Читать книгу Familienurlaub könnte so schön sein, wenn bloß Mutter nicht mit dabei wäre… Band 1 - Jörn Kolder - Страница 7
Abends zu Hause
ОглавлениеDer Amtsleiter hatte ihn noch ein bisschen in die Mangel genommen, aber Frieder Bergmann konnte die Verdächtigungen ausräumen indem er den Besuch in der Werkstatt anführte, in der angegebenen Zeit wäre es unmöglich gewesen, nach Burgstädt zu gelangen.
„Was ist den übrigens mit Ihren Händen passiert“ fragte der Vorgesetzte abschließend.
„Die Werkstatt hatte die Motorhaube nicht richtig verriegelt, das musste ich dann selbst erledigen. Sie können sich nicht vorstellen, was dabei alles passieren kann.“
„Wem sagen Sie das“ antwortete der Amtsleiter verständnisvoll „die haben bei mir mal statt Scheibenwasser Bremsflüssigkeit eingefüllt und in den Behälter für die Bremsflüssigkeit einfach stinknormales Wasser reingeschüttet. Aber die habe ich so rund gemacht, davon haben die sich bis heute bestimmt nicht erholt, das wird denen garantiert nie wieder passieren.“
Frieder Bergmann war sich da nicht so sicher.
Als er nach Hause kam stand der Toyota frisch gewaschen vor der Tür, hoffnungsvoll öffnete er den Briefkasten und neben der üblichen Werbung war wieder ein Brief dabei. Beschwingt eilte er die Treppen nach oben und traf seinen Sohn Rüdiger im Flur.
„Erzähle“ sagte er knapp.
„Ich habe die mit juristischen Begriffen, die ich irgendwo mal aufgeschnappt habe, und Paragraphen so voll getextet und mit Schadensersatzforderungen gedroht, dass denen Hören und Sagen vergangen ist. Die erstatten dir den gesamten Rechnungsbetrag zurück und der nächste Werkstattbesuch ist gratis.“
„Klasse“ lobte Frieder Bergmann seinen Sohn „wenn das Geld da ist kriegst du‘ n Fuffi von mir. Und geht jetzt noch mal in den NETTO und hol Pulle Sekt und bring’ gleich noch drei, vier Biere mit. Ich will mit Mama heute Abend anstoßen. Und geh’ bitte noch an den Wurststand und kaufe mal was Gutes.“
Bergmann schlüpfte in seine Freizeitkluft und nahm am Küchentisch Platz, dann öffnete er sofort den Brief des Finanzamtes (er war schließlich an ihn adressiert, obwohl er sich in dieser Angelegenheit – der Aufstellung der Steuererklärung - vollkommen heraus hielt und das seiner Frau überließ).
„ .. erstatten wir Ihnen 976,18 Euro auf das von Ihnen angegebene Konto Nummer“ las er freudig, und wegen dieser guten Nachrichten konnte er sich eigentlich ein Bier genehmigen.
Er ging davon aus, dass zwei Bier am Abend noch leberverträglich waren, gut, gestern hatte er aus Frust über die Ereignisse diese Latte gerissen aber der heutige Tag schien das wieder auszugleichen. Warte ich noch auf Petra oder mache ich schon ein Bier auf fragte er sich unentschlossen. Ist doch wurscht, ob ich jetzt oder in einer Stunde eins trinke spielt doch keine Rolle. Mit diesem Gedanken steuerte er den Kühlschrank an, nahm eine gut temperierte Flasche heraus und goss sie in sein Lieblingsglas ein. Dieses Glas bedeutete ihm viel, er hatte es zu seiner eigenen Hochzeitsfeier, bereits ziemlich angetrunken, aus der Gaststätte mitgehen lassen, es erinnerte ihn immer wieder an diesen Tag.
21 Jahre war er jetzt mit Petra verheiratet und immer noch glücklich, mit dieser Frau zusammen zu sein. Sie stellte den absoluten Gegenpart zu ihm dar. Obwohl, oder gerade deswegen, weil sie so unterschiedlich waren, hatte ihre Ehe immer harmonisch funktioniert, zwar auch die üblichen Tiefpunkte gehabt, aber nie war es etwas Ernstes gewesen und mit der Zeit hatte sich die anfangs flammende Leidenschaft zu einem tiefen und echten Gefühl des Vertrauens und einander Brauchens gewandelt, ohne dass ihre sexuellen Wünsche eingeschlafen waren. Petra erfüllte sie ihm gern, denn Frieder Bergmann wirkte zwar manchmal wie ein knochentrockener Buchhalter, er war allerdings ein begabter und phantasievoller Liebhaber und so kam auch sie auf ihre Kosten. Wer die schlanke und zierliche Frau sah konnte nicht vermuten, dass sie einer recht deftigen Berufstätigkeit nachging, sie war Unfallchirurgin. Oberärztin Dr. Petra Bergmann war der Umgang mit schockierenden Situationen somit nicht fremd, Frieder fiel um, wenn er einen Tropfen Blut sah. Auch sonst waren sie sehr unterschiedlich gepolt, der Behördenangestellte legte Wert auf Planung und Ordnung, seine Frau musste notgedrungen oft schnell aus der Situation heraus handeln und war damit erheblich flexibler. Vor allem behielt sie die Nerven, wenn etwas nicht wie geplant über die Bühne ging, Frieder Bergmann war schon verunsichert, wenn sein Plan nicht bis ins Detail funktionierte. Petra war schlau genug darüber hinweg zu sehen, und ohne dass es ihrem Mann sauer aufstieß nordete sie ihn immer wieder ein, gab ihm aber nie das Gefühl, die Lage nicht zu beherrschen.
Rüdiger kam mit dem Sekt, dem Bier und der Wurst zurück, dann verzog er sich in sein Zimmer um sich weiter durch Horden von Monstern zu schnetzeln, in Claudias Zimmer herrschte Stille. Es war jetzt 18 Uhr 30, Frieder ging daran, den Tisch zu decken. Sparsam nippte er an dem Bier, die Erinnerung an den gestrigen Abend flammte wieder wie ein Warnscheinwerfer auf. Gut gelaunt platzierte er alles auf dem Tisch, dann ging er auf den Balkon, um genießerisch eine Zigarette zu rauchen. Als er wieder hineinkam hörte er den Schlüssel in der Tür knirschen, Petra kam nach Hause. Er ging ihr entgegen, küsste sie und lief in die Küche zurück, ploppend sprang der Korken aus der Sektflasche und er goss zwei Gläser vor. Seine Frau wusste, dass er ihr sofort erklären würde welche Gründe es dafür gab, und sagte erst einmal gar nichts.
„Das Auto ist wieder in Ordnung, den Rechnungsbetrag bekommen wir zurück, das Finanzamt zahlt uns fast einen Tausender zurück“ erklärte er die Worte heraussprudelnd.
„Das ist ja toll“ antwortete Petra erfreut „eine recht willkommene Finanzspritze vor dem Urlaub.“
Frieder Bergmann zuckte zusammen, jetzt musste noch das unangenehme Thema auf den Tisch: der Brief seiner Mutter.
„Ich hol’ mal die Kinder“ sagte er, erstens um Zeit zu gewinnen und zweitens um noch Argumente zusammen zu kratzen, wie die Sache funktionieren könnte.
Es gab eine Sitzordnung bei Bergmanns. An der einen Längsseite des Tisches saßen Frieder und Petra nebeneinander, ihnen gegenüber Rüdiger und Claudia. Rüdiger überragte seinen Vater deutlich, der junge Mann maß knapp 1 Meter 90 und mit seiner bulligen Gestalt unterschied er sich deutlich von seinem Erzeuger, der eher mickrig daherkam. Claudia dagegen hatte die zarte Gestalt ihrer Mutter geerbt, die regelmäßigen Gesichtszüge stammten aber mehr von Frieder, die volle Haarpracht jedoch garantiert nicht von ihm, denn sein Haar war schon schütter geworden und erste graue Strähnen zogen sich hier und da hindurch. Die Eltern verstanden das gemeinsame Abendbrot auch als Kommunikationsmöglichkeit, um über alles Mögliche, und die Familie betreffende, zu reden. Während Frieder mehr im Hintergrund blieb, schwang sich der selbstbewusste Rüdiger öfter zum Wortführer auf, den seine Mutter ab und an bremsen musste. Claudia indes schwieg die ganze Zeit beharrlich: sie war Autistin.
Niemals wären Frieder und Petra Bergmann auf den Gedanken gekommen, ihre Tochter als behindert anzusehen. Ohne jegliche körperliche Einschränkung konnte Claudia alle Tätigkeiten verrichten die auch ein anderer Mensch vollbringen konnte. Die hübsche, sechzehnjährige junge Frau war durchaus eine Augenweide und zog die Blicke der jungen Männer an, denn ihr schlanker Körper war an den entscheidenden Stellen fraulich gerundet. Dass sie sich nicht oder nur spärlich an der Kommunikation beteiligte war für ihre Eltern und den Bruder zu einer Selbstverständlichkeit geworden, wenn sie sich lieber in ihr Zimmer zurückzog, ebenfalls. Nur manchmal, wenn sie ein Thema offensichtlich emotional berührte schaltete sich das Mädchen mit knappen Sätzen in die Diskussion ein, um bald wieder zu verstummen. Ihre Sprachfähigkeit war vollständig ausgeprägt, bloß lebte sie in ihrem eigenen Kosmos, der Gedankenaustausch nicht zur Pflicht machte. Petra Bergmann mit dem Verständnis einer Ärztin hatte einen anderen Zugang zu ihren Eigenarten und wusste, dass das Mädchen gute Chancen besaß sich in die moderne, hektische und von sozialen Verhaltensmustern geprägte Gesellschaft zu integrieren. Claudia besuchte eine reguläre Schule und verhielt sich dort unauffällig. Zu ihrer Jugendweihe vor einem Jahr erbat sie einen Laptop und diverse Software und verbrachte den größten Teil ihrer Zeit davor, genau wie ihr Bruder vor seinem PC. Während Rüdiger das Gerät mehr als Spaßmaschine verstand, auf der er überwiegend Spiel zockte, wurde der Rechner für Claudia zu einem stummen Partner, mit dem sie über selbst geschriebene Programme auf ihre eigene Art Unterhaltungen führte.
In der Schule erledigte sie die Aufgaben im Fach Technik und Computer wie nebenbei, total unterfordert und den anderen um Lichtjahre voraus beschäftigte sie sich dann gedanklich mit anderen Programmierarbeiten, und das besondere war, dass sie die Codezeilen wie einen endlosen Film in ihrem Kopf abspeichern konnte. Einmal war sie auf die Idee gekommen ein Passbild ihres Bruders als Vorlage zu scannen und dieses digital weiter zu bearbeiten, dann hackte sie sich in seinen Computer und stellte fest, dass er gerade Doom 3 spielte, einen Klassiker der Ego Shooter. Auf ihrem Monitor konnte sie mitverfolgen, dass Rüdiger die in Scharen anstürmenden und grässliche Fratzen zeigenden Pixelmonster gekonnt mit der Schrotflinte in den virtuellen Himmel schickte. Sie schleuste sich in den Programmcode ein und änderte in einigen Befehlszeilen bestimmte Parameter, welche beim nächsten Programmstart wirksam werden würden. Als Rüdiger den Rechner am nächsten Nachmittag wieder in Betrieb nahm sprangen ihm plötzlich grauenvolle Gestalten entgegen, die allesamt seine Gesichtszüge trugen, vor Entsetzen schrie er auf. Claudia lächelte still vor sich hin, machte ihre Änderungen rückgängig und harrte der Dinge.
„Ähm, es gibt noch eine Sache zu bereden“ sagte Frieder Bergmann vorsichtig „Oma will mit uns in den Urlaub fahren.“
Rüdiger fiel der Löffel aus der Hand, Claudia kicherte und Petra schaute bedrückt zum Fenster hinaus.