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2.2.7Seelsorge und Seelsorgelehre im 19. Jahrhundert
ОглавлениеDer bisher eingeschlagene Weg, einzelne Epochen der Seelsorgegeschichte durch ein sie besonders, wenn auch nicht ausschließlich charakterisierendes Seelsorgeverständnis zu kennzeichnen, kann für das 19. Jahrhundert nicht beibehalten werden. Das hat vor allem zwei Gründe, die mit der Sache selbst zusammenhängen:
•Einmal: Die Seelsorge ist im neunzehnten Jahrhundert in ihr reflexives Stadium getreten. Zum ersten Mal entsteht jetzt eine Seelsorgetheorie im eigentlichen Sinne. Erst jetzt kann und muss versucht werden, die Seelsorge als ein besonderes Handeln in ihrer Beziehung zur Gemeinde im Ganzen und deren verschiedenen Lebensäußerungen sowie in ihrem Zusammenhang mit den glaubensmäßigen „Grundsätzen der evangelischen Kirche“ (Schleiermacher) zu begreifen. Die Herausforderung zur Entwicklung einer spezifischen Seelsorgetheorie ergibt sich auch aus der jetzt veränderten geistigen und kulturellen Situation. Wenn in der nun säkular werdenden Gesellschaft die traditionalen Lebensformen nicht mehr mit Selbstverständlichkeit geübt werden, droht der kirchlichen Seelsorge ihr primäres Bezugsfeld zu entgleiten. Es ist also erst einmal ein „Orientierungsrahmen“ zu benennen, in dem Seelsorge als ausreichend begründet zu erscheinen vermag. Seelsorge wird so zum „Dauerthema theologischer Reflexion“ und „zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Disziplin“.126 Die Folge dieser Entwicklung ist, dass eine Darstellung der Seelsorge selbst mit der der Seelsorgelehre nicht mehr zusammenfällt. Die Praxis und deren wissenschaftliche Reflexion sind in ihrer literarischen Darstellung durchaus zwei verschieden Genera.127 Will man über Seelsorgepraxis im 19. Jahrhundert etwas mitteilen, dann genügt es eben nicht, nur Literatur über die Seelsorge zu referieren. Vielmehr ginge es darum dem Niederschlag seelsorglicher Praxis in den verschiedenen möglichen Formen nachzugehen: in der zeitgenössischen Literatur (etwa die Pfarrergestalten!), im Erbauungsschrifttum, in der Predigtliteratur, in Biographien und anderen Lebenszeugnissen usw. Hier tut sich eine lohnenswerte und interessante Forschungsaufgabe auf, die in Analogie bzw. Ergänzung zur Alltags- und Kulturgeschichte zu leisten wäre. Im Rahmen dieser Einführung kann sie nicht in Angriff genommen werden.
•Der zweite Grund: Der Protestantismus ist im 19. Jahrhundert durch die fortschreitende Differenzierung seiner theologischen und religiösen Positionen charakterisiert. Das wirkt sich natürlich auch auf die Theoriebildung in der Seelsorge aus und lässt es kaum zu, eine Schwerpunktbestimmung für die Seelsorge pars pro toto herauszugreifen. Jetzt bestehen nebeneinander: einerseits die vermittlungstheologische Seelsorgelehre, der es um eine „wissenschaftliche Seelenpflege“ (Nitzsch) zu tun ist, andererseits eine konservativlutherische Poimenik, die in ihrer stark sakramental ausgeprägten Form bei Löhe besonders die Beichtpraxis in den Mittelpunkt stellt, und schließlich die den Strom der Erweckungstheologie aufnehmende „charismatische“ Seelsorge mit ihrer Ausrichtung auf einen ganzheitlichen Heilungsvorgang, wie sie uns bei den beiden Blumhardts begegnet. Die Vielfalt der poimenischen Positionen ist nur schwer übersehbar. Die Seelsorge hatte im 19. Jahrhundert in der praktisch-theologischen Theoriebildung offensichtlich eine Schwerpunktbedeutung.128 Infolge der Pluralität poimenischer Konzepte ist es verführerisch, die Poimenik des 19. Jahrhunderts als eine Art Steinbruch zu benutzen, um in die jeweilige eigene Position noch ein paar wichtige Steine als Legitimationshilfe einzubauen.
Zur Charakterisierung der Seelsorgelehre im 19. Jahrhundert seien nun drei Momente exemplarisch hervorgehoben:
1. Grundlegend und wegen ihrer Klarheit besonders eindrucksvoll ist die Auffassung von der Seelsorge bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher.129 Für ihn gehört die Seelsorge in die Zuständigkeit des „Kirchendienstes“130, also der auf den Einzelnen gerichteten Tätigkeiten. Vorausgesetzt wird von Schleiermacher, dass gemäß dem evangelischen Glauben die Gemeindeglieder grundsätzlich „selbst ihr Gewissen aus dem göttlichen Wort berathen können“131. Das ist die Freiheit jedes Christen. Sie gründet in seinem unmittelbaren Verhältnis zum Wort Gottes; und dieses genüge normalerweise für seine Gewissheit und für seine Orientierung. Eine Seelsorgepflicht könne es mithin nicht geben. Wenn allerdings bei dem einzelnen Gemeindeglied ein Seelsorgebedürfnis entstehe, sei es die unbedingte Pflicht des Pfarrers, dem zu entsprechen. Die Anforderung an den Seelsorger ist für Schleiermacher ein Anzeichen dafür, dass dem Gemeindeglied das Vertrauen in die unmittelbare Führung durch Gottes Wort und damit auch seine Identität mit der Gemeinde verloren gegangen ist. Der Seelsorger habe darum „solche Anforderung … dazu zu benutzen, die geistige Freiheit des Gemeindegliedes zu erhöhen und ihm eine solche Klarheit zu geben, dass jene Anforderung nicht mehr in ihm entstehe.“132Das ist der „Kanon“ für die seelsorgliche Arbeit in der evangelischen Kirche. Für Schleiermacher ist also die Wahrung und Förderung der Freiheit des Gemeindeglieds der oberste Grundsatz der Seelsorgelehre. Seelsorge ist damit – so würden wir heute sagen – in der Tendenz immer Hilfe zur Selbsthilfe. In keiner Weise darf Seelsorge zu Abhängigkeit oder in ein geistliches Vormundschaftsverhältnis führen. Es verwundert nicht, dass Beichte und Buße gegenüber dem Gespräch bei Schleiermacher zurücktreten.133 Ein seelsorglicher Dirigismus schade dem Anliegen der Seelsorge. Beim Seelsorger wird deshalb die Fähigkeit vorausgesetzt, „unbefangen“ und bereit zu sein, „in die verschiedenen Sinnesarten einzugehen“134, also sich einzufühlen. Das ist die Bedingung, um den anderen in seiner besonderen Persönlichkeit wahrnehmen und bestärken zu können135 – was freilich nicht im individualistischen Sinne zu verstehen ist, denn die Wiedererlangung der Freiheit und des Vertrauens hat ihren Sinn darin, dass der Einzelne nun wieder in die Gemeinschaft zurückfinden kann, aus der er „herausgefallen“ war.
Eindrucksvoll an Schleiermachers Seelsorgeverständnis ist die Verknüpfung von aufklärerischem Freiheitsbewusstsein mit dem Freiheitsverständnis des Evangeliums. Im Kern argumentiert Schleiermacher als Theologe. Problematisch erscheint das von ihm bevorzugte „Defizienzmodell“136, wonach jedes Seelsorgebedürfnis als Ausdruck für einen geistlichen Mangel interpretiert wird, und daraus folgend umgekehrt erst ein entsprechender Mangel vorhanden sein müsse, um Seelsorge zu indizieren.
2. Im Anschluss an Schleiermacher entwickelt sich im neunzehnten Jahrhundert die wissenschaftliche Seelsorgelehre. Beispielhaft sei hier die 1857 erschienene Seelsorgetheorie von Carl Immanuel Nitzsch137 erwähnt. Die Seelsorge ist für Nitzsch „die amtliche Tätigkeit der Kirche, welche der Erhaltung, Vervollkommnung und Herstellung des geistlichen Lebens wegen auf das einzelne Gemeindeglied gerichtet ist“138. Um die Aufgabe auch angemessen erfüllen zu können, müsse man sich darüber im Klaren sein, dass es in der Seelsorge um ein ganz persönliches Verhältnis gehe. Es käme also auf die Beachtung der „persönlichen Zustände und Bedürfnisse“ des Gemeindegliedes ebenso an, wie auch der ganz „persönliche Eindruck des Seelsorgers“ zu Buche schlage. Die Persönlichkeit des Seelsorgers spielt mithin für Nitzsch eine ebenso wichtige Rolle wie die spezifischen Kompetenzen, die er als „diagnostische Fähigkeit“ einerseits und als „therapeutische Tüchtigkeit“ andererseits definiert. Erstere beziehe sich vor allem auf die „Menschen-Kenntniß“: „dass er sich auf das menschliche Herz und Wesen nach dem Maße unserer Beschränktheit recht gründlich verstehe“139. Letztere hat etwas zu tun mit der Vermittlung von „Heil“ und „Segen“. Diese kommen zwar wohl „vom Herrn“ selbst, aber sie fallen doch „der Arbeit und Mühe seiner Diener nach seinem Wohlgefallen zu“140.
Im Anschluss an Reinhard Schmidt-Rost lassen sich drei Aspekte für die spezifische Ausrichtung der wissenschaftlichen Poimenik, wie sie uns bei Nitzsch begegnet und zugleich über ihn hinausweist in die künftige Entwicklung, benennen:
a.Sie bezieht sich ganz auf ein Handeln am Einzelnen.
b.Sie vollzieht sich im Bewusstsein christlicher Weltverantwortung und mit einer Realitätsorientierung auf das „Machbare“.
c Sie macht auf Dauer eine professionelle Ausprägung der seelsorglichen Berufsrolle erforderlich.141
Bei Nitzsch deutet sich also ein Weg an, der zu einer einschneidenden Veränderung im pastoralen Berufsverständnis führt. Das Leitbild ist nun bald nicht mehr der Gemeindehirte im Sinne der herkömmlichen Pastoraltheologie, sondern der „Seelenarzt“142 Vor allem gehört zu dieser neuen Weise, über Seelsorge nachzudenken, eine konsequente und kritisch reflektierte Einbeziehung humanwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden. Die sich entwickelnde Seelsorgelehre kann immer weniger auf qualifizierte Übernahmen aus Anthropologie und Psychologie verzichten.
3. Die Entwicklung der Seelsorgelehre im 19. Jahrhundert wird nicht unwesentlich beeinflusst durch den immer deutlicher spürbaren Säkularisierungsprozess. In ihm lassen sich einerseits die Nachwirkungen der kulturellen Aufklärung erkennen, wie er andererseits auch im Zusammenhang mit Industrialisierung und neuer sozialer Differenzierung verstanden werden muss. Man kann geradezu von einem „Massenexodus aus der Kirche“143 sprechen, der sich zwar nicht in einer formellen Austrittsbewegung, dafür aber in einer inneren Ferne zu dem verfassten Christentum und praktischer Teilnahmeverweigerung gegenüber den kirchlichen Angeboten äußert. Carl Immanuel Nitzsch sah darum ein Erfordernis, den „seelsorgerischen Eifer“ zu verstärken, um das „Verlorene zu suchen“, und er zog daraus die Konsequenz: „…mit einem Wort, die Zeit für die innere Mission in der engeren Bedeutung ist für einen gewissen Kreis des kirchlichen, christlichen Lebens angebrochen“144. So kommt dann das seelsorgliche Handeln wieder sehr nah an die Wahrnehmung des missionarischen Auftrags heran.145 Was sich bei Nitzsch hier andeutet, das liegt ganz auf der Linie des durch Johann Hinrich Wichern 1848 auf dem Wittenberger Kirchentag ins Leben gerufenen Werkes der Inneren Mission. Später hat Wichern gerade den seelsorglichen Aspekt des diakonischen Handelns sehr eindrücklich formuliert: „Kommen die Leute nicht in die Kirche, so muss die Kirche zu den Leuten kommen … Wir müssen Straßenprediger haben, vornehmlich in den großen Städten. Die Straßen müssen Kanzeln werden, und das Evangelium muss wieder zum Volk dringen.“ Nun wird deutlich: Die Seelsorge hat nur dann eine Chance, wenn die Kirche sich auf die Menschen zu bewegt und wenn sie zugleich aufmerksam wird für die ökonomische und soziale Not auf den Straßen und in den Häusern. Der Dresdner Pfarrer Emil Sulze hat diese Herausforderung unter den Bedingungen einer immer anonymer werdenden Großstadtparochie erkannt und angenommen. Er versuchte mit seinem gegliederten Gemeindestrukturmodell146 die organisatorische Grundlage für eine gemeindliche Seelsorgearbeit zu schaffen, die die Menschen nicht nur mit Reden und Ritualen abspeiste. Seelsorge ist für Sulze Präsenz am Ort und Zusammenführung geistlicher, sozialer und pädagogischer Kompetenz. Um die immensen Aufgaben der Seelsorge in der Großgemeinde zu bewältigen, genüge es freilich nicht, allein auf die Kapazität der bestallten Pfarrer zurückzugreifen. Für Sulze geht es darum, das allgemeine Priestertum aller Gläubigen in Kraft zu setzen: „Die besten Christen, nicht die besten Theologen oder Redner, sind von Gott selbst dazu befähigt und verpflichtet, das Leben der Seelen, das Leben der ganzen Gemeinde zu gestalten … Die größte äußerliche und innerliche Not, die dem Auge sich darbietet, fordert dringend Abhilfe und nimmt immer mehr Zeit und Kraft in Anspruch.“147
Auch wenn Sulze mit seinem Gemeindeprogramm praktisch gescheitert war148, so sind hier doch Fragen gestellt, die zumindest als Impulse in die Seelsorgelehre des nächsten Jahrhunderts hinüberweisen.
Eine hohe Aufmerksamkeit auf die äußeren Nöte der Menschen findet sich auch in Seelsorgetheorien und -konzepten von einigen Theologen des Liberalismus. Otto Baumgarten (1858–1934), dessen Tätigkeit schon weit in das 20. Jahrhundert hineinreicht, betont, die seelsorgliche Tätigkeit dürfe nicht zu einer Predigt zum „Sichschicken in die Zeit“ führen; dadurch würde der Pfarrer unweigerlich zum „Kapitalistenpastor in den Augen der Notleidenden“. Vielmehr müsse sich die seelsorgliche mit der sozialen Aufgabe verbinden, die Massennöte seien realistisch wahrzunehmen und die Seelsorger sollten Verständnis suchen für das Treiben auf dem „Markt des Lebens“.149
Die Hinwendung zur wirklichen, zur „modernen“ Welt – das ist es, was liberale Theologie, bei durchaus unterschiedlichen sozialpolitischen Optionen und kulturellen Interessen, auszeichnet. Sie war letztlich dann auch der Boden, auf dem sich eine Seelsorgetheorie entwickelte, in der neue Erkenntnisse einer Psychologie der menschlichen Persönlichkeit konzeptuell aufgenommen werden konnten.