unsere Köpfe, und wir merken es gar nicht. Und am Ende sitzt er irgendwo in einem stillen Salon, öffnet eine Flasche Champagner und stößt mit seinen Kumpanen auf unsere Naivität an.«

Amanda widersprach sofort: »Ja, er hat kühne Gedanken. Sehr kühne. Aber müssen wir diese kühnen Gedanken nicht denken, um die Welt zu retten? Wir stehen kurz vor dem Abgrund. Das spüren wir irgendwie doch alle. Die wenigsten tun allerdings etwas dagegen, stimmt’s? Wir sind es, Fynn, die vielen Menschen Mut machen und ihnen den Glauben vermitteln, dass wir diese Zerstörung abwenden können, und genau deshalb strömen sie zu uns, weil sie verzweifelt sind und wir ihnen Hoffnung geben. Wir haben eine große Verantwortung, und Max ist getragen von dieser Vision. Wenn ich in seiner Nähe bin, spüre ich diese ehrliche Kraft, die von ihm ausgeht. Das muss unser Ziel sein, eine saubere, schönere Welt, damit unsere Kinder einmal mit Stolz sagen können, unsere Eltern haben alles für diesen Planeten getan. Sie haben auf ihn Acht gegeben. Und übrigens«, flüsterte Amanda ihm zu, »will ich einmal ein Baby von dir.«

»Nur eins?«, fragte Fynn.

»Nein, natürlich mindestens ein Dutzend und ich finde, dass wir heute Nacht damit anfangen sollten, und wenn wir nur erst einmal ordentlich üben.«

»Ich glaube, da kann ich dir helfen.«

Das Wasserkomplott

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