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Frederikshavn

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Ole hatte den Wagen in der Einfahrt geparkt und blieb darin sitzen, bis er gebraucht würde. Er hörte ein Hörspiel, Sherlock Holmes, ausgerechnet. Helle stand vor dem Haus und rauchte. Sie hatte noch das Päckchen Gauloises und dachte an Bengt. Und Emil. Und dass sie um so vieles lieber mit ihren Männern in den durchgesessenen Polstern ihres alten Volvos durch die Schweiz oder Österreich juckeln würde, anstatt in dieses Haus zu gehen.

In das Trauerhaus.

Das Totenhaus.

Das Haus, in dem Inez und Fredrick Brabant saßen wie in einem gläsernen Sarg.

Aus dem modernen Holz-Glas-Kubus drang warmes Licht nach außen und gaukelte die Idylle eines gemütlichen Heims vor. Doch das würde es auf lange Jahre nicht mehr sein bei der Familie Brabant. Es würde keine gemütlichen und unbeschwerten Abende geben.

Wie macht man das, fragte sich Helle, mit dieser monströsen Trauer, die den Raum bis in die letzten Ritzen ausfüllte, mit einem Verlust, der Körper und Geist lähmte, umzugehen? Als Paar. Was tat man? Konnte man sich an den Händen fassen, sich Trost geben, aneinander Halt finden?

Oder war man in all dem Horror zuletzt nicht einfach nur allein.

Die Brabants hatten Helle eingelassen und nun saßen sie versprengt auf der teuren Sitzgruppe in dem übergroßen Wohnbereich, Fredrick und seine Frau Inez in größtmöglichem Abstand. Helle versank dazwischen in den tiefen Roche-Bobois-Sitzelementen, deren Knuddeligkeit und leuchtende Farbgebung ein allzu grelles Licht auf die dunkle Trauer der beiden Menschen, die hier nun weiterleben mussten, warf. Auf dem Sofatisch wartete eine Flasche Rotwein darauf, geöffnet zu werden, aber niemand machte Anstalten. Helle hatte um ein Glas Wasser gebeten.

Merles Eltern mussten beide viel geweint haben, Fredrick, ein hochgewachsener, sportlicher Mann mit markanten Gesichtszügen und nun grauem Haar, hatte ebenso wie seine spanischstämmige Frau Inez – klein, dunkel, drahtig, nicht minder attraktiv – rot geschwollene Augen. Merle war die einzige Tochter des Paares gewesen.

Nachdem Helle beide kurz in den Arm genommen und ihr Beileid ausgedrückt hatte, schwiegen sie zusammen. Helle fühlte sich, als wäre sie niemals zuvor in diesem Haus gewesen, als wäre sie fremd. Sie fühlte sich von den beiden Menschen, zwischen denen sie saß, distanziert. Als hätte es niemals die Kindergeburtstage gegeben, die Grillfeste, gemeinsame Ausflüge, die mit einem Lagerfeuer im Garten, Stockbrot und Gesängen, bis sie heiser waren, geendet hatten. Es war, als hätte Merles Tod durch eine Leere, die man greifen konnte, all das abgeschnitten.

»Ich kann euch im Moment kaum etwas Neues sagen«, begann Helle. »Eure Aussagen habe ich gelesen. Ich wollte kommen und bei euch sein.«

Fredrick nickte, Inez fasste hinüber zu Helle und drückte einmal kurz ihre Hand, als wäre ihr Gast diejenige, die getröstet werden musste.

Helle guckte zu Boden. Die Tatsache, dass Merle an einer Tankstelle in Aalborg in ein fremdes Auto gestiegen war, wollte sie noch für sich behalten. Sie war ganz sicher, dass die Eltern davon nichts wussten, die beiden hatten ausgesagt, dass Merle mit dem Zug fahren wollte. Und solange Helle und ihre Kollegen über den jungen Mann und das Mädchen, die mit dem Pick-up an der Tankstelle waren, nicht mehr in Erfahrung gebracht hatten, wollte sie Merles Eltern nicht noch weiter erschüttern. Etwas an dem jungen Pärchen, das Merle mitgenommen hatte, war seltsam. Der Tankstellenbesitzer, der sich als gewissenhafter Zeuge herausstellte, hatte ausgesagt, dass die junge Frau sich auffällig benommen habe, als sie zahlen wollte. Als hätte sie nicht gewusst, was zu tun sei, der Mann mutmaßte, dass sie unter Drogen stand, weil sie vollkommen neben der Spur wirkte. Auf den Bändern der Überwachungskameras an der Tankstelle konnte man außerdem erkennen, dass der junge Mann, der getankt und am Auto stehen geblieben war, sich bemühte, sein Gesicht unter der Kapuze seines Sweaters zu verbergen.

Etwas war mit den beiden also ganz und gar nicht in Ordnung. Aber auch wenn es im Moment so aussah, als hätte Merle ihr Unglück mit dem Einsteigen in den Pick-up besiegelt – noch besaß Helle keinerlei weiterführenden Erkenntnisse. Sie hätte es nicht richtig gefunden, Inez und Fredrick mit verwirrenden Informationen falsche Bilder in den Kopf zu setzen. Sie wollte abwarten.

»Ich habe Merle seit der Abi-Feier letztes Jahr kaum gesehen«, setzte sie an. »Was hat sie gemacht? Ist sie gereist? Wollte sie studieren?«

Das Ehepaar sah sich an. Inez antwortete als Erste. »Ihre Arbeit für Fridays for future hat sie völlig in Beschlag genommen«, sagte sie. »Eigentlich hatte Merle vor herumzureisen. Aber dann kam fliegen ja nicht mehr infrage. Darüber hat sie sich mit Mette und Colleen gestritten. Sie wollten zusammen nach Australien.«

Helle nickte. »Ich weiß. Das hat mir Leif erzählt. Der ist ja auch nicht gerade klimafreundlich in Thailand und so unterwegs gewesen.«

»Sie war ein bisschen besessen«, presste Fredrick nun hervor und knetete seine Hände. »Wir mussten uns zu Hause ziemlich umstellen.«

Inez schluchzte. »Jetzt tut es mir so leid«, brachte sie unter Tränen hervor. »Wir sind am Freitagmorgen, bevor sie fuhr, noch aneinandergeraten.«

Ihr Mann stöhnte und verbarg sein Gesicht in den Händen.

»Wollt ihr mir erzählen, weshalb?«, tastete sich Helle behutsam vorwärts.

»Nichts wirklich Dramatisches«, Fredrick hob das Gesicht und blickte Helle aus glasigen Augen an. »Es war eher immer das gleiche Lied. Ganz egal, ob es das Frühstücksei war oder eine Ledertasche oder …«

»… dein Job«, warf Inez ein.

Helle sah zwischen beiden hin und her.

»Habt ihr Auseinandersetzungen deswegen gehabt?« Sie wusste, dass Fredrick ein hohes Tier bei DanEnergi, einem der größten dänischen Energieversorger, war – ausgerechnet der einzige Betreiber der letzten Kohlestromwerke.

»Wir hatten Diskussionen«, nickte Fredrick. »Ich kann sie ja verstehen. Wir gehen seit einigen Jahren sehr erfolgreich den Weg der regenerativen Energien. Aber es war ihr nicht schnell genug, zu wenig konsequent.«

»Merle war ungeduldig«, bestätigte Inez. »Manchmal naiv und sehr radikal. Sie hat Forderungen gestellt, die …«

»… so schnell einfach nicht umzusetzen sind.« Fredrick stöhnte. »Eigentlich war das phantastisch! Ohne diese Kraft würde sich gar nichts bewegen! Ich …« Er breitete die Arme aus und zuckte hilflos mit den Schultern. Sein Gesicht verzog sich und er begann zu weinen wie ein kleiner Junge.

Helle beschloss, an dieser Stelle nicht nachzubohren. Sie wusste ohnehin, dass dieses Thema sie bei der Aufklärung des Todes nicht weiterbringen würde. Die Auseinandersetzung mit den Kindern, das kannte sie selbst so gut. Ihre Tochter Sina ernährte sich seit Jahren vegan und geriet immer wieder mit Bengt aneinander, der gemäßigten Fleischkonsum propagierte. Ihr Sohn Leif liebte Männer, und durch ihn hatte Helle, die sich immer als aufgeklärt und liberal empfunden hatte, erst gelernt, was es hieß, wenn Menschen sich diskriminiert fühlten. Manchmal waren es kleine unbedachte Bemerkungen ihrerseits, die Leif verletzten. Sie konnte sich also sehr gut vorstellen, wie es in einem Haushalt herging, in dem die Tochter sich gegen Klimawandel engagierte und der Vater Manager in einem Energieunternehmen war. Sie wechselte deshalb das Thema.

»Im Protokoll habe ich gelesen, dass Merle vielleicht gar nicht nach Hause fahren wollte, sondern zu einer Party?«

»Inez«, Fredrick wies mit dem Kinn auf seine Frau, »hat etwas von einer Party gesagt. Sie war sich nicht sicher. Habt ihr etwas …?«

»Ole hat mit den meisten Freunden gesprochen«, antwortete Helle. »Aber keiner wusste etwas von einer Party. Das heißt natürlich nicht, dass es keine gegeben hat. Aber vielleicht mit anderen Leuten, wir sind da dran.«

»Die Stelle, wo man sie gefunden hat …«, tastete sich Inez vor.

Helle nickte. »Ja, natürlich. Im Sommer ist da immer eine Menge los, nachts. Und manchmal feiern da auch Leute in der kalten Jahreszeit. Allerdings haben wir in näherer Umgebung keine Spuren von einem Fest gefunden. Flaschen, Feuerreste. Selbstverständlich suchen wir noch weiter.«

»Ich weiß, das klingt naiv«, sagte Fredrick. »Aber Merle hat nicht viel Alkohol vertragen. Sie hat deshalb kaum getrunken. Also, diese 1,7 Promille … ich kann es mir nicht erklären.«

»Das sagen wahrscheinlich alle Eltern von ihren Kindern.« Inez sah Helle an.

»Ich weiß noch, als Leif zum ersten Mal vollkommen betrunken nach Hause kam«, erzählte Helle. »Er war vierzehn. Mein kleiner Junge. Und dann musste ich ihn vom Schulfest abholen, er hat gestunken wie eine Flasche Schnaps und die ganze Nacht über der Kloschüssel gehangen. Ich wollte es nicht glauben. Er war doch noch so klein.«

Inez versuchte ein zerbrechliches Lächeln. Es gelang ihr nicht. »Wie geht es ihm? Merle hat erzählt, er ist in Aalborg?«

Helle nickte. »Ja. Er macht eine Ausbildung. Veranstaltungstechnik. Also, ich höre nicht so oft von ihm.«

»Sie hat Gras geraucht«, ließ sich Fredrick vernehmen und räusperte sich. »Sie meinte, das sei nicht so schlimm wie Alkohol. Na ja, ich war alles andere als begeistert.«

»Verstehe. Ja, also, wir werden sehen …« Helle starrte auf ihr Wasserglas und wusste nicht weiter.

Verdammte Sprachlosigkeit.

»Sucht ihr nach ihren Sachen?«

Helle blickte betreten zu Boden. »Ja, natürlich.« Sie wollte den beiden nicht sagen, dass sie kaum Leute zur Verfügung hatte. Einen richtigen Suchtrupp konnte sie nicht zusammenstellen, jedenfalls nicht, solange die Beweislage für ein Gewaltverbrechen so dünn war. Ayuna hatte die Suche heute nach Einbruch der Dunkelheit vorerst eingestellt. Wie sie morgen weitermachen wollten, stand noch zur Diskussion.

»Ich würde mir jetzt gerne ihr Zimmer ansehen.«

Inez nickte und stand auf.

»Ich hole meinen Kollegen dazu, wenn das okay ist?«, fragte Helle mehr rhetorisch. Sie waren verpflichtet, Durchsuchungen immer zu zweit vorzunehmen.

»Natürlich.«

Merles Zimmer lag im ersten Stock des Hauses, eine Kerze stand im Fenster. Inez führte Helle und Ole hin, aber einige Schritte vor dem Zimmer blieb sie stehen.

»Helle, ich …« Die Stimme versagte ihr und dann die Beine. Inez glitt einfach zu Boden und blieb, den Rücken an der Wand, sitzen.

»Schon gut«, sagte Helle und hockte sich daneben. »Wir gehen allein.« Etwas lauter rief sie nach Fredrick, der sofort die Treppe hochkam. Ohne ein Wort zu sagen, fasste er seiner Frau unter die Arme, zog sie sanft hoch und half ihr die Treppe wieder hinunter.

Ole hatte Helle stumm angesehen, eine Situation wie diese mussten sie in Skagen nicht alle Tage bewältigen, zum Glück.

Sie streiften sich die Einmalhandschuhe über, machten Licht im Zimmer und sahen sich um.

Bevor sie irgendetwas mit der Hand anfasste, versuchte Helle, sich den Eindruck, den das Zimmer auf sie machte, genau zu merken. Es war ein schönes Zimmer. Unaufgeräumt, aber freundlich. Viele Pflanzen, Sukkulenten und Kakteen, Lichterketten, an die Wand gepinnte Konzertkarten, Fotos – immer eine lachende Merle, mal mit, mal ohne Freunde – und überall Statements. Zum Thema Klimakrise, Tierwohl und Fleischkonsum, aber auch LGBTQ oder #MeToo. Nichts Auffälliges. Nichts, was Helle nicht aus den Zimmern ihrer eigenen Kinder kannte. Es war das Zimmer einer jungen Frau, die sich für bestimmte Themen interessierte, aber auch ein reges Sozialleben führte, die es gerne gemütlich hatte und Pflanzen liebte. Auf den ersten Blick offenbarten sich keine Abgründe. Helle begann mit der Durchsuchung.

Eine halbe Stunde später waren sie fertig. Und hatten nichts gefunden, was sie stutzig gemacht hätte, das aus dem Rahmen fiel oder gar darauf hindeutete, dass Merle sich das Leben nehmen wollte. Es gab keine Tagebücher und keine Fotokisten, stattdessen nahmen sie den Laptop mit, vielleicht würden die Techniker in den sozialen Foren etwas finden.

Sie verabschiedeten sich von Inez und Fredrick, und als die Haustür hinter ihnen ins Schloss fiel, holte Helle erst einmal tief Luft.

»Du, hör mal«, sagte Ole, während er Helle durch die Dunkelheit nach Hause fuhr. »Warum hat sie das Board eigentlich jetzt abgeholt?«

Helle sah zu ihm hinüber.

»Ich meine, es ist Oktober«, fuhr er fort. »Da geht man nicht wellenreiten. Sie war mit Freunden auf der Demo und die Freunde sind nach Frederikshavn zurückgefahren.« Er schüttelte den Kopf.

»Und anstatt mitzufahren, geht sie alleine zu ihrem Bruder, holt ein Board, das sie gar nicht brauchen kann und nimmt in Kauf, dass sie alleine nach Frederikshavn fahren muss – meinst du das?«

»Ja.« Ole nickte. »Was sie dann aber gar nicht tut. Sie trampt. Findest du nicht, das sieht aus, als hätte sie einen Plan gehabt?«

Helle schwieg. Sie sah zum Fenster hinaus. Schwarze Nacht. Dann und wann ein einzelnes Licht. Wollte man da draußen jetzt alleine unterwegs sein?

»Ich weiß es nicht, Ole«, antwortete sie schließlich. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Das Haus der Jespers lag kalt und dunkel da. Helle ging einmal rundherum, um zu sehen, ob jemand versucht hatte, während ihres Urlaubs einzubrechen, aber es gab keinerlei Spuren im Sand.

Helle sperrte auf und sog den vertrauten Geruch ein. Das Haus roch nach Jespers. Vor allem nach Emil Jespers. Und nach kaltem Kamin. Helle fröstelte. Sie musste Leben in die Bude bringen, und zwar schnell, sonst würde sie in ihrer traurigen Stimmung untergehen.

Eine halbe Stunde später prasselte das Feuer im Kamin und wärmte den großen Raum mit den tiefen Sofas ordentlich auf. Helle hatte knallheiß geduscht, bis ihre Haut wie Krebsfleisch aussah, sich in den Einteiler aus Frottee gekuschelt, den ihre Kinder ihr vergangene Weihnachten geschenkt hatten, die obligatorischen zwei Paar Wollsocken übergestreift, eine Flasche Wein geöffnet und telefonierte mit Bengt, während auf dem Herd ein Topf mit Rehgulasch köchelte, das Helle aus der gut bestückten Tiefkühltruhe geholt hatte.

»Wo seid ihr?«

»Am Bodensee. In Lindau.«

»Wie geht es ihm?«

»Emil, wie geht es dir? Sag mal hallo zum Frauchen.«

»Emil, mein Süßer! Kannst du mich hören? Emil? Dein Frauchen ist hier!«

»…«

»Er schläft.«

Helle traten die Tränen in die Augen. »Es ist Mist ohne euch.«

»Wir beeilen uns. Es ist nur …«

»Was?«

»Er hält es nicht so gut aus, lange im Auto. Er hechelt viel und ich muss ständig Pausen machen. Ich glaube, es dauert noch.«

Helle nickte stumm. Sie hatte einen Kloß im Hals und versuchte, ihn mit Rotwein hinunterzuspülen.

»Ich war bei Inez und Fredrick.«

Bengt schnaufte. »Ich muss wohl nicht fragen, wie es ihnen geht.«

»Beschissen. Bengt?«

»Mmh.«

»Das ist wirklich das Schlimmste. Das Allerallerschlimmste. Man sagt das immer so, hoffentlich passiert den Kindern nichts. Aber heute, bei den beiden, in dem Haus, Merles Zimmer …« Helle konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

»Ich weiß. Ich komme, so schnell es geht. Okay?«

»Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich. Godnat.«

Helle starrte noch ein bisschen ins Kaminfeuer, trank das erste Glas zu schnell aus und verbrannte sich am Gulasch den Gaumen. Ihr war elend zumute, sie beschloss, im Wohnzimmer zu übernachten, damit sie nicht allein im Doppelbett lag und die große Leere neben sich spürte.

Das Handy klingelte erneut. Sie sah an der Nummer, dass es Linn war, die Bereitschaftsdienst hatte.

»Ja, Linn?«

»Tut mir leid, dass ich dich so spät störe.«

»Hör mal! Wir sind in einer Ermittlung.«

»Ich habe gerade den Anruf von einem Mann bekommen, aus Napstjært. Er hat etwas gefunden. Eine Tasche. Es könnten Merles Sachen sein.«

»Wo? Ich komme hin.«

»Nicht nötig. Ich habe eine Streife geschickt. Die Tasche läuft uns nicht weg.«

»Ja, aber …«

»Helle!« Linns Stimme war streng. »Du bist heute Morgen aus dem Urlaub gekommen. Du hast den ganzen Tag geackert. Und du bist ziemlich neben der Spur, weil du die Familie kennst. Also nein, wirklich. Bleib. Wo. Du. Bist.«

Linn hatte ja recht. Trotzdem ging es Helle gegen den Strich. Sie hatte das Gefühl, alles tun zu müssen, um herauszufinden, was mit Merle geschehen war.

»Die Kollegen sichern den Fundort und bleiben dort. Morgen früh ist die Spurensicherung bestellt. Dann kannst du dazukommen. Ole holt dich um sieben ab, ist alles schon ausgemacht.«

»Was ist es für ein Ort?«

»Ein Unterstand. In den Dünen, nahe Multebaervej. So eine offene Holzhütte, du weißt schon, wo die Wanderer sich bei Regen unterstellen.«

»Also keine Party?«

»Sieht nicht so aus. Eine fast leere Flasche Wodka. Ein paar Kippen. Eine Tasche mit Klamotten. Sieht eher nach einer einzelnen Person aus.«

»Vielleicht waren sie zu zweit? Oder zu dritt? Dieses Pärchen von der Tankstelle«, spekulierte Helle.

»Darüber wollte ich auch noch mit dir sprechen.« Linn schien zu zögern. »Das ist etwas seltsam.«

»Ja?«

»Das Kennzeichen ist ja nicht vollständig zu erkennen, aber ich bin heute alle möglichen Kombinationen durchgegangen, zusammen mit dem Wagentyp.«

»Und?«

»Es existiert nicht. Es existiert in ganz Dänemark kein zugelassener Pick-up, der ein Kennzeichen hat, das auch nur annähernd zutreffen könnte.«

Helle stellte ihr Rotweinglas so abrupt auf den Sofatisch, dass der Wein herausschwappte.

»Das heißt, es ist ein gefälschtes Kennzeichen?«

»Also, ein paar der möglichen Kombinationen hat es mal gegeben. Autos, die längst abgemeldet sind. Aber keines der Kennzeichen gehörte zu einem Pick-up.«

»Und passende Wagen mit anderen Kennzeichen?«

»Das gehen wir an. Natürlich sprechen wir mit allen Haltern, allerdings warte ich noch auf konkretere Angaben von unseren Spezialisten, welche Baureihe das ist, damit wir die Suche ein bisschen eingrenzen können.«

»Danke, Linn. Ich spreche morgen mit Ayuna darüber.«

In dieser Nacht fiel Helle erst weit nach Mitternacht in einen unruhigen Schlaf. In ihrem Kopf drehten sich alle Bilder und Informationen. Das seltsame Pärchen im Pick-up, Merle, die sich nachts in Napstjært herumtrieb und betrank, ihr fröhliches Mädchenzimmer und das Rätsel um ihr Surfbrett – nichts an der Sache wollte zusammenpassen.

Helle und der falsche Prophet

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