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1. Kapitel

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Regen prasselte nieder. Es regnete oft in dieser Gegend. Wegen der hohen Berge, die sich von Osten nach Westen erstreckten. Die Regenwolken schoben meist vom Norden heran und sammelten sich grauschwarz und mächtig an den Bergflanken, bis es schließlich in feinen Fäden zu nieseln begann. Manchmal regnete es tagelang. Die Luft wurde schwer und feucht. Der Nebel verfilzte sich in den Wäldern und nahm den Blick auf die Landschaft. Kamen die Wolkentürme rasch herangetrieben, gingen oft Unwetter nieder. In kurzer Zeit schwollen die Bäche und Flüsse an und traten manchmal über die Ufer. Wenn sich die Bergwiesen mit Wasser vollgesogen hatten, lösten sich hin und wieder ganze Matten aus den Hängen und rutschten wie träge Lawinen talwärts, gefolgt von nasser brauner Erde, die als Mure in den nächsten Bach glitt, das Wasser braun färbte und zum Schäumen brachte.

»Verrückt«, sagte Amanda, die neben Fynn im Wagen saß.

Fynn schüttelte den Kopf, als er die Scheibenwischer auf höchster Stufe hin- und herfliegen sah. Nur mit Mühe gelang es ihnen, die schweren und zahllosen Tropfen von der Windschutzscheibe zu entfernen.

»Wirklich verrückt, dieser Sommer«, erwiderte Fynn, der wegen des Aquaplanings sehr langsam fuhr.

»2.000 Liter pro Quadratmeter und Jahr. Ich meine, das sind 200 Zehn-Liter-Eimer voll Wasser. Das ist wirklich verrückt.«

Amanda blickte auf die Uhr. Fynn war aufgefallen, dass sie mit den Fingerspitzen an den Ärmeln ihres Pullovers herumzupfte. Das machte sie immer, wenn sie aufgeregt war. Dann musste er so tun, als ob alles in Ordnung wäre, und sie beruhigen. Aber jetzt war ihm gerade gar nicht danach zumute, denn vor Aufregung spürte er sein Herz hinauf bis zum Hals.

»Wir haben noch neun Minuten«, beruhigte er sie trotzdem. »Das schaffen wir locker.«

»Da vorne«, erklärte Amanda, »da ist die Ausfahrt.«

Langsam fuhr Fynn von der Autobahn, passierte einen Kreisverkehr und hielt sich rechts.

»Hier ist es.« Amanda zeigte auf ein mehrstöckiges Gebäude mit einer Fassade aus Glas. Fynn parkte den Wagen in der Nähe des Eingangs und stellte den Motor ab. Durch den Dunst ihres Atems beschlugen sich sofort die Scheiben.

»Wir haben noch drei Minuten«, erklärte Fynn. »Auf fünf, okay?«

Sekunden später rissen sie die Türen auf, schlugen sie hinter sich zu und rannten hinüber zum überdachten Eingang.

Als Amanda Fynn betrachtete, lachte sie aufgekratzt und sagte: »Du siehst komisch aus.« Von seinen Haarspitzen tickten Regentropfen, und durch sein weißes Hemd konnte man seine Brust erkennen.

»Wie frisch geduscht.«

»Mann, bin ich aufgeregt, Fynn. Ich schwitze, mein Puls rast. Und schau meine Finger an. Sie zittern.«

Fynn atmete tief durch. »Mir geht es genauso. Aber gleich wissen wir, was er uns zu sagen hat.«

Kurz danach saßen sie auf einem Chesterfield-Sofa, das angenehm nach Lederpolitur roch. Der frisch gewachste Holzboden glänzte. Der Blick aus dem Büro fiel durch großflächige Fenster Richtung Süden. Und hinter einem Schleier aus Regen sahen sie in der Ferne Scheinwerferlichter von Fahrzeugen und das orange Blinken einer Ampel.

Ihre Herzen rasten. Und sie rasten noch mehr, als der kahlköpfige, gut genährte Notar den Raum betrat, der sie freundlich begrüßte und sich anschließend hinter dem Schreibtisch auf seinem Lederstuhl niederließ.

»Danke, dass Sie hier sind.« Als er ihre verschüchterten Blicke sah, die ihn unwillkürlich an zwei verängstigte Küken erinnerten, setzte er fort: »Ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Nur einige kleine Formalitäten. Sie sind Amanda Fink, 19, und Fynn Stamm, 21?«

Beide nickten und legten ihre Ausweise auf den Schreibtisch. Der Notar notierte etwas auf einem Vordruck und meinte anerkennend: »So jung und schon so erfolgreich.«

Rasch schob er ihnen die Ausweise zurück und öffnete eine Schublade. »Ich habe wichtige Informationen für Sie.« Mit diesen Worten legte er ein großes braunes Kuvert auf den Tisch, das er mehrere Male behutsam mit der Hand berührte. »Franziska Weller. Vielleicht sagt Ihnen dieser Name etwas.«

Beide schüttelten die Köpfe. Amanda dachte: Vielleicht hatte Fynn irgendwo eine Tante, von der er nichts wusste, und jetzt erbt er eine tolle verfallene Villa. Sie musste schmunzeln, aber nur kurz, denn dann klärte der Notar sie auf.

»Franziska Weller ist die Witwe des Fabrikanten Paul Weller. Mit seinen Patenten hat er ein Vermögen gemacht. Das Paar hatte weder Kinder noch Geschwister und auch keine Verwandten. Frau Weller ist vor Kurzem im gesegneten Alter von 104 Jahren gestorben. Ihr Verwalter hat uns diesen Umschlag zukommen lassen. Darin befinden sich etliche Unterlagen, die Sie betreffen oder in weiterer Folge betreffen könnten. Frau Weller hat den Großteil ihrer Immobilien einem Sozialhilfeteam vermacht, das sich dafür einsetzt, die Not benachteiligter Menschen ein wenig zu lindern und den Ärmsten der Armen ein erträgliches Dasein zu ermöglichen. Und zusätzlich gibt es diese Sache. Aber vielleicht beginne ich mit dem Brief, den Frau Weller eigenhändig an Sie verfasst hat. Sind Sie bereit?«

Amanda hielt Fynns Hand. Er spürte, wie sie schwitzte und zitterte. Schüchtern nickten sie dem Notar zu, und Fynn stieß hörbar Luft aus seinen vollen Backen. Die Aufregung war kaum zu ertragen.

Der Notar begann zu lesen: »Sehr geehrte Frau Fink, sehr geehrter Herr Stamm!

Es freut mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind. Gerne hätte ich Sie persönlich begrüßt, aber leider ist das nicht mehr möglich, da ich inzwischen an einem Ort bin, an dem wir einander nicht treffen können. Ich habe Ihr Engagement, das Sie in den letzten Jahren zum Wohle der Natur gezeigt haben, mit regem Interesse verfolgt. Mit großer Freude habe ich vernommen, dass es Ihnen gelungen ist, durch eine Spendenaktion ein weitläufiges Hochmoor zu erwerben, das ohne Ihren Einsatz trockengelegt und einer intensiven Landwirtschaft zugeführt worden wäre. Sie haben mit Ihrer Energie ein Naturjuwel bewahrt, an dem auch noch Ihre Nachfahren Freude haben werden. Davon bin ich überzeugt. Mein Mann hat mir nach seinem Ableben ein großes Vermögen hinterlassen. Darunter auch eine 37.000 Hektar umfassende Naturlandschaft. In diesem Gebiet befinden sich Bäche, Flüsse, Teiche und Seen, ausgedehnte Mischwälder, Hochmoore und Trockenrasenwiesen. Ich möchte Ihnen diese Fläche gerne vermachen, wenn Sie bereit sind, einige Auflagen zu erfüllen – und ich bin überzeugt, dass Sie das gerne tun werden. Sie bestehen darin, dass im gesamten Gebiet keine Bauwerke und keine befestigte Straße errichtet werden dürfen, damit sich die Fauna und Flora bestmöglich entwickeln kann. Falls Sie das Erbe annehmen, erhalten Sie zudem finanzielle Mittel. Damit können Sie Ihre Arbeit für das Schutzgebiet bezahlen und Untersuchungen durchführen lassen, um die Entwicklungen der Pflanzen- und Tierwelt zu dokumentieren. Ich würde mich sehr geehrt fühlen, wenn Sie mein Geschenk annähmen und verbleibe in dieser Hoffnung mit herzlichen Grüßen, Ihre Franziska Weller.«

Behutsam legte der Notar das Schreiben zur Seite und blickte die beiden an. Er kannte solche Gesichter. Er hatte schon etlichen Menschen ähnliche Nachrichten überbracht, und die Reaktionen glichen einander auf verblüffende Weise. Große Augen, offene Münder und Staunen. Der Notar sah Amandas Halsschlagader. Sie bewegte sich. In ihr pulste aufgeregtes Blut, das wusste er.

»Ähm. Also, das ist jetzt …«, meinte Amanda.

»Puh«, setzte Fynn fort. »Ich bekomme gerade eine Gänsehaut.«

Amanda lächelte verlegen. »Bevor wir das Erbe annehmen … Ich meine, dürfen wir das Gebiet vorher etwas genauer ansehen?«

Der Notar lächelte. »Natürlich dürfen Sie das«, sagte er und berührte mit der Handfläche das dicke braune Kuvert. »Hier befinden sich alle Unterlagen, die Sie brauchen.«

Das Wasserkomplott

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